Begegnungen 60: Ratte

Vor meinem Fahrrad saß eine Ratte.
„Guten Morgen, liebe Ratte.“, grüßte ich sie höflich, denn sie sah recht freundlich aus.
Die Ratte schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin keine Ratte.“
„Keine Ratte?“, wunderte ich mich.
Die Ratte schüttelte erneut mit dem Kopf. „Keine Ratte.“ Sie dachte kurz nach. „Zumindest keine ganze.“ Sie grinste.
„Aber was bist du dann?“
Die Ratte schwieg und grinste weiter.
„Eine übergroße Maus?“, fragte ich, und ein dicker Klumpen Zweifel lag in meiner Stimme.
Die Ratte schüttelte mit dem Kopf. Mal wieder.
„Ein Biber, der aussieht wie eine Ratte?“
Kopfschütteln.
„Ein verzaubertes Einhorn?“
Erneutes Kopfschütteln.
„Eine Ratte?“
Die Ratte zögerte kurz, schüttelte dann aber erneut mit dem Kopf.
„Aha.“, rief ich triumphierend aus. „Ratte ist richtig!“
„Fast richtig.“, korrigierte die Ratte.
„Dann bist du … eine Matte? Kaffee Latte? Zuckerwatte? Eine Fregatte? Irgendetwas, das ich hatte?“
Mehrfaches Kopfschütteln. Der Ratte wurde sicherlich langsam schlecht.
„Ich gebe dir einen Tipp.“, sagte sie. „Such, was ich verloren habe.“
Ich lief ein wenig herum, fand aber nichts weiter als einen alten Pfefferminzteebeutel.
„Du hast Tee verloren?“, fragte ich die Ratte unsicher.
Die Ratte grinste.
„Eine Ratte, die ein wenig Tee verlor…“, überlegte ich laut. Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Nur nicht so stark. Eher wie der Stromschlag eines Weidezauns.
„Du bist eine Rate!“, rief ich begeistert aus.
Die Ratte nickte endlich, grinste noch breiter als zuvor, schnappte sich den Teebeutel und eilte davon.
„Hätte ich gleich drauf kommen können.“, sagte ich und schwang mich auf mein Fahrrad.