Das Paket konnte noch nicht lange dort stehen. Vor einer halben Stunde hatte ich noch den Müll herausgebracht, hatte die Wohnungstür geöffnet, war die sieben Stufen hinuntergelaufen, hatte mich durch die Haustür begeben, die fünfeinhalb Meter Fußweg zurückgelegt, den Beutel mit dem bereits unangenehm riechenden Inhalt in die erstbeste Tonne geworfen und war zurückgelaufen, zurück in meine Wohnung, zurück in meine Küche, wo der Wasserkocher bereits seinen Betrieb eingestellt hatte und geduldig darauf wartete, mir einen heißen Morgentee zuzubereiten. Sicherlich war ich gerade aufgestanden gewesen, hatte trotz wasserintensiver Reinigung noch das eine oder andere Krümelchen Müdigkeit in meinen Augenwinkeln kleben, doch bezweifelte ich, dass ich selbst bei absoluter geistiger Abwesenheit imstande gewesen wäre, dieses Paket zu übersehen.
5 Uhr 30 kam noch keine Post, stellte ich fest. Die halbvolle Tasse Tee war längst erkaltet und ich stand in Wintermantel, Schal und andere gesellschaftlich akzeptierte Körperverhüllungen gekleidet in der Tür und betrachtete das Paket, das meinen frisch geputzten Schuhen so unerwartet Widerstand geleistet hatte. Es konnte noch nicht lange dort stehen, stellte ich fest. 5 Uhr 30 kam noch keine Post, stellte ich fest. Meine Nachbarn, allesamt im Rentenalter, wären niemals imstande gewesen, dieses Monstrum von einem Paket anzuheben und in frühester Morgenstunde geräuscharm vor meiner Tür abzustellen, stellte ich fest. Meine Nachbarn hätten niemals ein Paket für mich angenommen, stellte ich fest und grinste säuerlich.
Woher stammt also dieses Paket, wunderte ich mich. Doch nicht sehr lange, denn das Paket selbst, dessen fast absurdes Äußeres, lud viel mehr zur Verwunderung ein. Es war groß, überaus groß, nahm fast die gesamte Breite des Türrahmens ein und ging mir teilweise bis zum Bauchnabel. Teilweise. Denn das Paket war kein Paket, das der üblichen Achteckigkeit, der altbekannten Sechsflächigkeit frönte, nein es hatte zahllose Flächen unterschiedlichster Form und Größe und weigerte sich, auch nur annähernd quaderförmig zu sein. Fast war es, als wäre das Paket von einem Wahnsinnigen entworfen worden, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit auszuloten.
Das Paket war pink. Und damit meine ich nicht das Pink, das kleine Mädchen und Jugend erstrebende Mittvierziger gerne als Kleiderkoloration wählen, nicht jenes Pink, dem eine gewisse kecke Mädchenhaftigkeit beiwohnt, jenes Pink, das ich zwar noch nicht für hübsch erachtete, dessen Existenz ich aber keineswegs bedauerte. Nein ich meinte Pinkpink. Überpink. Grellpink. Ein Pink, das mich anschrie, meine Augen auspeitschte, eines, das selbst nach dem Wegsehen noch im Blick nachglomm, das sich sogar auf meine Zunge gelegt, meine Geschmacksnerven beeinflusst zu haben schien. Echtes Pink.
Und dann die Schleife. Sie war keine Schleife, sondern die Karikatur einer Schleife, die Groteske einer Schleife, ein monströses Konstrukt, das lächerlich und beeindruckend zugleich war, das schaffte, mich schmunzeln zu lassen, während mir das Herz vor Schreck beinahe stehen …
Das Paket bewegte sich.
Nein, das konnte nicht sein! Pakete bewegten sich nicht. Selbst derart abstruse Pakete wie das vor meiner Tür bewegten sich nicht. Nie-mals!
Das pinkfarbene Papier riss auf. ‚Kein Dinosaurier!‘, dachte plötzlich und ohne Grund. ‚Bitte lass es kein Dinosaurier sein!‘
Vorsichtshalber trat ich einen Schritt zurück.
„Tadaa!“, rief der Kerl, der soeben auf dem unförmigen Paket sprang und breite die Arme aus. Verdutzt starrte ich ihn an. Sein Anzug war pink. Normal pink. Nicht überpink, grellpink, kreischpink, sondern normal pink. Wie man es kennt. Er grinste und schob sich die zerzausten Haare aus der Stirn.
„Ich komme gleich zur Sache:“, sagte er und sein Grinsen verbreiterte sich proportional zu meinen den Gesetzen des Entsetzens frönenden Pupillen.
„Du schläfst zu wenig. Viel zu wenig. Es ist jetzt…“, Er hielt inne, schaute auf sein linkes Handgelenk, wo er mit Filzstift ein paar zeigerähnliche Linien hingekrakelt hatte. „… viel zu früh, und du bist schon wach.“
Er starrte mich an, blickte mir ins Gesicht, und ich konnte die Augenringe spüren, die unter meinen Sehorganen hingen, fühlte die Schlafsandreste in meinen Augenwinkeln, spürte bereits jetzt die Kraftlosigkeit, die sich im Laufe des Nachmittags in meinem Körper ausbreiten würde, erkannte jede einzelne Sekunde fehlenden Schlafes.
„Wann bis du ins Bett gegangen?“, fragte er mich. „Um elf? Um zwölf?“
„Halb eins.“, murmelte ich. Das war korrekt. Dass ich anschließend noch mindestens zwanzig Minuten gelesen hatte, verschwieg ich jedoch.
„Halb eins?!?“, schrie der Anzugmensch und streifte sich letzte Paketpapierreste ab. „Halb eins?!? Das ist zu spät! Ich meine, jetzt ist es gerade mal …“ Er sah wieder auf seine aufgemalte Uhr. „viel zu früh, und du bist bereits wach!“
„Ich…“, setzte ich an.
„Und so geht das seit Tagen!“, rief der Anzugmann.
„Ich…“
„Seit Wochen!!“
„Aber…“
„Du brauchst Schlaf. Jetzt. Sofort. Auf der Stelle.“, sagte der Anzugmann und beruhigte sich ein bisschen.
„Aber ich muss doch arbeiten!“
„Nicht jetzt. Nicht für die nächsten Stunden.“, widersprach der Anzugmann.
„Ich schlafe morgen länger.“, versprach ich.
Der Anzugmann schüttelte den Kopf. Wurde ernst. Und leise.
„Schau dich an. Schau dich ganz genau an. Du brauchst Schlaf. Viel Schlaf. Nicht nur ein bisschen, sondern viel. Und zwar jetzt.“ Er seufzte. „Ich sage das als Freund, weil ich dir helfen will, weil ich möchte, dass es dir gutgeht. Schau dir doch an, wohin du gekommen bist: Du stehst morgens um …“ Er sah auf seine nicht existierende Uhr. „Äh… ganz schön früh auf dem Flur und hast Halluzinationen.“
„Halluzinationen? ich habe keine Hallu…“
„Und was bin ich?“
„Du bist e-echt?“
„Und dieser pinkfarbene Anzug?“
„Echt.“
„Und dieses überpinke Paketpapier?“
„Auch echt.“
„Und diese wahrlich abstruse Schleife?“
„Die ist ebenfalls echt.“, meinte ich und war mir meiner Sache äußerst sicher.
„Und dieser überaus nutzvolel, aber auf jeden Fall halluzinierte Gummihammer?“, fragte der Anzugmann.
„Ech-„, begann ich. „Welcher Gummihammer?“
„Der hier!“, rief der Anzugmann triumphierend und zog aus der Innentasche seines Jackets einen drei Meter großen überpinkfarbenen Gummihammer.
Ich begann zu zweifeln. Das konnte doch nicht echt sein, oder?
Der Hammer drehte sich ein Stück und raste dann direkt auf mich zu. Der Anzugmann lachte irssinig, dann traf mich eine Wucht aus pinkfarbenem Gummi und ich fiel in Ohnmacht.
Ich erwachte in meinem Bett. Schaute auf den Wecker. „8 Uhr 15. Zeit zum Austehen.“, sagte ich, gähnte kurz und lächelte. Heute hatte ich endlich mal gut geschlafen.
… an Momo und die pinken Herren.