Acht Jahre

„Fünfundfünfzig.“, sagst du, und ich starre den Hörer an, als gehörte er zu einer fremden Welt. Weitere Worte dringen durch die Leitung an mein Ohr, doch ich klebe noch immer an der Zahl, verweile bei ihr, unfähig, mein Denken von ihr zu lösen.

Fünfundfünfzig. 55 Jahre wäre er heute alt geworden. Eine Zahl, die fast schön zu nennen wäre, beherbergte sie nicht eine traurige Erkenntnis: Acht Jahre ist es nun her, dass er verstarb. Acht Jahre.

„Wie die Zeit vergeht.“, liegt mir auf der Zunge, doch ich schweige, lasse dich reden, während mein Kopf in Erinnerungen ertrinkt. Sein Grabstein kommt mir in den Sinn, der Friedhof, den als letzte Ruhestätte zu akzeptieren ich nie gelernt hatte, nur ein winziger Garten, angefüllt mit Ruhe, mit Einkehr und Gedächtnis.

Ich erinnere mich an die Nachricht, an den Abend auf Kreta, den ich auf dem schmalen Balkon meines Hotelzimmers ausklingen ließ, daran, wie der Hotelbesitzer von der Straße nach mir rief, wie ich den Hörer des Rezeptionstelefons an mein Ohr presste und die Stimme meines Bruders vernahm. Das kann nichts Gutes bedeuten, wusste ich sofort.

So viele Vergangenheiten stürzen auf mich ein, während du am anderen Ende des Gesprächs bereits das Thema wechselst, während du durch die Gegenwart wanderst und versuchst, nicht allzu viel Innen nach außen dringen zu lassen. Ich höre zu, kommentiere gar, und bin doch fort, erinnere mich an ihn, halte die Tränen in meinen Augen gefangen.

Fluten von Bildern stürzen auf mich hernieder, und ich weiche denen aus, die noch immer schmerzen, noch immer, nach acht langen Jahren. Vorsichtig greife ich nach den anderen, jenen, die gefahrlos sind, jenen, denen ich traue. Ein Schnauzbart, Salmiakpastillen, Simon&Garfunkel. Wieder kommt mir das letzte Schachspiel mit ihm in den Sinn, und ich weiß nicht, ob ich mich wirklich erinnere oder nur wiederhole, was ich einst irgendwo niederschrieb.

Wie viel ging wohl verloren, wundere ich mich, während unser Telefonat in abschließende Grußformeln mündet und schließlich verebbt. Wie viel von ihm weiß ich wohl noch?

Ich weiß, dass ich ihn stolz zu machen versuche, dass ich zuweilen einen Schritt zurücktrete, mich beschaue und frage, ob ihm dies gefallen hätte. Dann sehe ich uns, unsere winzige Familie, und bin erleichtert, nicken zu können. Es hätte ihm gefallen, weiß ich und sehne mich danach, glücklich seinen viel zu dürren Leib zu umarmen, als wäre ich noch immer das Kind, das ich einst war.

Ich weiß, dass ich mich beobachte, mich bemühe, seine Fehler zu vermeiden, dass ich bei jedem Schritt prüfe, ob ich nicht versehentlich in seinen Fußstapfen laufe, dieselbe Route begehe. Es besteht keine Gefahr, sage ich mir in Vernunftmomenten. Ich verstehe ihn, kann ihn begreifen, stelle ich fest, wenn trübe Wogen über mir zusammenbrechen und ich nur noch Flucht zu erhoffen vermag.

„Du siehst ihm ähnlich.“, meinte vor wenigen Tagen irgendwer, und ich nickte nur. Kann sein, dachte ich, kann nicht sein. Ob es gut sei, wollte ich von mir wissen, doch wusste keine Antwort. Vielleicht. Ich bin nicht er. Will es nicht sein. Und freue mich dennoch über den Vergleich.

Die Erinnerungen sind nun tiefer, älter, rühren von Fotos, von Geschichten, nicht aus meinem Kopf. Ich sehe ihn lächeln, uns betrachten und lächeln, sehe ihn Abkürzungen bei Wanderungen finden, stolz Tomatensalat zubereiten, sehe ihn einen Adlerdrachen mit uns steigen lassen.

Ich stürze hinab, und wieder und wieder schiebe ich beiseite, was auf das Kommende deutet, will mich nur an Gutes, an Schönes, erinnern, doch kann nicht länger. Zu viele Zeichen, Bilder, Wörter. Geht weg, denke ich viel zu laut, geht weg!

Ich atme ein. Halte inne. Kehre zurück.

Acht Jahre sind vergangen, begreife ich und sehe mich meiner Wege ziehen, sehe mich Städte wechseln, Menschen lieben, Träumen hinterhereilen und immer weiter voranschreiten, sehe mich, wie ich ihn zurücklasse, dort, unter einem bedeutungslosen Grabstein, wie ich ihn in mir trage, jederzeit, als befürchtete ich, ihn endgültig zu verlieren.

Als die Tränen aus mir herausbrechen, weiß ich nicht länger, wem sie gelten. Ihm, dir, gar mir selbst? Uns allen, entscheide ich, und die Welt verschwimmt vor meinen Augen.