Sich in Stuttgart mit einer U- oder S-Bahn zu verfahren, fällt schwer. In Nürnberg hingegen wird es einem Stadtfremden leicht gemacht, denn die Haltestellenansagen sind wesentlich dezibelärmer als die stetig gleiche Aufforderung, von der Tür zurückzutreten. Ich jedoch war vorbereitet. Nicht nur Googlemaps in Kombination mit der überraschend hilfreichen Seite der Nürnberger Verkehrsbetriebe hatten mir eine Richtung- und Haltestellenahnung verschafft; auch die aushängenden Haltestellenverlaufspläne halfen.
Ein Ticket zu erwerben, war letztlich simpel gewesen, was mich jedoch nicht davon abhielt, zunächst einem Bahnmitarbeiter meine Unfähigkeit zu präsentieren. Er schlurfte desinteressiert zu einem Fahrkartenautomaten, zeigte mir die richtige Taste, und ich bedankte mich artig. Vielleicht auch ein wenig überracht, denn dass Schaltermenschen aufstehen, hatte ich bisher ebenso wenig erlebt wie eine Präsentation von Fahrkartenautomatenkenntnis.
Ich saß also mit gültigem Fahrschein in der U-Bahn und versuchte, die Haltestellenangaben des an der Decke klebenden Plans mit dem unverständlichen Lautsprechergerausche abzugleichen. Als die Bahn in meinen Bahnhof einfuhr, stand ich auf, nicht zu früh, wollte ich doch nicht als Tourist gelten.
Doch dass ich einer war, zeigte sich sofort: Die Tür ging nicht auf. Während in Magdeburg und Halle sämtliche Bahnen einen simplen Knopf besaßen, der zu betätigen war, während der S-Bahn-Tür-Öffnungshebel in Stuttgart nur angetippt werden musst, war es hier nötig, mechanische Arbeit zu verrichtet, Kraft aufzuwenden.
Kaum war ich befreit, ließ ich mich vom Strom zahlloser Schüler zur Bushaltestelle tragen, die es schaffte, mich zu verwirren. Ich wusste, dass ich die 22 nehmen musste, doch nicht, ob ich an der Haltestelle für die richtige Richtung stand. Dass gerade eine 23 einfuhr, die als Fahrtziel eines angab, das sich mit meinem deckte; dass man, wie bei einer Ampel, anscheinend eine Taste drücken konnte, um einen Bus zu rufen; dass die Schülermassen nicht alle in den Bus passten und dass der nächste einfahrende Bus sich „S“ nannte, half mir wenig. Ich ließ zwei Busse passieren, setzte mich dann – wie geplant – in eine 22, um eine Strecke zu fahren, die ich leicht zu Fuß hätte zurücklegen können. Aber ich hatte ein Ticket, und dessen 1,90-Euro-Gültigkeit wollte bis zum Letzten ausgenutzt werden.
Auf dem Rückweg blieb mir die Busfahrt erspart; ich wurde gefahren. Zwar finde ich, dass Autos nur Autos sind, doch ein im Innenrückspiegel integriertes Navigationssystem besitzt durchaus das Potenzial, mich zu beeindrucken.
Am Hauptbahnhof angekommen zeigte sich, dass die Zugnutzung auf der Strecke Nürnberg-Magdeburg in unüberschaubar vielen Variationen daherkommt. Bestimmt zehn Minuten verbrachte ich mit dem Vergleich von Fahrtdauern, Fahrtkosten und Umsteigehäufigkeiten und entschied mich schließlich für eine Verbindung, die mich per ICE nach Naumburg, per IC nach Halle und per weiterem IC nach Magdeburg bringen würde und mir vorher genug Zeit ließ, noch einmal kurz in die Innenstadt zu laufen und dort dringenste Bedürfnisse zu befriedigen.
Im Comicladen erwarb ich Band 8 von Herrn haarsträubenden Abenteuern, bevor ich festellen musste, dass Nürnberg zwar eine wunderschöne Altstadt, jedoch nur hässliche Postkarten besitzt. Ich erwarb drei und beschrieb bzw bezeichnete sie in der Gemütlichkeit einer preiswerten Pizzeria.
Es schneeregnete, und auch diese Witterung schien meinem Telefonfotoapparat nicht zu behagen. Ich wäre fähig gewesen, mich in der Innenstadt zu verlaufen, doch entschied mich dagegen. Die Heimfahrt wartete.
Auf dem Bahnsteig angekommen stellte ich fest, dass die Zahl der zu erwartenden Wagons unmöglich stimmen konnte. Die ausharrenden Menschenmassen in Kombination mit der fehlenden Möglichkeit, noch Sitzplätze zu reservieren, ließen Schlimmstes erahnen.
Ich verbrachte die nächsten zweieinhalb Stunden im Schneidersitz lesend auf dem Gang eines vollgestopften ICE-Abteils, eingefercht zwischen Sitzen und Menschen, immer wieder aufstehend, weil irgendwer, sogar ein pflichtbewusster Schaffner, sich unbedingt durch das vielköpfige Gewusel kämpfen wollte. Als ich in Naumburg feststellte, dass mein Anschlusszug genug Verspätung haben würde, um den darauffolgenden Anschluss und somit den Besuch einer Martenstein-Lesung ins Unwahrscheinlichste abdriften zu lassen, entdeckte ich in meinem Gemüt einen Hauch von Unmut. Als ich in dem verzögerten ICE saß und die Befürchtung Gewissheit wurde, fand ich gar eine Zornesfalte auf meiner Stirn.
Später, auf dem Hallenser Bahnhof, stellte ich fest, dass das Bahnhofs-WC nur 50-Cent-Stücke anzunehmen bereit war, nicht wechseln wollte – und dass ich nur einen Euro besaß. Bevor der Grummel mich überwältigen konnte, eilte ich zum nächstgelegenen Bäcker, erwarb einen Kakao und setzte mich auf eine Bank.
Das Heißgetränk wärmte mir die Hände, der Süßgeschmack das Gemüt. Ich schmunzelte ein wenig über den Kaffeebeckerverschluss, der mich an meinen Zivildienst im Krankenhaus erinnerte, schmunelte ein wenig über den Verkäufer ungarischer Einlegwaren, der gewissenhaft wie eh und je seine Ware sortierte und um Bruchteile von Millmetern in Richtung Perfektion verschob. Ich atmete tief, griff mir an die Stirn, stellte mir vor, wie ich die dunkle Wolke dahinter ergriff, wie ich sie in meiner Hand zusammenknüllte.
Auf dem Weg zum Gleis warf ich sie zusammen mit meinem leeren Becher in den Müll.