Perfekt

Auch wenn es nicht Morgen ist und ich diesen Text nicht in das entsprechende Buch schrieb, wurde er doch in die Rubrik „Morning Pages“ eingeordnet. Schließlich entstand er spontan in einer Ruhepause, wurde während des Schreibens ersonnen.
Und so.

„Diese verdammten Schuhe!“, fluchte ich.
„Waaas?“, rief Anne aus dem Badezimmer, wobei einzig meiner Fantasie zu verdanken war, dass ich überhaupt erahnen konnte, was sie rief.

„Nichts.“, antwortete ich, war ich doch keineswegs versessen darauf, ein Gespräch anzuzetteln, das lautstark durch die gesamte Wohnung gebrüllt wurde. Doch Anne stand bereits im Zimmer und schenkte mir einen fragenden Blick. Offensichtlich hatte sie eingesehen, dass die Zahnbürste in ihrem Mund der oralen Kommunikation abträglich war, und zog es vor, sich auf Mimik und Gestikzzu beschränken.

„Ach, nichts.“, wiederholte ich. „Es sind nur diese verdammten Schuhe.“ Ein weiterer fragendender Blick.
„Sie passen nicht.“, erklärte ich seufzend. Anne deutete auf den blauen Karton, der hinter der Zimmertür herumlag. „Aber die hast du doch vorgestern erst gekauft.“, sollte diese Geste heißen, und für einen Moment war ich stolz darauf, sie gut genug zu kennen, dass sich jedes gesprochene Wort erübrigte.

„Ja, ich weiß. Doch ich komm‘ einfach nicht rein.“ Zur Bekräftigung stieß ich mehrmals meinen rechten Fuß in das schwarze Leder. Der Schuh jedoch weigerte sich, fast so, als wäre er über Nacht geschrumpft.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Schaute auf. Noch immer putzte sich Anne die Zähne, doch dabei drehte und schüttelte sie immer wieder ihre freie Hand. Ich verstand schnell und lächelte. Vielleicht war ich tatsächlich perfekt für sie, dachte ich. Vielleicht war ich tatsächlich derjenige, der ihr jedes Wort von den Augen abzulesen vermochte.

Liebevoll schaute ich zu Anne, dann drehte ich meinen Schuh um und schüttelte ihn. Ich zweifelte zwar daran, doch möglichweise hatte irgendein WG-„Nikolaus“ die Frechheit besessen, Dinge in meinem Schuh zu verstecken. Doch abgesehen von ein paar schwarzen Stoffkrumen brachte das Schütteln nichts zum Vorschein.
Prüfend ließ ich meine Finger in das Schuhinnere gleiten. Kein Widerstand.
Neugierig schaute ich auf die Schuhgröße. 43, wie gehabt.

Ich sah erneut zu Anne, die mittlerweile ihre kreisenden Putzbewegungen unterbrochen hatte. Schaum bedeckte ihre Lippen, und anscheinend wusste auch sie nicht mehr weiter. Ich probierte es erneut, presste mit aller Kraft meinen Fuß in den Schuh. „Das … muss … doch … passen!“, keuchte ich. Doch es passte nicht. Der Schuh war einfach zu klein. Oder mein Fuß zu groß.

„Ich versteh das nicht.“, sagte ich zu Anne, doch Anne befand sich gar nicht mehr im Zimmer. Mund ausspülen, dachte ich, und betrachtete den widerspenstigen Schuh. Er war noch neu, ich hatte ihn außerhalb der Wohnung noch nicht getragen. Vielleicht sollte ich ihn einfach wieder zurückbringen, überlegte ich, umtauschen oder so. Und vielleicht könnten wir dann noch kurz beim Café Venezia vorbeischauen, dort, wo wir uns vor vier Monaten kennengelernt hatten, und einen riesigen Eisbecher auf unser Wohl bestellen…

Plötzlich stand Anne neben mir, in der Hand ein riesiges Messer haltend, die Zahnbürste noch immer im Mund. „Ruckedigu, ruckedigu!“, nuschelte sie und weißer Schaum floß ihr das Kinn hinab. Ein Schrei: „Blut ist im Schuh!“, und sie schlug zu.