Tageswort Nr. 47: Humpelstilzchen

Der Nachtbus näherte sich, doch wir waren noch zu weit entfernt von der Haltestelle, um ihn problemlos zu erreichen. „Der Bus!“, rief ich, zeigte auf das abbiegende Gefährt und wollte damit beginnen loszurennen. Ich sprang, kam auf den Boden auf, fand meinen Fuß in einem Straßenbahngleis, knickte um – und spürte nur noch Schmerz.

Das Sternchen befand sich bereits mehrere Meter vor mir, während ich auf den Gleisen in mich zusammensank, einen Schrei unterdrückend oder ausstoßend, ich wußte es nicht. Der linke Knöchel zeigte ein unerträgliches Maß an Anwesenheit und ich kämpfte mich wieder nach oben. Das Sternchen bemerkte mich, fragte, was los sei, doch ich war nicht imstande zu antworten, biss die Zähne zusammen, um den Schmerz nicht hinauszubrüllen. Geht gleich vorbei, dachte ich, hoffte ich und humpelte von den Gleisen runter. „Ich muss mich setzen.“, stöhnte ich in Richtung des Sternchens, überlegte kurz, mich einfach auf den Betonboden niederzulassen, entdeckte dann am Haltestellenhäuschen gegenüber einen Platz, begann, in diese Richtung zu humpeln. Die Schritte schmerzten nicht, denn der Schmerz war konstant. Das Sternchen ergriff mich, zeigte mir den Sitzplatz direkt neben mir, auf dieser Seite der Gleise.

Ich nahm Platz, griff mir mit beiden Händen an den Schädel und biss die Zähne noch stärker zusammen. Mein linker Knöchel bestand nur aus Schmerz. Ich verkrampfte die Finger, versuchte, den Schmerz wegzudenken, wegzukämpfen, doch es gelang nicht. Der Sternchen war besorgt, doch ich hielt sie auf Abstand; erst einmal wollte ich selbst zur Ruhe kommen. „Zieh den Schuh aus.“, riet sie, und ich lockerte langsam die Schnürsenkel. Mühsam streifte ich die Schuh ab. Man sah nichts.
Kaum hatte ich den Schuh wieder angezogen, kam die Bahn. Wir stiegen ein und das Sternchen versuchte, mich dazu zu überreden, den Fuß hochzulegen. Ich weigerte mich, war zu stolz.

Am Alten Markt stiegen wir um. Das Sternchen hatte plötzlich Lust auf Mozarella, doch Karstadt schloß gerade. „Dann gehen wir eben noch kurz ins Allee-Center.“, überredete ich sie. Der Schmerz im Knöchel hatte nachgelassen, doch war noch immer präsent. Meinem Gehstil fehlte jede Eleganz; ich humpelte, sorgsam jeden Schritt setzend, langsam voran.

Im Allee-Center besuchte ich die Apotheke, erwarb zwei Kühlakkus und eine Salbe, die in solchen Fällen helfen sollte, und setzte mich dann auf eine Bank. Aus irgendeinem Grund war mir nicht danach, das Allee-Center zu durchqueren, um Mozarella zu kaufen. Das Sternchen kam bald zurück, brachte nicht nur Mozarella, sondern auch Erdnussflips und salzige Chips mit. Ein DVD-Abend stand bevor.

Wir begaben uns zu Haltestelle, eine 4 stand bereits da, doch ich weigerte mich zu rennen. War auch nicht nötig, wir erreichten sie trotzdem, stiegen alsbald um und erreichten die Videothek. Längere Suche war vonnöten, dann entschied ich mich spontan für „Hairspray“, weil mir nach Amüsanz war, und wir humpelten heim. Der Knöchel war geschwollen, wir salbten und kühlten, so gut es ging.

Der nächste Tag brachte nichts Neues; der Knöchel sah unverändert aus. Mein Laufstil war noch immer sehr unansehnlich. Ich beschloß, die Notaufnahme aufzusuchen. Es regnete, und Sternchens mühevoll herbeigezauberte Frisur schwamm hinfort. Der Arzt wünschte ein Röntgenbild, und ich humpelte durch unzählige Gänge bis zur entsprechenden Abteilung. Mehr als eine halbe Stunde lang saß ich untätig wartend herum, beobachtete Paienten auf Betten und in Rollstühlen, bis ich endlich an der Reihe war, mich meiner Fußbekleidung entledigte und fotografiert wurde. Eine Bleischürze reudzierte die Gefährdung potentieller Nachkommen. „Fertig.“, sagte die Schwester dann, und ohne ein weiteres, wegweisendes Wort wurde ich entlassen. Ich humpelte zurück und wartete auf den Neuaufruf beim diensthabenden Arzt.
„Nichts gebrochen.“, erklärte er nach einer Weile des Wartens. Eine Schwester stürmte herein: „Ich mach das schon.“, und in Sekundenschnelle erhielt ich einen stützenden Verband und durfte gehen. Naja, „gehen“ war übertrieben.

Zu Hause angekommen rief mich mein Bruder an. „Humpelstilzchen„, nannte er mich, und ich schmunzelte.