Perspektive

Und dann sah ich dich.

Nicht dich, natürlich. Dafür war es das falsche Jetzt, das falsche Hier. Das falsche Du.
Du warst nicht du, warst eine um Jahrzehnte gealterte Version deiner selbst, warst das Du, das mir in zwanzig, dreißig Jahren gegenübergestanden hätte, hätte es unser Wir noch immer gegeben. Doch unser Wir gab es nicht, selbst Dich gab es nicht, nur eine Frau auf der Straße, eine Frau, die deine Zukunft auf ihrem Antlitz trug.

Gut sahst du aus, noch immer schön, begehrenswert. Ich hatte es nicht anders vermutet, hatte es zu keinem Zeitpunkt bezweifelt. Die Jahre würden dich schmücken, hatte ich einst gesagt, und sollte Recht behalten.
Ich betrachtete die fremde Frau, starrte sie an, wie ich dich angestarrt hatte, einst, in irgendeinem Damals. Die Jahre hatten sich in dein Gesicht gegraben, hatten deine Formen geschliffen und Spuren hinterlassen, hatten Tribute gefordert, die nur mit dem Leben zu bezahlen waren. Doch deine Haare wehten im Wind, dein Blick war gerade, und irgendwo hinter dem Lippenstift schlummerte gewiss auch ein scheues Lächeln. Eines, das mich in den Bann ziehen könnte. Eines, das dir gehörte und ewig dir gehören würde.

Du blicktest mich nicht an. Vielleicht hatte dein älteres Ich mich längst unter Bergen von Erinnerungen begraben, hatte mich längst der Bedeutungslosigkeit zugeschrieben. Vielleicht hatte die Zeit dir neue Aufgaben geschenkt, Tore geöffnet, dich, dein älteres Ich, einem besseren Heute zugeführt. Vielleicht.
Doch es sah nicht so aus. Du sahst nicht so aus. Das Lächeln hinter deinen Lippen verbarg sich zu tief. Deine Bewegungen waren zu hart, deine Schritte zu fest.

Ich starrte dich an, sah dich, ohne wirklich dich zu sehen, spürte die Jahrzehnte, die sich auf dein Dasein gelegt hatten, und schüttelte den Kopf.

Die Ewigkeit, die einst zwischen uns geschlummert hatte, war längst zu grauem Staub zerborsten, hatte sich in alle Winde verstreut, hatte Augen verschleiert und Tränen gelockt, hatte die Welt entzaubert und sich schließlich auf unbeschrittene Wege gelegt. Kein Wir ließ mich noch Begleiter sein, ließ mich an deiner Seite verweilen, während die Jahre sich unserer bemächtigten. Unsere Blicke hatten vergessen, einander zu finden, und wenn irgendwann die Jahrzehnte auf unseren Häuptern rasten werden, wird keiner des anderen Zeuge sein.

Ich atmete auf. Ich wollte die fremde Frau nicht kennen, wollte nicht meine Hände in ihre graben, wollte nicht ihr Dasein auf meiner Zunge schmecken. Der Pfad, den du begangen hattest, war längst nicht mehr der meine.

Die Frau, die du sein würdest, ging davon. Ihre Schritte befüllten den Asphalt mit Geräuschen der Anwesenheit, zerrten Köpfe in ihre Richtung.

Ich sah ihr nicht nach.