Begegnungen 24: Nilpferd

Im Fahrradkeller saß ein Nilpferd und weinte.
„Oh je.“, sagte ich und reichte ihm ein Nilpferdtaschentuch. Nilpferdtaschentücher sind ungefähr dreiundzwanzigmal so groß wie normale Taschentücher, und dienstags trage ich stets eines mit mir herum. Oder ein Schneeleopardentaschentuch. Je nach Lust und Laune.
Ich reichte dem weinenden Nilpferd also das Nilpferdtaschentuch, und es schneuzte sich eifrig.
„Danke.“, sagte es dann leise, und wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Was ist denn los?“, wollte ich wissen.
„Ich bin ein Nilpferd.“, sagte das Nilpferd. „Doch ich kann nicht wiehern.“
„Wiehern?“, fragte ich. „Wieso willst du denn wiehern?“
„Alle Pferde wiehern!“, meinte das Nilpferd, und fing wieder an zu weinen.
Ich schüttelte den Kopf. „Nilpferde wiehern nicht.“
Das Nilpferd sah mich an, und seine Knopfäuglein wurden ganz groß.
„Pferde wiehern. Nilpferde nilwiehern.“, erklärte ich.
„Und wie klingt das?“, fragte das Nilpferd neugierig.
„Das klingt wie lachen.“, sagte ich.
„Lachen?“, überlegte das Nilpferd „Lachen kann ich!“
Und von einer Sekunde auf die nächste begann es zu schmunzeln, zu lächeln und schließlich tatsächlich schallend zu lachen. und was für ein Gelächter es war, herzerwärmend und wummernd, dass die Wände bebten.
Ich nickte. „Genau so klingt Nilwiehern.“

Begegnungen 23: Schwalbe

Als ich gerade auf mein Rad steigen wollte, bemerkte ich über mir eine Schwalbe. Es war nicht schwer, sie zu bemerken, streifte sie doch fast meinen modischen Fahrradhelm.
„Ey!“, rief ich nach oben, und die Schwalbe drehte eine Runde. Wieder streifte sie mich fast.
„Ey!“, rief ich erneut und ergänzte: „Du fliegst zu tief!“
Die Schwalbe kreiste über meinem Schädel, machte kehrt und setzte zu einem neuen Anflug an.
„Der Wetterbericht hat schönes Wetter angesagt.“, rief ich. „Und Schwalben fliegen nur vor schlechtem Wetter tief.“
Die Schwalbe landete auf meinem Helm.
„Hat der Wetterbericht auch was von Kontaktlinsen erzählt?“, fragte sie.
„Hä?“
„Ich habe meine Kontaktlinsen verloren.“, erklärte die Schwalbe. „Deswegen fliege ich so tief.“
„Vermehrtes Kontaktlinsenaufkommen im Elefantenweg 7.“, sagte ich.
„Hä?“, fragte nun die Schwalbe, die sich offensichtlich an mein Sprachniveau angepasst hatte.
„Das hat der Wetterbericht gesagt. Bei der Pollenflugwarnung.“
„Vermehrtes Kontaktlinsenaufkommen im Elefantenweg 7?“, fragte die Schwalbe.
„Vermehrtes Kontaktlinsenaufkommen im Elefantenweg 7.“, bestätigte ich.
„Danke.“, sagte die Schwalbe und flog davon. Ich sah ihr nach und lächelte, als sie hoch oben im blauen Himmel verschwand.

Begegnungen 22: Spinne

In der oberen linken Ecke des Badezimmers saß eine kleine Spinne und gähnte.
„Ey Spinne!“, rief ich hinauf. „Hier wohne ich. Such dir einen anderen Platz zum Leben.“
Die Spinne schaute mich an und erwiderte dann mit einem Stimmchen so zart wie ein Spinnenbein:
„Geht nicht. Ich trau mich nicht.“
„Wieso denn?“, fragte ich und hoffte, die Spinne nicht mit Gewalt aus meinem Badezimmer vertreiben zu müssen.
„Wegen der Maus.“, hauchte die Spinne.
„Wegen der Maus? Wegen welcher Maus?“
„Na wegen der Maus, die mich frisst, sobald ich mich bewege.“, erklärte die Spinne, und ihr Stimmchen zitterte ein wenig. „Da unten, hinter der Toilette, dort wohnt sie.“ Zwei ihrer dünnen Beinchen zeigten zur beschriebenen Stelle.
Ich kniete mich vor das Mäuseloch, das ich vorher nie bemerkt hatte.
„Ey Maus!“, rief ich hinein. „Hier wohne ich. Such dir einen anderen Platz zum Leben.“
„Och nö!“, piepste es von drinnen.
„Ich gebe dir auch etwas Speck.“, versprach ich, denn mit Speck fing man bekanntlich Mäuse.
Die Maus überlegte kurz, dann vernahm ich ein Geräusch, das so klang, als ob ein winziger Koffer gepackt wurde, und dann verließ die Maus das Loch.
„Hier.“, sagte ich und reichte ihr den vorderen Teil eines Spekulatius-Plätzchens. Sie griff danach, betrachtete das Plätzchenbruchstück misstrauisch und nickte dann bestätigend.
„Da fehlt aber noch ein C.“, sagte sie, biss mir in den Zeh und rannte davon.
„Wo sie Recht hat, hat sie recht.“, hauchte die kleine Spinne in der oberen linken Ecke meines Badezimmers und packte ihr Köfferchen.

Begegnungen 21: Schuh

Im Gebüsch lag ein einzelner Schuh. Es war ein schwarzer Herrenschuh aus Leder, durchaus elegant, für vornehmere Ereignisse nicht ungeeignet. Obgleich er nicht aussah, als wäre er soeben einem Schuhfachmarkt entsprungen, ließ er es an den nötigen Blessuren fehlen, die die üblichen Entsorgungsgründe für Fußbekleidung bildeten.
„Was machst du hier?“, fragte ich den Schuh, doch mein mit Frühstücksbrötchenteilen gefüllter Mund gab nur unverständliches Genuschel von sich.
„Ich liege herum.“, antwortete der Schuh trotzdem. Seine Zunge wackelte ein wenig, wenn er redete, und eine Hummel floh überrascht aus seinem Inneren.
„Das sehe ich.“, meinte ich und schluckte herunter. „Aber warum liegt ein so hübscher Schuh einsam im Gebüsch herum?“
„Ich habe meinen Besitzer verloren.“, meinte der Schuh und seufzte.
„Ach.“, sagte ich. Mehr fiel mir dazu nicht ein.
„Aber ich vermisse ihn nicht.“, ergänzte der Schuh. „Nur ein bisschen.“
„Ein bisschen?“, hakte ich nach.
„Naja.“, Der Schuh druckste verlegen herum. „Ich mochte seinen Fuß. Irgendwie. Seinen rechten, natürlich. Nicht, weil er hübsch war oder besonders gut zu mir passte. Er fühlte sich noch nicht einmal sonderlich bequem an. Aber trotzdem… Irgendwas vermisse ich.“
„Den Geruch?“, half ich aus.
Der Lederschuh dachte nach. „Könnte sein.“
„Da kann ich vielleicht helfen.“, sagte ich, entfernte den Käse von meinem restlichen Brötchen und legte ihn in den Schuh.
„Mmmh…“, machte der Schuh und schien sich offensichtlich wohl zu fühlen.
„Bis bald.“, verabschiedete ich mich und biss herzhaft in das nun recht trockene Brötchen.

Begegnungen 20: Känguru

Und dann war da dieses Känguru. Es war nicht sehr groß, reichte mir gerade mal bis zum Knie. Doch es weinte, und weinende Kängurus sind ein Anblick, der einem das Herz brechen kann.
„Was ist denn los?“, fragte ich vorsichtig, als ich mich ihm näherte.
Das Känguru schniefte laut und sah zu mir auf.
„Mein Beutel“, sagte es, und riesige Kängurutränen kullerten aus seinen Äuglein. „Ich habe meinen Beutel verloren.“
„Ist das so schlimm?“, fragte ich naiv, denn ich kannte mich mit der Schlimmheit von Kängurubeutelverlusten nicht so sein.
Das Känguru nickte und schniefte erneut.
„Es war mein Lieblingsbeutel.“, sagte es und ergänzte. „Außerdem saß mein Sohn Peter darin.“
„Mhh.“, antworte ich und überlegte.
„Mit deinem Sohn kann ich dir leider nicht helfen, aber ich schenke dir diesen Beutel.“
Ich kramte aus meinem Rucksack den hellblauen Beutel, den ich schon seit geraumer Zeit unbenutzt mit mir herumtrug, und reichte ihn dem Känguru, das noch immer weinte.
„Danke.“, sagte es, und es war kaum mehr als ein Flüstern.
„Aber… aber der bewegt sich ja!“, rief es dann.
Und tatsächlich: Der Beutel zuckte und zapptelte, als ob er ein Eigenleben hätte. Nur wenige Augenblicke später schaute auch schon ein winziges Känguruköpfchen zwischen den Henkeln hervor.
„Peter!“, rief das Känguru.
„Mami!“, rief Peter, und die beiden hüpften vergnügt von dannen.
Ich blieb zurück und nahm mir vor, zu Hause alle meine Baumwollbeutel auf potentielle Känguruinhalte zu prüfen.

Begegnungen 19: Badezimmer

Als ich heute Morgen das Badezimmer betrat, saß ein Eichhörnchen auf dem Waschbecken und putzte sich die Zähne.
„Morgen!“, murmelte ich undeutlich und war recht froh, dass der Anblick meines gerade erwachten Gesichts im Spiegel teilweise durch das rotbraune Fellwesen verdeckt wurde.
„Mmpf.“, antwortete das Eichhörnchen und fuhr fort, sich die Zähne zu putzen. Es war eifrig dabei, hatte es doch bereits die zweite Tube Zahnpasta angefangen.
„Moment mal.“, sagte ich dann, als die Erkenntnis schneckengleich durch meinen trägen Geist gekrochen war. „Das ist doch meine Zahnbürste!“
„Mmpfmpf.“, antwortete das Eichhörnchen, und es hätte sowohl „Verpiss dich.“ als auch „Tschuldigung.“ heißen können.
Ich interpretierte wohlwollend und winkte ab. „Ist schon okay.“
Ich betrachtete den weichen Puschelschwanz des Eichhörnchens und ergänzte:
„Aber ich möchte keine roten Haare in meiner Haarbürste finden!“
Das Eichhörnchen nickte und spülte aus.
„Versprochen.“, sagte es, hüpfte vom Waschbecken herunter, schnappte sich meine Haarbürste und rannte durch die Terrassentür davon.

Begegnungen 18: Haselnussstrauch

„Hey!“, sagte der kleine Haselnussstrauch, als ich ihn passierte. Er stand inmitten größerer Holunderbüsche, und ich hatte ihn bisher noch nie bemerkt.
Ich blieb stehen.
„Hey!“, wiederholte der kleine Haselnussstrauch.
„Ja?“, fragte ich vorsichtig, denn in dieser Stadt wird man üblicherweise mit kritschen Blicken bedeckt, wenn man mit Haselnüssträuchern, Löwenzahnblüten oder Taubnesselfeldern redet.
„Ich weiß, wir kennen uns nicht und so.“, begann der kleine Haselnussstrauch, „doch ich hätte eine Bitte.“
„Eine Bitte?“, fragte ich, noch immer vorsichtig. Vielleicht lauterte ja hinter dem Strauch einsibirisches Miniaturkänguru und spielte mir einen Streich.
„Ja, eine Bitte.“, erklärte der kleine Haselnussstrauch und seine Zweigchen wippten ein wenig ungeduldig hin und her.
„Was für eine Bitte denn?“, fragte ich.
„Nur eine kleine.“
„Eine kleine?“
„Ja!“
Der kleine Haselnussstrauch war anscheinend genervt von meinen vielen Nachfragen, und ich beschloss, darauf im weiteren Verlauf unseres Gespräches zu verzichten.
„Was für eine Bitte denn?“, fragte ich.
„Gieß mich.“, sagt der kleine Haselnussstrauch.
„Wie bitte?“
„Gieß mich!“, wiederholte der kleine Haselnussstrauch und ich hörte das Augenrollen zwischen seinen Worten.
„Aber ich kann nur Blei gießen.“
„Das geht auch.“, meinte der kleine Haselnussstrauch, und ich holte ein bisschen Senkblei und eine Gießkanne aus der Jackentasche und goß das eine mit dem anderen.
„Geht doch.“, sagte der kleine Haselnussstrauch und zog sich zwischen die Holunderbüsche zurück.

Begegnungen 17: Eichhörnchen

Als ich erwachte, saß auf meinen Füßen ein Eichhörnchen und starrte mich an. Zuerst konnte ich es nicht erkennen, spürte nur, dass mich etwas Pelziges, Weiches kitzelte, doch als ich meine Brille aufgesetzt hatte, wurde es offensichtlich: Dort saß ein Eichhörnchen. Es war ein hübsches Eichhörnchen, musste ich – trotz Schlaftrunkenheit – zugeben, und ich hegte den leisen Verdacht, dass es meine Haarbürste ausgiebig benutzt hatte, bevor es sich auf meine Füße gesetzt hatte.

Das Eichhörnchen sah mich an. Ich blickte zurück und lächelte. Ich bin ganz gut darin, mit Fellwesen zu kommunizieren, doch bei Eichhörnchen hatte ich schon immer meine Probleme gehabt. Vielleicht liegt es am Puschelschwanz, überlegte ich, während das Eichhörnchen still auf meinen Füßen saß und mich anschaute. Es lächelte nicht, doch aus seinen Augen sprach auch keine Abneigung. Es sah aus, dachte ich, obwohl ich wusste, dass es ein alberner Gedanke war, als brannte ihm eine Frage auf den Lippen.

Die Sonne war längst aufgegangen, draußen lärmten die Kinder der benachbarten Schule, doch das Eichhörnchen ließ sich nicht stören. Es schwieg. Schwieg und schaute mich an.

„Wenn du ein Eichhörnchen wärst“, fragte es nach einer Weile zögerlich, „welche Frage würdest du einem Menschen stellen?“
Ich überlegte kurz
„‚Wenn du ein Eichhörnchen wärst“, antwortete ich dann. „welche Frage würdest du einem Menschen stellen?'“

Das Eichhörnchen sah aus, als dächte es darüber nach, nickte dann und verschwand im Badezimmer.

Begegnungen 16: Wurm

Heute Morgen lief ich über die Wiese. Tautropfen setzten sich frech auf meine frisch geputzten Schuhe, und beinahe wäre ich der Versuchung erlegen, mich hinzulegen und im erwachenden Gras zu wälzen. Doch ich nahm mich zusammen, setzte meinen Weg fort, bis ich auf einen winzigen Erdhaufen stieß. Er bewegte sich. Neugierig heilt ich inne. Schaute ganz genau hin.

Tatsächlich! Er bewegte sich. Winzige Erdkrümel stolperten übereinander, als müssten sie Platz machen für etwas, das sich von
unten seinen Weg bahnte. Ein Wurm!

Ein Wurm hatte die Oberfläche durchbrochen und schaute nun neugierig ins Tageslicht. Schön sah er aus, und insbesondere sein Ringelmuster ließ mich ein wenig wundern:

„Sag mal“, fragte ich den Wurm vorsichtig. „Kann das sein, dass du gar kein Wurm bist?“

Der Wurm rührte sich nicht, und ich hatte das Gefühl, dass er mich intensiv anstarrte.
Trotzdem fuhr ich fort: „Bist du nicht das Ende einer Ringelschlange?“

Der Wurm, der keiner war, schaute noch einmal zu mir hinauf, dann auf meine taubedeckten Schuhe und verschwand verschämt im Boden.

„Ich hab’s nicht so gemeint.“, rief ich ihm hinterher, doch der Wurm war bereits verschwunden.

Raschen Schrittes eilte ich davon. Wütende Ringelschlangen waren besonders giftig.