Die Hobbys der Besessenen

„In Deutschland hat niemand ein Hobby.“, sagt sie. Sofort drängt es mich zum Widerspruch, doch sie redet weiter. „Man kann hier nicht einfach etwas machen, weil es Spaß macht. Nein, man muss es perfekt machen, und jedes Hobby wird sofort zur Obsession.“

Mein Widerspruchswunsch sinkt. Ich denke an die Fahrradfahrer, die mir allmorgendlich begegnen. Junge Männer in hautengen Hosen mit getönter Fahrradbrille und neongelber Warnkleidung auf vierstellig wertigen Fahrrädern. Ihre Füße stecken inergodynamischen Fahrradschuhen, Hals und Haupt werden von eigens dafür hergestellter und optimierter Funktionskleidung bedeckt. Warum man für eine Start-Stop-Parkourfahrt durch den pendelnden Berufsverkehr unbedingt den Luftwiderstand minimieren muss, begreife ich nicht.
Meine eigene Gewandung entspricht der Witterung. Ich will nicht frieren, nicht durchnässt werden und vielleicht sogar einigermaßen dreckfrei bleiben. Und doch bin ich nicht ohne Wahn.

Höre ich ein Lied, möchte ich umgehend wissen, welcher Interpret es darbietet und welche Werke er noch vorzuweisen hat. Tatsächlich hat das Gesamtwerk Einfluss darauf, wie sehr ich den einen Song mag. Früher ging ich sogar so weit, mir zu verweigern, ein Konzert zu besuchen, wenn ich nicht sämtliche Stücke der performierenden Band zu größten Teilen verinnerlicht hatte.
Und nicht nur das: Betrete ich mit dem Favorisieren einer Band eine Stilrichtung, beginne ich, andere Vertreter zu belauschen, meinen Geschmack einzugrenzen, mich in das Thema einzuarbeiten. Vielleicht gibt es noch mehr, denke ich, Gutes suchend – und will in meiner Ein-Lied-Begeisterung sogleich das gesamten Genre absorbieren.

Mein Zeichnenhobby ist relativ obsessionsfrei. Zumindest, wenn man die Materialien betrachtet: Simples Kopierpapier, preiswerte Fineliner, andere Stifte im Mittelpreisbereich. Doch hier geht es bereits los: Die Zahl meiner Bleistifte ist nicht abschätzbar. Außerdem besitze ich verschiedenartige Blaustifte für Vorzeichnungen, Filzstifttypen mit verschiedenen Stärken, Spitzen Farben, Designs. Ich besitze ein Grafiktablett, zwei Scanner und diverse Programme, die allesamt der Bildbearbeitung dienen. Ganz zu schweigen von Pinseln, Farben, Papieren, Radiergummis, Linealen, Spitzern, Stiftmappen, Klebemitteln, Modelliermassen, hölzernen Biegefiguren, Leinwänden – und natürlich überall herumliegenden Ergebnissen meines Schaffens.

Und schweift der Blick weiter, so sieht er einen in mir Menschen, der täglich einen Comic kreiert, der die Welt um den Comic mit zusätzlichen Bildern füllt, der nebenbei noch andere Zeichnungen schafft, der keinen Tag vergehen lassen kann, ohne ein leeres Blatt mit Linien bestückt zu haben.  Dass ich nebenbei nicht nur produziere, sondern auch konsumiere, ächzen längst sämtliche meiner Regale. Und dort finden sich nicht nur Comics; auch textlastigere Literatur sammelt sich in Scharen, denn wenn ich einen Autor mag, sehne ich mich nach all seinem Schreibwerk, und wenn eine Buchreihe mir behagt, so drängt es mich, sämtliche Teile in meinem Besitz zu wissen.
Es fällt schwer, derartige Leidenschaft noch als Hobby zu bezeichnen, als freitzeitfüllendes Nebenbei, das dem eigenen Gemüt zuträglich ist. Und offensichtlich ist es nicht nur Leidenschaft, die das simple Hobby gen Professionalität drängt: Die Notwendigkeit der „richtigen“ Ausrüstung und die Investitionen, die mit ihr einhergehen, verlassen rasch die Sphären milden Interesses und ragen hinein in jene Gebiete, die sonst nur Eingeweihten zugänglich sind.

Vielleicht ist es eine Eigenart der Deutschen, es „richtig“ machen zu wollen, gleich von Anfang an das „richtige“ Material, die „richtigen“ Utensilien zu besorgen. Wenn man schon Zeit und Geld investieren möchte, dann doch bitte in etwas, das beständig ist, das geprüft wurde und zugleich zeigt, dass man es mit seinem neuen Hobby wirklich ernst meint. Zudem fühlt es sich so an, als gebe der hohe aufwandsbedingte Einstiegslevel die Garantie, dass man das Hobby dauerhaft betreiben und nicht nach ein paar Probeläufen in Vergessenheit geraten lassen werde.

Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen der Zeit. Informationen liegen offen auf der Straße herum; sich Insiderwissen anzueignen, ist leicht wie nie zuvor. Nach minutenkurzer Recherche kann man die unsichtbare Grenzen des angenehm klingenden Halbwissens hinter sich lassen und Bereiche zu betreten, die früher jenen vorbehalten waren, die jahrelang Erfahrungen gesammelt und gehütet hatten.

Wo aber Leidenschaft durch Gewohnheit ersetzt wird oder das Interesse nur der Ausübung irgendeiner Tätigkeit und nicht ihr selbst gilt, werden die Pfade angedeuteter Professionalität wieder verlassen. Und wo das Geld fehlt, bleibt das Hobby ein Hobby.

Dann tauchen die Involvierten, die Besessenen, die Experten, auf und schütteln abschätzig mit ihren Häuptern. So macht man das nicht, denken sie. So ist das nicht richtig. Sie greifen sich ihre Ausrüstung und eilen davon.

„Ist es wirklich so schlimm?“, frage ich sie nach einer Weile. Sie lächelt und zeigt auf meine Handschuhe, für deren Preis ich diverse Gebrauchtfahrräder hätte erwerben können.

Der alte Mann

Am Ende der Rampe stand der alte Mann, und wie immer widerte er mich an.

Eigentlich stand er nicht. Er lehnte seinen übergewichtigen Leib gegen das Mauerwerk, das die Abfahrt zum Tunnel begrenzte. Er lehnte sich dagegen, als wäre er zum Stehen kaum imstande. Und vielleicht war es auch so.

Eigentlich war  er auch nicht alt, doch sein ungepflegtes Äußeres, sein fettiges, ungekämmtes, frisurenfernes Haar und seine aufgedunsenen, mit Schuppen übersäten Wangen ließen eine Schätzung unmöglich werden. Er konnte vierzig sein oder auch sechzig.

Er war krank, so viel stand fest. Seine Haut verriet es, seine Augen verrieten es. Und in regelmäßigen Abständen hustete er so tief, dass ich erwartete, schleimigen Auswurf und Lungenteile aus seinem Mund fliegen zu sehen.

Am Ende der Rampe stand der alte Mann, und wie immer widerte er mich an.

Seine Atemgeräusche weckten Ekel in mir, und ich bemühte mich, vorbeizueilen, bevor er erneut husten würde. Außerdem rauchte er. Zigarren. Also ob er seine abstoßende Erscheinung um eine weitere Sinnesebene erweitern wollte, tötete er mit monströsen Glimmstangen auch noch jede atembare Luft in seiner Umgebung.
Was tut er hier?, fragte ich mich wie jeden Morgen, als ich seinem Umfeld zu entkommen versuchte. Worauf wartet er?

Wie immer ignorierte er die Temperaturen und trug einen Anzug. Vielleicht war es stets derselbe, doch sah er nicht schäbig aus. Auch sein weißes Hemd zeigte keine Spur fehlender Pflege – auch wenn es sich mit wenig Eleganz um den unförmigen Leib legte.

Er war krank, so viel war offensichtlich. Sein gesamte Äußeres rief Krankheit, und seine unpassende Kleidung, seine schlechte Angewohnheit, Zigarren zu rauchen, erwiesen ihm sicherlich keinen Dienst. Er sollte nicht hier sein, dachte ich, nicht jeden Morgen am Tunneleingang stehen und auf irgendetwas warten.

Vor zwei Tagen entdeckte ich ihn am Einkaufszentrum. Andere Zeit, anderer Ort, doch sein röchelndes Husten hätte ich überall wiedererkannt. Er saß auf einer Bank, trug seinen Anzug und sein Hemd und hustete. Alles in mir drängte mich fort von ihm, doch eine Mischung von Neugierde und Mitleid ließ mich ein paar Schritte in seine Richtung laufen. Wer war dieser Mann?

Ich wusste nicht, ob ich mit ihm reden würde, ob ich es ertragen könnte, in seiner Nähe zu verweilen, doch war bereit, es zu versuchen. Ich ging auf ihn zu, zögerte, ging weiter. Dann zündete er sich eine Zigarre an. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der braune Kolben betriebsbereit war, doch dann dauerte es nur Sekunden, bis mich der Gestank einhüllte. Und, als wäre es ein untrennbarer Zwilling, begann der alte Mann zu husten.

Angewidert verzog ich den Mund und wandte mich ab.

Zwischenzeit

Wäre Kälte imstande zu klirren, hätte sie Gelegenheit gehabt. Die Luft war klar, als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, und lächelnd sog ich sie ein. Eisig umwehte mich lauer Wind, und dankbar gedachte ich der stoffenen Schichten, die meinen Körper der Jahreszeit entzogen. Natürlich waren weder meine lange Unterhose noch die Mütze unter dem Helm dazu geeignet, stilbewusste Damen in begeistert Ohnmacht fallen zu lassen, doch verweigerten sie den zweistelligen Minusgraden strikt und kompromisslos jeglichen Zugang zu mir.
Ich schwang mich auf das Rad.
Der Boden war von Kristallglanz überzogen, und ein hauchdünner Film aus Schnee begann soeben sein Wachstum. Im Himmel schwebten die Flocken und versuchten, kalte Wintersgrüße in mein Antlitz zu küssen. Viel Platz blieb ihnen nicht, bot ich doch der morgendlichen Eisesluft nur wenig rosig warme Haut feil.
Mein Lächeln blieb, als ich in die Pedalen trat und Geschwindigkeit fand, als ich mich freigeschaufelte Wegesrinnen und reibungsfreie Kurven zu vorsichtigsten Manövern zwangen, als ich die umhüllende Kälte mit ganzem Köper erfuhr, sie teilte, durchsägte, ohne von ihr berührt, gefangen, zu werden.
Ich liebe den Winter!, dachte ich und fuhr, als gäbe es nichts, das mich aufhalten könnte.

Die Temperaturen wanderten bergab, und erste Vögel versuchten sich an Tönen. Plötzlich waren die Wege voller, und meine sorgsam gewählte Kluft sehnte sich Stück für Stück danach, meinen Körper wieder freizugeben. Aus zwei stofflichen Schichten unter dem schützenden Helm wurde eine, und selbst diese träumt in raren Momenten, wenn die Sonne sich ihren Pfad durch Grauwolken bahnte, davon, mein Haupt zu verlassen, meine Ohren dem Fahrtwind darzubieten.
Menschen wagten in das Außen, zuweilen selber Rad fahrend, Schale diätierten zur Tüchern, und Handschuhe krochen zurück in ihre Sommerhöhlen in den Tiefen der Schränke. Der Boden weichte auf, und meine Blicke suchten an den Ästen erstes Grün. Ich fand nichts.
Die Null war gerade überquert, die Freude zu früh, der Kalender stand noch immer auf Winter. Ich fuhr Rad, und der Wind hatte seine eisigen Lieder noch nicht vergessen.
Ich liebe den Winter!, dachte ich, und brauste durch das schläfrige Land, das langsam dem Erwachen entgegenschmolz. Zwei, drei Flocken wagten noch, das kühle Oben zu verlassen, setzten sich auf meine Nase, doch blieben nicht lange.
Meine Stiefel ließen die Pedalen rotieren, und die Räder stoben Streugut empor. Ich radelte an wollenen Mützen vorbei und wusste, dass niemand dem Winter traute. Er ist ein schelmischer Gesell, dachte ich, und freute mich auf den Morgen, an dem er vor meiner Türe warten würde, grinsend, Händchen haltend mit Frost und Eis.
Ich fuhr, und ließ mich von den verbleibendes Resten des Winters umarmen.

Dann sah ich die Krokusse. Am Wegesrand wuchsen sie, nicht vereinzelt, sondern in Scharen, gleißend bunt im allgegenwärtigen Grau, blumige Jauchzer, die mich innehalten ließen.
Ich liebe den Frühling!, dachte ich und lächelte.

zwischen wörtern

und dann sehe ich mich zwischen wörtern stehen, deren teil zu werden ich bereits vor minuten aufgab, lasse sie mich umfließen, umweben, und versuche, in geeigneten augenblicken angemessen zu reagieren, ein lächeln, einen laut, ein nicken zwischen die wörter zu werfen, auf dass sich ein teil meines daseins harmonisch in die schwallende umgebung einfüge. ich sehe mich stehen, und weder worthülsen noch inhaltsschwere monumentaldiskussionen vermögen, mich zu erreichen, mich dem gefühl der befremdung zu berauben, das mich bereits im ersten moment befiel, als ich den raum betrat, als ich ihre gesichter erblickte und ihre münder silben formen sah. klänge werden silben werden wörter werden sätze, versenken mich in starre und die bemühung, glied zu werden in dieser kette aus argumenten, schwächstes glied wohl, der punkt, an dem alles reden platzen wird, doch immerhin bestandteil dessen, was die luft schwingen lässt. es misslingt, doch wieder und wieder entreiße ich mich gewaltsam meiner passivität, lasse meine lippen schmunzelnd wörter aus dem äther klauben und in neuem gewand zurücksenden, auf dass reaktionen, blicke und antworten, mir zuteil werden mögen. und manchmal gelingt es: die köpfe drehen sich und an den enden gesprochener zeilen ranken zahlreiche, mir geschenkte fragezeichen. meine antwort jedoch, vielleicht in unnötiger kürze formuliert, weckt ihrerseits kein antworten, und ich lege nach, einen weiteren buchstabenscheit auf das längst nur noch glimmende feuer gemeinsamer erörterung. dann dringen meine eigenen laute an meine eigenen ohren, und das bewusstsein, gerade parallel zum eigenen denken geredet zu haben, erreicht mich, lässt mich an klang verlieren und von gedeihender stille überwuchern. also schweige ich, lausche erneut, gebe fingern und augen beschäftigung und versuche, den akzeptierbaren anschein zu erwecken, mich gedanklich soeben mit interessantestem auseinandergesetzt zu haben. doch noch immer verweilen meine ohren hier, ragen in die wortgebilde und reichen sie mir weiter. ‚ich bin nicht hier.‘, denke ich dann und frage mich, ob ich es jemals war.

Ein letzter Gruß

Die Schritte raspeln sich über grauen Winterkies, verlassen die starre Pfade und bohren Erinnerungen in weicher werdendes Erdwerk. Mein Blick klebt am Boden, von Gedanken beschwert, schweift, sucht einen ersten Gruß des Frühlings. Dunkelmäntel öffnen sich, als durch entlaubte Astarme ein Sonnenstrahl kitzelt und die Winkel meines Mundes in die Höhe lockt.

Als bewegte ich mich rückwärts, klettern matte Auspuffwolken aus meinem Gesicht, malen einen Weg nach vorn. Ich folge ihnen, keiner Richtung gewahr, lausche den sanften Liedern meiner Sohlen. Eine Amsel singt Frühling in die Wolken, und ich blicke auf aus meinen Gedanken, krieche aus meinem Kopf und suche den gefiederten Boten. Meine Blicke tanzen durch das Grau, folgen einem fernen Schatten und kehren zurück, als eine winzige Flocke vom Himmel niederschwebt, gleitet, und in wenigen Momenten Hundert ihrer Brüder in den Äther zaubert.

Die Amsel schweigt, und der Marsch der Reißverschlüsse beginnt. Kragen wachsen empor, Schmunzelmünder werden für spätere Zeiten verwahrt. Ich halte inne, lasse weiße Küsse mich verzieren und mir wirre Muster auf die Kleidung malen. Ein Wind zieht auf, flüstert scharf von Norden, und die letzten Mäntel fliehen ins Warm.

Ein Schal zieht vorbei, in dessen Inneren sich ein Gesicht versteckt. ‚Vielleicht lächelt es.‘, denke ich und sinne ihm nach.

atme

atme! alles, was zählt. atme!

mit tiefen lungenstößen kämpfe ich mich aus der flut, reiße mich aus dem schwarzen wirbel, der meinen kopf verschlingt. atme!, denke ich, und ich atme, pumpe sauerstoff durch meinen körper, kalte winterklarheit, die mich meinen aufbegehrenden gedanken verweigert, jene keime töten, die finster lodernd in meinem geist erblühten. atme!, denke ich, und ich atme, höre meine zähne jede erinnerung zerknirschen, zerquetsche sie in geballten fäusten. atme!

dann nehme ich wieder wahr, sehe die menschen, die mich umgeben, fliehe ihre fragenden blicke, bekleide mich mit normalität. die wangenknochen kehren zurück in ihren hautigen käfig, meine finger werfen ihre krämpfe fort, lösen sich voneinander. mein blick entzieht sich dem innen.

und doch: unter dem leder meiner schuhe wölben sich die zehen, birgen in angespannter bewegung ein knirschen, ein quetschen, tilgen jede spür düsterster gedanken, die mich soeben noch umwoben hatte.

und noch immer atme ich, raube luft aus dem äther und presse sie in meinen körper, stoße sie aus, als könnte sie mich mitnehmen, jedes ich aus mir zerren und im außen zerstreuen, auf wegen und straßen, irgendwo zwischen wolken und löschendem regen.

atme!, denke ich noch schwach, stehe neben mir und sehe mich matt pulsieren, mich in mich selbst zurückfinden, einen ersten schritt wagen, die mundwinkel vorsichtig heben.

atme., nicke ich und gehe meiner wege.

Im Tunnel

Der Tunnel ist ein guter Ort, um Abneigungen zu entwickeln. Insbesondere gegen Menschen.

Da ist der unvermeidliche Akkordeonspieler, der genau um die industriegebietigen Stoßzeiten weiß und sich nicht nur zur Arbeitsbeginn- und -endzeit in der Mitte des Tunnel positioniert, sondern zuweilen auch die mengenstarke Tunnelbevölkerung während der Mittagspausen ausnutzt, um ein paar Münzen zu erspielen. Ich mag weder sein Instrument noch bin ich willens, mich morgens um 7 auf russische Volkslieder oder beschwingten Tango einzulassen. Ich ertrage ihn, und einzig der Umstand, dass in seiner unmittelbaren Nähe zumeist viel Freiraum gelassen wird, spricht für ihn. Denn dort öffnet sich plötzlich inmitten von Menschenfluten eine Lücke, die mir raschere Hindurchschlängelei ermöglicht.

Dann sind da noch die Raucher, die elenden Wesen, die mir zugleich Mitleid und Verachtung entlocken. Der Bahnhof ist als rauchfrei gekennzeichnet, doch sobald man ein paar Stufen in Tunnelrichtung geht, sind die ersten Zigaretten entzündet, und die Luft verdient nicht länger die Bezeichnung. Wo innerhalb von Sekunden Hunderte Menschen passierten, reicht ein einziger, um allen das Atmen zu erschweren.

Doch es bleibt nie bei einem einzigen, und dass ich am frühen Morgen anscheinend besondere Sehnsucht nach klarem, unbesudeltem Äther verspüre, interessiert niemanden. Die wenigen Meter bis zum Tunnelende sind zuviel für sich sehnende Gelbfinger, nicht zuletzt, weil dort bereits der Bus wartet, der die zur Arbeit Eilenden ein Stück näher an ihr Tageswerk führen soll. Mir bleibt nur, die Luft anzuhalten und mich so schnell wie möglich vor den Glimmstängelhalter zu schieben.

Dann gibt es noch die Fußgänger. Ich selbst verweile auf dem Fahrradsattel, passe meine Geschwindigkeit den mich Umgebenden an, suche hin und wieder eine Lücke, um voranzupreschen, doch bewahre permanent Ruhe und Rücksicht. Der Aufgang zur U-Bahn ist rechts, also halte ich mich links. Dann kommen zwei Aufgänge zur S-Bahn, und ich ordne mich nach rechts ein, versuche, den wilden Menschenstrom nicht zu kreuzen.

Ich drängle nicht, klingle nicht, gliedere mich ein, fahre so vorausschauend wie möglich, um niemandem ein Hindernis zu sein, um keinen Unmut zu wecken. Doch Fußgänger sind anders. Im letzten Augenblick durchqueren sie den Tunnel in seiner gesamten Breite, um auf die andere Seite zu gelangen, kreuzen meinen sorgsam gewählten Pfad. Sie ordnen sich nicht ein, denken nicht voraus. Menschen, die sich für schneller halten, drängen sich vor mein Rad und beginnen dann schneckenartig durch die Unterführung zu gleiten. Scheinbar grundlos wird plötzlich innegehalten, egal ob irgendwer dahinter läuft oder fährt.

Und dann die Kinder. Wo Menschenmassen sich tummeln, sind Kinder nicht fern. Und Kinder gehen nicht. Sie stehen oder rennen, sehen sich und ihre Freunde, doch niemals Passanten, niemals Fahrräder. Der Bogen, den ich um sie mache, reicht nie aus, und ich danke oft genug meinen Bremsen für ihre Funktionstüchtigkeit.

Außerdem danke ich den Hunden, die anscheinend an S- und U-Bahnhofen nur in geringer Anzahl vertreten sind und mit angenehmer Abwesenheit das Chaos reduzieren. Und trotzdem: Sobald die eine oder andere Bahn eintrifft, ist der Tunnel vollgestopft mit Leben, das in Maximalgeschwindigkeit zum präferierten Ende zu eilen sucht.

Und mittendrin: Ich. Auf einem Fahrrad. Schrittgeschwindigkeit fahrend. Jede Bewegung, jeden Richtungswechsel, jede Beschleunigung mehrfach überdenkend. Das Umfeld analysierend. Optimale Pfade ermittelnd. Und zuweilen schmunzelnd ob der Unermüdlichkeit meiner Geduld.

Und dann gibt es noch ihn. Er schiebt sein Fahrrad, als ich ihm begegne. Wahrscheinlich hat er gerade die S-Bahn verlassen, hat sich eingereiht in die Masse, um sich bei erster Gelegenheit auf sein Rennrad zu schwingen und ihr zu entfliehen. Eine neongelbe Warnweste bedeckt seinen Oberkörper, und irgendwie schafft er es, dass sie an ihm gut aussieht. Er ist hoch gewachsen, thront einen Kopf über den Massen. Und als wäre das nicht genug, wuchert ihm ein dunkler, langer Bart vom Kinn hinab.

Er wirkt ein wenig bedrohlich, so groß, mit dunklen Augenbrauen und dreadlockigem Haar. Ich mag ihn sofort. Inmitten des Tunnels, der vollgestopft ist mit Dingen und Wesen, die meine Abneigung erregen, entdecke ich ihn und fühle Sympathie.

Vielleicht schaue ich zu lange, vielleicht glaubt er auch, mich zu erkennen. Vielleicht bin ich ihm aber auch einfach nur sympathisch. Er grüßt mich. Lächelt und grüßt mich. Verdutzt grüße ich zurück.

Tage später begegne ich ihm erneut. Er grüßt erneut, ich grüße zurück, fahre durch den Tunnel.

Und eine weitere Begegnung. Diesmal grüße ich. Spätestens jetzt ist es egal, ob wir uns vorher kannten und ob wir uns jemals kennen werden. Fast automatisch reihe ich mich in den Menschenstrom ein, schaue, beobachte, reagiere. Und selbst als ich im letzten Augenblick zwei achtlos rennenden Kindern ausweiche, lächle ich noch immer.

Morgenwurm 54: Hyper

Der Tag begann zu spät. Eine Stunde lang war es mir gelungen, die freundlichen Hinweistöne des Weckers zu ignorieren und mit mir ins Traumreich zu nehmen. Doch dann rief mich der Morgen, riss mich aus der weichen Umklammerung der Nacht. Gemächlich stand ich auf. ‚Zu spät!‘, zischte es mir durch die Gedanken, doch zuckte nur mit den Schultern. Es spielte keine Rolle.

In meinen Gedanken nistete noch immer das Wochenende, gebar ein Schmunzeln in meinem Gesicht. Und von irgendwo fand mich auch ein Ohrwurm, begann mit mir den Tag und ließ ihn später mit mir ausklingen.


Muse – „Hyper Music“

Och nö! Nicht noch ein Buch!

Weil es mit meinem Buch „Donnerstag – Ein Zahnbürstenroman“ so gut klappte, habe ich das getan, was ich längst tun wollte: Ich sammelte sämtliche 66 Geschichten der Rubrik „Begegnungen“ und stopfte sie in ein einziges Werk. Und dieses ist ab sofort für nahezu lächerliche 3,96 Euro auf amazon als Ebook kaufbar.

„Begegnungen – 66 skurrile Geschichten

Begegnungen - 66 skurrile Geschichten

Wie wäre es, wenn man eines Tages durch einen Park ginge und einem weinenden Nilpferd begegnete? Oder einem Pinguin direkt vor der Haustür? Oder gar einem alten Damenrad?

Die „Begegnungen“ widmen sich genau diesen dramatischen Fragen.
In 66 kürzeren und längeren Geschichten begegnen Leser und Protagonist alltäglichen und ungewöhnlichen Wesen, führen absurde Gespräche und sinnvolle Nichtgespräche – und verabschieden sich schließlich mit einem Schmunzeln und dem Gefühl, dass gerade etwas wunderschön Albernes geschah.


Es sei übrigens erwähnt, dass ich von den Verkäufen der Ebooks tatsächlich etwa 70% des Preises erhalte. Und dass Ebooks nichts Dramatisches sind. Die amazonigen Ebooks können allesamt mittels der Kindle-App gelesen werden. Und diese nette App ist nicht nur Bestandteil der Kindle-Ebook-Reader, sondern auch für iPads und andere [zum beispiel androidige] Tablet-Geräte, für iPhones und andere [zum Beispiel androidige] Smartphones und auch für PC und Mac hier kostenlos herunterladbar.

Der Kehrling

Ich blickte nach draußen. Mein Atem ließ die Scheibe beschlagen, und unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte keinen Augenblick verpassen.

Und ich musste leise sein, lautlos, bewegungslos, durfte mich nicht zeigen, ihn nicht verscheuchen, nicht jetzt, nicht nachdem es mir endlich gelungen war, ihm zu begegnen, ihn zu sichten.

Ich schmunzelte. Niemand würde mir glauben. Als würde ich versuchen, sie von der Existenz des Yetis zu überzeugen, würden meine Freunde später über meinen Bericht lachen und mit den Köpfen schütteln. Doch ich würde mich erinnern, würde wissen – und dieses Wissen war mir nicht zu nehmen.

Natürlich: Sähe ich ihn nicht dort draußen seiner Wege ziehen, Meter für Meter hinter sich bringen, sich durch den nächtlichen Schnee wühlen, so glaubte ich vermutlich selber nicht daran, dass es ihn gab. Doch es gab ihn. Hier und jetzt.

Ich wohnte gerade anderthalb Wochen in Stuttgart, da hörte ich erstmals von ihm. Flüsternde Stimmen sprachen vom Kehrling, vom Kehrle, gar vom Wochenkehrlsche, von jener Kreatur, die nachts, wenn alle schliefen, heimlich und ungesehen Stuttgarts Fußwege reinigte. Und nicht nur das: Sorgte man sich inmitten tiefsten Winters beim morgendlichen Aufstehen über zugeschneite Pfade, so konnte man sich sicher sein, dass er bereits da gewesen war, dass er mit hochwertigstem Werkzeug Furchen in das bedrohliche Weiß gezogen und somit den Tag gerettet hatte.

Die Eingeweihten versuchten zu verschleiern, so gut es ging. „Kehrwoche“ nannten sie das Ritual, das sie angeblich dazu verpflichtete, die Bereiche vor ihren Häusern und Wohnungen frei von Sudel zu halten. Doch mich konnte man nicht täuschen: Den Kehrling gab es wirklich.

Wie sonst ließ es sich erklären, dass die Straßen so rein, so frei von Unrat und Baumprodukten waren? Wie konnte es sein, dass bereits am frühesten Wintermorgen der Schnee keine Chance mehr hatte, auf den Wegen heimisch zu werden, wo doch niemand, wirklich niemand, die Anstrengungen auf sich nehmen würde, mitten in der Nacht nicht nur körperlich schwer, sondern auch noch lautlos zu arbeiten? Wie konnte es sein, dass Schnee, wenn er tagsüber fiel, nur selten entfernt wurde, doch über Nacht plötzlich begann, die Wege zu meiden? Wie konnte das sein?

Den Kehrling gab es, nun war es sicher. Denn dort draußen lief er, arbeitete er, im schwachen Licht der Laternen nur als Silhouette erkennbar – und doch ganz zweiffellos der Kehrling. Lautlos beseitigte er den wenigen Schnee, der die Frechheit besessen hatte, über Nacht die heiligen Pfade zu befallen, und ich bewunderte sowohl seine Präzision als auch seine Stille. Jeder normale Nachbar hätte alle Schlafenden ihren Träumen entrissen, hätte Beschwerden über den unnötigen Fünf-Uhr-Krach ertragen müssen – doch der Kehrling gab keinen Laut von sich, tat sein Werk, als gäbe es nur dieses.

Ich drehte mich zu meinem Bett um. Eine Stunde blieb mir noch, bis der Wecker Unmengen von Krach um sich werfen würde. Vielleicht sollte ich mich noch einmal hinlegen.

Als ich wieder aus dem Fenster blickte, war der Kehrling verschwunden. Als hätte ihn der frisch beseitigte Schnee plötzlich verschlungen. Nur der Fußweg erinnerte noch an ihn, glimmte rein und unbesudelt im matten Licht des Mondes.

„Bis bald.“, hauchte ich an die Scheibe und ging wieder schlafen.