Nathan im Regen

Die heutige Geschichte ist sehr abstrus. Aber ich mag sie.

Der Regen war angesagt worden, doch hatte Nathan vergessen, sich zu rasieren. Nun stand er an einer Kreuzung, wartete auf das grüne Leuchten der Fußgängerampel und ärgerte sich. Er haßte das Gefühl plätschernder Tropfen auf unrasierter Haut.

Nathan starrte in den Himmel. ‚Wieviele Tropfen fallen wohl pro Sekunde von oben herab?‘, fragte er sich, während Nässe in sein Gesicht klatschte. ‚Vierundreißigtausend.‘, antwortete eine Stimme. „Würde ich schätzen.“

Nathan haßte den Gedankenleser. Seit ein paar Wochen begegnete er ihm immer wieder – und jedesmal mischte der Kerl sich in seine Gedanken ein.
„Du hast kein gutes Bild von mir.“, meinte der Gedankenleser traurig. Er trug einen alten Hut, in dessen Krempe sich Regenwasser sammelte. Als er den Kopf schüttelte, spritze es nach allen Seiten. Außer auf Nathan. Aus irgendeinem Grund blieb Nathan unberührt vom Spritzwerk des Gedankenlesers.
‚Zufall.‘, dachte Nathan und nahm sich zugleich vor, nicht mehr zu denken. Er wollte keine Konversation initiieren. Nicht hier. Und nicht mit dem Gedankenleser.

Die Ampel war noch immer rot. Verfluchtes Ding.
Der Gedankenleser lächelte unter seinem alten Hut. Jedenfalls, soweit man das unter dem Schaum in seinem Gesicht erkennen konnte. In seiner Hand blitzte Metall.
„Ich rasiere mich immer bei Regen.“, erklärte der Gedankenleser, obgleich Nathan sich diesmal bemüht hatte, nicht nachzudenken. „Ich liebe es, wenn Regen auf frisch rasierte Haut trifft.“

Nathan schaute abschätzend. Wollte der Gedankenleser ihn veralbern? Hatte er in seinem Kopf gewühlt und den Haß gefunden, den Nathan Regentropfen entgegenbrachte, welche es wagten, auf sein unrasiertes Gesicht zu fallen? Wollte der Gedankenleser sich mit ihm gutstellen? Vielleicht, um ein Geheimnis zu erfahren? Vielleicht, um seinen nutzlosen Haß zu tilgen? Vielleicht…?

Doch als Nathan sah, mit welcher Inbrunst sich der Gedankenleser die Haare aus dem Gesicht schabte, wie er jeden einzelnen Tropfen genoß, der auf seine leicht gerötete, glatte Haut fiel, wie er im Regen stand und vor Glück und Wonne strahlte … da begriff Nathan, daß der Gedankenleser unmöglich ein schlechter Mensch sein konnte.

Die Ampel schaltete auf Grün, doch Nathan bewegte sich nicht.
„Ich … ich … ich liebe dich.“, stammelte er. „Seitdem ich dich zum ersten Mal sah.“
Der Gedankenleser lächelte und reichte ihm den Rasierer. „Ich weiß.“