Männertag

Ich sitze im Zug, irgendwo durch südliches Deutschland brausend. Einen nächsten Zug wird es geben und morgen einen übernächsten. Das Baldige harrt geduldig meines Eintreffens, freut sich bereits jetzt, mich willkommen heißen zu dürfen.

Draußen gleitet Landschaft vorbei. Das kann sie gut, denke ich, doch jedes Mal, wenn ich das Telefon zu Fotografierzwecken zücke, rammen sich Häuser und Straßen ins Bild. Menschen!, denke ich dann und entziehe der noch immer vorbeigleitenden Landschaft meinen Blick.

Männertag ist heute, denke ich. Eigentlich Christi Himmelfahrt, doch mein Interesse an Christus und seinen postmortalen Exkursionen war noch nie sehr ausgeprägt gewesen. Ich versuche, möglichst männlich auf meinem Kaugummi herumzukauen, der jedoch nur die Nachwirkungen meines mittäglichen, bahnhofigen Halloumi-Yufkas mildern soll.

Eine tolle Art, Männertag zu feiern, denke ich, sechs Stunden lang bei schönstem Wetter im Zug sitzend. Für mich ist ja weniger Männer- als vielmehr Vatertag. Das klingt weniger nach marodierenden Horden angetrunkener Testosteronklöpse, sondern fast nach Ehrbarem und Ehrenswertem. Allerdings sah ich heute noch keine Horden, und das Gedenken an meinen Vater entspricht derzeit auch nicht meiner Stimmung. Denn selbige ist gut, heiter fast, und in Vergangenheiten zu wühlen, würde ihr nicht behagen.

Also wühle ich nicht, sondern füge einen kleinen Bahnhof zur vorbeigleitenden Welt hinzu, betrachte rapsiges Gelb und stelle fest, dass es schlechtere Wege gibt, den Männertag zu feiern, als mit Zufriedenheit und Halloumi-Yufka gefüllt in einem Zug zu sitzen und durch sonnige Landschaften zu brausen.

Morgenwurm 58: Traurig

‚Das ist einer dieser Tage.‘ denke ich und verkrieche mich tiefer unter der Decke. Sie ist weich und warm und in diesem Augenblick mein Universum.
‚Ich bin traurig.‘, wird mir plötzlich bewusst, denn auf meiner Brust liegt ein schwerer Kloß aus… Ja, woraus denn bloß. Wenn es Sehnsucht ist, dann ist sie unbestimmt, namen- und gesichtslos. Wenn es Erinnerung ist, so fehlt das Bild in meinem Kopf, das mich zu Tränen rührt oder tiefstes Seufzen erwirkt.
‚Vielleicht ist es das Lied.‘, überlege ich, denn in meinem Ohr klingt fragil das Fragment eines Songs herum, tänzelnd träge durch eine Schleife, wieder und wieder.

„And she walks like you
And she smiles almost like you
A child of the wild just like you“

Wie das Lied mich fand, weiß ich nicht. Es ist Tage her, seitdem ich es zuletzt vernahm, und auch wenn der Text mich berührt, so wurde er doch nicht aus meinem Dasein geschnitten.
‚Vielleicht ist es doch Sehnsucht.‘, denke ich und stehe auf, leise zu meinem Ohrwurm singend.


Pain Of Salvation – „Sisters“

Mauer

Zwei Taschen drängten sich mühsam durch den engen Gang des Großraumabteils, gefolgt von einer großen, gewichtigen Frau, die zwei weitere Taschen an den Sitzen vorbei bugsierte und dabei ihren Atem intensivierte. Dann setzte sich, drapierte ihre umfangreiches Gepäck auf den Sitz neben ihr und auf dem Boden, baute eine Taschenmauer zum Rest des Zuges, ein Minitaturabteil, zu dem nur der Zugbegleiter Zutritt haben würde.

Das Abteil war leer. Die Verspätung des Zuges hatte potentielle Mitfahrer verscheucht und eine Handvoll Leute zurückgelassen, die sich mit möglichst großen Abständen zueinander platziert hatten, keine Mühe darauf verschwendend, Koffer und Taschen an den dafür vorgesehenen Orten zu verstauen.

Die Frau war südlicheren Ursprungs, so viel verrieten ihre bronzene Haut und ihr dunkles Haar. Doch wo sich dieses Süden befand, konnte ich nur raten. Ihre Kleidung gab nur wenig kund, zeugte jedoch vom Geschmack einer Frau,der es gelungen war, ihren durchaus massigen Leib mittels vorteilhafter Gewandung zum Blickfang werden zu lassen. Einzig ihr Schuhwerk, leichte Joggingtreter, deren strahlendes Weiß entweder von intensiver Pflege oder geringer Nutzung zeugten, stachen misstönend aus dem Gesamtkonzept ihres Äußeren hervor.
Dann begann sie zu schluchzen.

Hinter dem Wall unterschiedlich farbiger Taschen saß die große Frau und weinte. Der Zug fuhr seines Weges, und seine derzeitigen Bewohner behausten ihre eigenen Welten. Niemand kümmerte sich um die tränenverhüllten Geräusche, die ungedämpft durch das Abteil wallten. Kein Kopf drehte sich, niemand stand auf und fragte.

Die Frau kramte in ihren Taschen, zauberte einen Geldschein hervor. Dann ein Taschentuch, mit dem sie ihr Gesicht der Feuchte beraubte. Dann noch zwei zusammengefaltete Scheine – und schließlich eine kleine Geldbörse, in die sie ihr finanzielles Gut stopfte.

Hinter ihrer Mauer weinte sie noch ein paar Minuten lang, führte immer wieder das Taschentuch zu den Augen und verstummte schließlich. Der Zug fuhr unbeeindruckt weiter, trug eine Handvoll Schweigender ihren fernen Zielen entgegen.

Im Park

Der Park war voller Menschen. Sonnenschein hatte ihnen Kleidung geraubt und die zahlreichen Frühlingsblüten malten ihnen freundliche Gesichter. Ich brauste hindurch, durch Blättergrün und Blumenbunt, durch Vogelzwitschern und Menschgewusel, ließ mich von meinem Fahrrad nach Hause tragen.

Dann sah ich die Frau. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Körper schief, als zerrte der Beutel in ihrer rechten Hand sie unweigerlich in Richtung Erdboden. Sie ging langsam, humpelte, als wäre ihr Bein eine ungeheure Belastung. Rasch kam ich näher und erkannte nun den Schmerz, der ihre Miene ins Groteske verzerrte. Keinen Laut gab sie von sich, doch hatten Tränen bereits glitzernde Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.

Sie hielt inne, sah sich um, lief dann nach rechts, wo eine freie Parkbank auf sie wartete, als wäre sie ein Gral.

Menschen liefen durch den Park, trugen lächelnde Münder herum, und niemand schien die hinkende, leidvolle Frau zu bemerken, die sich nun auf die Bank fallen ließ.

Ich bremste, stiegt ab, ließ mein Rad zurück und ging zu ihr hin.
„Entschuldigung.“, sagte ich und staunte über die Vorsicht, die in meiner Stimme lag. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Die Frau schüttelte den Kopf, kaum bemerkbar. Ihr Schmerz war fühlbar, hing dornengleich in der Luft. Zu lange stand ich noch da, reglos, hilflos, nicht wissend, wie ich der Frau helfen, ihr das Leid nehmen könnte.

Dann ging ich zum Fahrrad zurück und stieg auf. Blüten und Lachen füllten den Park, doch ich vernahm nur noch ein Schluchzen.