Begegnungen 58: Schnecke

Ich war gerade auf dem Weg zur S-Bahn, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Ich schaute hin, doch sah nichts. Ein paar Schritte später glaubte ich erneut, eine Bewegung wahrzunehmen, diesmal vor mir. Ich sah genauer hin und entdeckte eine Nacktschnecke, die gerade hinter einer Hauswand verschwand.
„Hey!“, rief ich. Die Schnecke drehte sich um und richtete ihre Fühler auf mich.
„Ja?“, fragte sie.
Es war eine dicke, fast schon als riesig zu bezeichnende Nacktschnecke, deren helles Grau durchaus hübsch anzusehen war.
„Bist du gerade gerannt?“, fragte ich vorsichtig, denn ich war mir nicht sicher, was genau ich eigentlich gesehen hatte.
„Ich? Nö.“, antwortete die Nacktschnecke, doch Schnecken sind unglaublich schlechte Lügner, und ich durchschaute sie sofort. Außerdem war sie noch immer außer Atem.
„Du bist gar keine Nacktschnecke, oder?“, vermutete ich.
Die Nacktschnecke errötete. Ertappt!
„Ich bin eine Weinbergschnecke.“, erklärte die Nichtnacktschnecke. „Allerdings habe ich mein Haus vergessen.“
„Ui.“, sagte ich, denn obgleich ich sehr vergesslich bin, gelang es mir noch nie, mein Haus zu vergessen. Jedoch besitze ich auch keins.
„Und nun flitze ich gerade zurück, um mein Haus zu holen, bevor mich jemand sieht.“ Die Schnecke blickte an. „Ich will sozusagen nach Hause.“
Sie lächelte müde. Anscheinend hatte sie gerade einen Scherz gemacht.
„Ich muss jetzt los.“, sagte sie, und in Sekundenschnelle war sie viereinhalb Meter davongeeilt.
„Warte kurz!“, rief ich hinterher und sprintete zu ihr hin. „Sind Schnecken normalerweise nicht unglaublich langsam?“
Die Schnecke lachte, und zum ersten Mal klang sie tatsächlich fröhlich.
„Ja, sind wir.“, sagte sie, und bevor ich zwinkern konnte, war sie verschwunden.

Begegnungen 57: Blaumeise

Auf einem Ast saß eine Blaumeise und flötete ein Lied. Dieses kam mir seltsam bekannt vor, also blieb ich stehen und lauschte.
„Hey.“, sagte ich nach einer Weile. „Ist das nicht von Vivaldi?“
Die Blaumeise schüttelte mit dem Kopf und pfiff weiter, als hätte es meine Unterbrechung nie gegeben. Wunderschön klang es, und obgleich ich noch zu müde war, um zu lächeln, spürte ich, wie sich meine Mundwinkel auseinander bewegten und in meine Zähnen das Bedürfnis erwachte, fröhlich zwischen meinen Lippen hindurchzublitzen.

Ich lauschte andächtig, versank im ruhigen und zugleich fesselnden Takt des Meisenliedes und versuchte mich daran zu erinnern, warum mir dieses bezaubernde Musikstück so bekannt vorkam.
„Chopin?“, fragte ich nach anderthalb Minuten. „Ist das von Chopin?“
Die Meise schüttelte abermals mit dem Köpfchen und flötete weiter, fast noch süßer und traumhafter als zuvor. Chopin war falsch, erkannte nun auch ich, doch ich fühlte, dass ich nahe an der Lösung war.

„Schubert?“, fragte ich vorsichtig, und die Meise pfiff, als hätte ich nichts gesagt.
„Mozart?“
„Händel?“
Ich seufzte. Alles falsch.

Die Meise tirillierte ihr Lied und ich hörte zu. Wunderschön klang es, und ich hätte mich in den Tönen verloren, wenn da nicht diese bohrende Frage gewesen wäre.
Ich begann wahllos Namen aufzuzählen:
„Beethoven? Bach? Haydn? Telemann? Wagner? Mendelssohn? Berlioz? Tschaikowski? Rachmaninov? Liszt? Brahms?“

Die Meise schüttelte fröhlich ihr winziges Köpfchen und fuhr fort, die Welt mit erquickenden Klang zu streicheln.
Mich durchzuckte ein Gedanke.
„Scooter?“, fragte ich. „Ist das Werk von Scooter?“
Die Blaumeise grinste und flog davon

Begegnungen 56: Regenwurm

Ich lief gerade an der Bushaltestelle vorbei, als ich einen Regenwurm entdeckte. Er hatte sich soeben aus der Erde herausgearbeitet und sah mich nun fragend an.
„Entschuldigen Sie.“, begann er, und seine Stimme klang erstaunlich brummbärig und unregenwurmig. „Können Sie mir sagen, wann es regnet?“

Ich schaute auf meinen Arm. Seit Jahren trug ich keine Armbanduhr mehr, doch die Gewohnheit war geblieben und hatte letztlich dazu geführt, dass ich mir manchmal die Armbehaarung zu Uhrenzeigern modellierte, um mich an die guten alten Zeiten zu erinnern.
Dann schaute ich in den Himmel. Die Sonne schien, und weit und breit weigerten sich die Wolken, die Szenerie zu betreten.

„Donnerstag.“, antwortete ich schulterzuckend.
„Donnerstag?“, brummte der Regenwurm. „Sind Sie sich da sicher?“
Ich nickte. „Donnerstag. Hat Frau Heinze gesagt.“
Frau Heinze war meine Nachbarin, und immer wenn ein Wetterumschwung drohte, juckte ihr linker Zeigefinger.
„Frau Heinze?“, fragte der Regenwurm mit tiefer Stimme.
„Frau Heinze ist meine Nachbarin, und immer wenn ein Wetterumschwung droht, juckt ihr linker Zeigefinger.“, erklärte ich.
„Ach.“, sagte der Regenwurm brummend.
„Außerdem hat sie die merkwürdige Angewohnheit, täglich ihre vierunddreißig Rosenbeete zu gießen. Bei jedem Wetter.“
Der Regenwurm sah mich interessiert an.
„Auch im Winter.“, ergänzte ich.

„Frau Heinze scheint eine sehr sympathische Frau zu sein.“, brummte der Regenwurm nach kurzem Überlegen. „Ich sollte sie mal besuchen.“
Ich nickte. „Das ist eine ausgezeichnete Idee. Aber seien Sie vorsichtig.“
Der Regenwurm blickte mich fragend an.
„Frau Heinze hat Angst vor Bären.“
Der Regenwurm räusperte sich.
„Das sollte kein Problem darstellen.“, piepste er und verschwand in der Erde.