Begegnungen 05: Richard

Ich summte gerade ein heiteres Zwölftonmusikstück vor mich hin, als plötzlich Richard vor mir stand. Ich hatte Richard seit mindestens sechsdreiviertel Jahren nicht mehr gesehen, und mir kam es so vor, als sei er, der mich ohnehin immer um anderthalb Kopfhöhen überragt hatte, in der Zwischenzeit noch um einiges gewachsen.

„Richard!“, rief ich erfreut zu ihm hinauf, „Was machst du denn hier?“
„Ich gehe zur Musikschule.“, meinte er.
„Zur Musikschule?“, wunderte ich mich. Richard war immer einer von denen gewesen, die Rhythmus für etwas Freiwilliges hielten, an dem man also nicht unbedingt teilnehmen musste. Richard tanzen zu sehen, ähnelte dem Anblick einer betrunkenen Giraffe beim Sackhüpfen – jedoch mit weniger Eleganz.

„Zur Musikschule.“, bestätigte Richard, und soweit ich es von unten erkennen konnte, schien er dabei auch ein wenig bestätigend zu nicken.
„Was für ein Instrument lernst du denn?“, fragte ich, doch Richard schüttelte mit dem Kopf. Sein zotteliges Haar wirbelte ihm vergnügt um die Wangen.
„Kein Instrument. Ich lerne Gesang.“
„Im Chor?“
„Nein, Sologesang. Eigentlich lerne ich nur einen einzigen Ton.“
„Das ist nicht sehr viel.“, meinte ich vorsichtig.
„Es reicht aus.“, antwortete Richard, und ich glaubte, ein Schmunzeln auf seinen bartumkränzten Lippen erkennen zu können.
„Äh… wofür denn?“
„Um Glas zerspringen zu lassen.“
„Bitte?“, fragte ich verdutzt.
„Um Glas zerspringen zu lassen.“, wiederholte Richard. „Ich lerne, mit meiner eigenen Stimme Glas zum Bersten zu bringen.“
„Warum sollte man so etwas wollen?“
„Um Frauen zu beeindrucken.“, meinte Richard und schaute verlegen zu Boden. Also mehr oder minder zu mir.
„Ach so.“, meinte ich, und eine unbehagliche Stille schwebte zwischen uns.

„Und?“, fragte ich nach einer Weile. „Klappt es?“
„Noch nicht.“
„Noch nicht? Nicht mal sei ein bisschen?“
„Nein.“, sagte Richard. „Bisher kann ich nur Holz zersplittern lassen.“
„Krass.“, sagte ich.
„Jup.“, meinte Richard.

Wieder klebte Schweigen zwischen uns, und fast schien es mir, als legte es Richard auf einen Wettbewerb an. Wer von uns würde die Unbehaglichkeit der Stille länger aushalten?
Ich war der Klügere, und nach einer Weile gab ich nach.
„Nun gut.“, sagte ich, entschuldigend lächelnd, „Ich muss jetzt los. War schön, dich getroffen zu haben, Richard.“
Richard nickte, und ich verabschiedete mich:
„Tschüß.“
„Tschüüüüß.“, antwortete Richard fast flötend, und ein unangenehmer Ton mischte sich unter den Umlaut.
Neben mir knackten die Bäume und Büsche bedrohlich.

Ich begann zu rennen.

PS:
Mit passierte nichts. Nur meine Zahnstochersammlung, die ich bekanntlich mit mir herumtrage, litt ein wenig.