Begegnungen 08: Narzisse

Gerade, als ich die Stufen zur S-Bahn-Haltestelle hinuntergehen, entdeckte ich eine Narzisse. Es war eine kleine Narzisse, nicht kümmerlich, nur in Anbetracht der winterlichen Temperaturen noch nicht zu voller Pracht entfaltet.
„Wie schön.“, rief ich aus, denn das trübe, allesverschlingende Grau, das diese Jahreszeit mit sich herumträgt, mochte ich schon seit Tagen nicht mehr.
„Eine Narzisse!“, rief ich aus und bewunderte das liebliche Grün des Stengels und das erwachende Gelb der noch verschlossenen Blüte.
Der Blütenkopf regte sich.
„Ich bin keine Narzisse!“, sagte die Narzisse, und ihre Stimme klang hell und fast süßlich.
„Nicht?“, fragte ich, zugegebenermaßen nicht sehr eloquent, und beugte mich zum dem kleinen Pflänzchen herunter.
„Nein. Ich bin keine Narzisse.“, sagte die Narzisse, die behauptete, keine zu sein.
„Aber du siehst so aus.“, entgegnete ich, meine mangelhaften floralen Kenntnisse zusammenkratzend.
„Mag sein.“, antwortete die Blume. „Doch Narziss war jene Sagengestalt, die sich beim Blick in einen Teich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Damit möchte ich nichts zu tun haben.“
„Aber was bist du dann?“, fragte ich die Narzisse, die sich weigerte, eine zu sein.
„Eine Osterglocke.“
„Sind Osterglocken nicht einfach nur gelbe Narzissen?“, fragte ich.
Die Pflanze schwieg.
„Ich bin eine Osterglocke.“, wiederholte sie dann, und hätte sie Füße besessen, so hätte sie vermutlich trotzig auf den Boden gestampft.
„Aber Ostern ist doch erst in fünf Wochen!“, meinte ich.
„Trotzdem.“, sagte sie und verschränkte die beiden zarten Blätter.
„Gut.“, gab ich nach. „Du bist eine Osterglocke.“
Die Narzisse, die eine Osterglocke war, nickte, und plötzlich vernahm ich ein leises Klingeln, wie von winzigen Glöckchen, die sanft und zärtlich den Frühling einläuteten.
„Du bist tatsächlich eine Osterglocke!“, rief ich erstaunt, und die Osterglocke nickte wieder, klingelte wieder.
„Wie schön!“, freute ich mich, und ging lächelnd davon.