Ein Märchen

Es war einmal ein großer und ziemlich dicker Ritter. Schweren Schrittes und heftig keuchend stapfte er durch den finsteren Wald auf der Suche nach dem bösen Drachen, der die Prinzessin entführt und in der Drachenburg eingekerkert hatte. Schweiß troff ihm unter dem Helm hervor, und die klobige Ritterrüstung kniff in seinen voluminösen Bauch. Außerdem hatte er Hunger, und das bereits seit Stunden. Nicht nur einmal hatte er sich erschrocken, als plötzlich aus dem Nichts ein tiefes Grollen erklang, und war jedes Mal ziemlich erleichtert gewesen, dass es sich nicht um den bösen Drachen, sondern nur um seinen leeren Magen gehandelt hatte.
Den bösen Drachen zu töten, würde nicht einfach werden, das war ihm klar. Doch der Lohn war eine Prinzessin, die demjenigen versprochen war, der sie aus den Klauen des bösen Unholds namens Drache befreite.
Und genau das hatte er vor. Zumindest, wenn er seinen Hunger gestillt hatte. Die letzte Mahlzeit lag schon diverse Stunden zurück, hatte ungefähr dann stattgefunden, als er festgestellt hatte, endgültig die Orientierung verloren zu haben.
Der Ritter schnaufte unter seinem metallenen Visier und setzte seinen Weg fort. Er würde es schon schaffen. Bisher hatte er es immer geschafft.
Auf dem Boden lag ein Stück Brot.
Der große und ziemlich dicke Ritter hielt inne: Da, direkt vor seinem metallenen Stiefeln lag es Stück Brot, sah frisch und lecker aus und schien geradezu nach ihm zu rufen. Es war nicht groß, würde in einem einzigen Happs in seinem Hals verschwinden, ohne überhaupt gekaut worden zu sein, doch da drüben, ein paar Schritte weiter, lag ein weiteres. Und dahinter noch eins. Und dort, ganz weit hinten, ein weiteres.
Der dicke Ritter sah sich um. Normalerweise aß er nicht einfach, was auf dem Boden lag, zumindest nicht sehr oft. Doch niemand sah zu, und sein Magen bereite sich gerade auf weitere intensive Knurrgeräusche vor. Keuchend und ächzend bückte sich der Ritter, hob das kleine Brotstückchen auf und warf es sich in den Mund. Vorsichtig kaute er, schmatzte vergnügte, als erst Rinde, dann fluffige Brotinnere seine Zunge berührte. Vermutlich hatte er noch nie so etwas Leckeres verspeist.
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedachte, befand sich schon das nächste Brotstück zwischen seinen Lippen. Und das übernächste. Und ein weiteres.
Langsam, wirklich langsam, führten die Brotkrumen den großen und ziemlich dicken RItter tiefer in den finsteren Wald hinein, lösten seine Gedanken von der Prinzessin und füllten seinen stets hungrigen Bauch mit teigiger Köstlichkeit.
Er kam nur langsam voran, doch irgendwann vergaß er, den Blick um Himmel zu heben und nach dem bösen Drachen zu suchen, vergaß, wo er hinwollte, vergaß, dass er ein großer und ziemlich dicker Ritter in einer schweren Metallrüstung war, ausgeschickt, um eine Prinzessin aus ihrer Not zu befreien.
Die Spur aus Brot endete abrupt. Kein weiterer leckerer Krumen wartete darauf, den Ritter und seinen Gaumen zu erfreuen, kein weiteres Stückchen lag hinter der nächsten Ecke und hieß ihn mit Köstlichkeit willkommen. Dort war nichts. Nur der Weg, der sich weiter in den finsteren Wald hinein wand. Und dieses merkwürdig aussehende Häuschen.
Der große und ziemlich dicke Ritter hielt verwundert inne. „Das kann doch nicht sein!“, rief er verdutzt. „So etwas gibt es doch nur im Märchen!“ Und bevor das Echo seiner Worte zwischen den Nadelbäumen verklungen war, hatte er sich auch schon in Bewegung gesetzt, rannte nun auf dieses merkwürdige Häuschen zu, das nicht nur so aussah, als würde es jeden Moment zusammenfallen, sondern das auch noch komplett aus Lebkuchen bestand! Die Nase des Ritters täuschte sich nie, und und hatte seinen großen und ziemlich dicken Besitzer samt dessen klobiger und kneifender Rüstung bereits losgeschickt, bevor dieser begriffen hatte, was seine Augen ihm darboten.
Und nun stand er an den Wänden des sonderbaren Lebensmittelhäuschens, riss das Visier seines Helmes nach oben und steckte seine Nase tief in den süß duftenden Lebkuchen. Das war genau das Richtige nach dem kleinen Brotstücken, genau das Richtige, um seinen noch immer schwelenden Hunger zu besänftigen. Ohne lange zu zögern, griff er nach oben und brach einen der lebkuchigen Dachziegel ab und stopfte ihn in seinen riesigen Mund. Wenn das Brot schon lecker gewesen war, hatte er nun Schlaraffenland gefunden.
Der Lebkuchen schmeckte nach Zimt und Honig, nach Kindheit und Sehnsucht, nach Geborgenheit und Erfüllung. Er schmeckte, als bestünde er aus Küssen und Freudentränen, als wäre er Göttern und Prinzessinnen vorbehalten.
Rasch brach er ein zweites, drittes Stück vom Dach ab, riss eine Handvoll aus der Wand, knabberte gar voller Vergnügen am Fensterbrett.
„Hey!“, krächzte eine Stimme hinter der Scheibe, die nur aus Zuckerguss bestehen konnte. „Hilfe!“
Der Ritter erstarrte. Er hatte sich an einem fremden Haus vergangen. Das konnte nicht richtig sein, nicht ehrenvoll, nicht ritterlich. Beschämt bis er noch einmal vom Fensterbrett ab. Vielleicht hatte ihn ja niemand bemerkt.
„Hey!“, krächzte die Stimme erneut, und irgendwie klang sie dumpf. „Ich weiß, dass du da draußen bist und an meinem Häuschen knusperst!“
Der Ritter schwieg. Vielleicht konnte er ja Windgeräusche imitieren und so tun, als seien sein Krach, sein Schmatzen und vergnügtes Stöhnen natürlichen Ursprungs gewesen.
„Und versuche es nicht mit einer albernen Windimitation!“, krächzte die dumpfe Stimme aus dem Inneren der Hütte. „Hilf mir lieber!“
Vorsichtig lugte der große und ziemlich dicke Ritter durch die Zuckerglasscheibe und schluckte die letzten Reste Lebkuchen hinunter. Die Hütte war karg eingerichtet, doch abgesehen von ein paar alten Möbelstücken und einem riesigen Ofen fast völlig leer.
„Ich bin im Ofen!“, rief die dumpfe Stimme aus dem Ofen. „Hilf mir raus!“
Der Ritter zögerte. Vielleicht gab es einen Grund, dass die Stimme im Ofen war. Vielleicht war sie ein Dämon. Oder ein Kobold. Oder gar eine Hexe.
„Du kannst zur Belohnung die Haustür aufessen!“, rief die krächzende dumpfe Stimme, und der große und ziemlich dicke Ritter erstrahlte vor Begeisterung. Die ganze Haustür! Aufessen!
Sofort machte er sich ans Werk. Die Tür war verschlossen, und offensichtlich gab es keinen anderen Weg ins Gebäude. Die Haustür aufzuessen, schien nicht nur die sinnvollste, sondern auch leckerste Lösung zu sein.
Der Ritter zögerte nicht weiter und futterte. Sein immer hungriger Magen füllte sich langsam, sein Bauch schwoll noch ein wenig mehr an, und seine Rüstung wurde ein weiteres bisschen enger. Doch das war egal. Denn der Lebkuchen war lecker, war vielleicht das Wunderbarste, was er jemals gekostet hatte. Und außerdem konnte er jemandem helfen, eine Heldentat vollbringen, Ritterlichkeit vollziehen!
Nur wenige Minuten später hatte er nicht nur die Haustür, sondern auch bedeutende Teile der Fassade und ein halbes Fenster verzehrt und grinste nun wie ein satter, großer und ziemlich dicker Ritter.
„Kannst du jetzt die Ofentür öffnen?“, fragte die krächzende Stimme aus dem Ofen. Sie klang genervt.
„Na klar.“, sagte der Ritter hilfsbereit, obwohl man ihn mit seinem vollen Mund natürlich nicht verstehen konnte. Blitzschnell hatte er die Verriegelung des Ofens gelöst, öffnete die schwere, gusseiserne Klappe und lugte hinein ins Dunkel.
Das Dunkel lugte zurück und sah aus wie eine ziemlich alte und rußige Frau mit ziemlich krummem Rücken. Und auf diesem hockte ein dicker, hässlicher Kater, dessen Fell entweder völlig schwarz war oder eine besonders große Portion Ruß erhalten hatte.
„Danke.“, krächzte die alte Frau, stieg träge aus dem riesigen Ofen und betrachtete ihren Besucher und Retter langsam von oben bis unten.
„Du scheinst ziemlich gut genährt zu sein.“, stellte sie anerkennend fest.
Der große und ziemlich dicke Ritter nickte. Die alte Frau sah unheimlich aus. Nicht wie ein Dämon, nicht wie ein Kobold, aber doch ein bisschen wie eine Hexe. Vor allem der krumme Rücken und der hässliche Kater lieferten gute Hinweise.
„Könntest du kurz in den Ofen steigen?“, krächzte die alte Dame mit dem krummen Rücken und dem hässlichen Kater. „Ich habe da was vergessen.“
Der Ritter zögerte.
„Du kannst auch noch ein Stück Dach essen.“, meinte die alte Dame.
Der Ritter zögerte weiter. Er war mittlerweile ein wenig gesättigt. Von einem Stück Zuckerfenster hätte er sich vielleicht überzeugen lassen, doch nicht von Dachlebkuchen, der ja bereits diverser Witterung ausgesetzt gewesen sein musste.
„Das wäre sehr … ritterlich.“, krächzte die alte Dame und klang fast freundlich. Der Kater miaute, und der Ritter nickte. Ritterlichkeit war immer wichtig.
Er öffnete die Ofenklappe so weit es ging, und stieg hinein. Beziehungsweise versuchte er hineinzusteigen, doch der große und ziemlich dicke Ritter war viel zu groß und zu dick, um auch nur annähernd durch die schmale Ofenöffnung steigen zu können.
Hilflos sah er die alte Frau an. Der Kater auf ihrem Rücken miaute, und wenn der große und ziemlich dicke Ritter nicht gewusst hätte, dass Kater nicht reden können, hätte er wahrscheinlich das Wort „Käfig“ vernommen.
Die alte Frau nickte bedächtig.
„Du hast recht.“, krächzte sie zu ihrem Rücken.
Sie wandte sich erneut an den Ritter.
„Äh. Ich habe mich geirrt. ich denke, es ist doch da drüben drin.“
Sie wies auf eine dunkle Zimmerecke, in der ein mannshoher Käfig aus dunklem, korrodiertem Metall lauerte wie ein wildes Tier, das nur auf den richten Augenblick wartete, jeden zu verschlingen, der sich ihm nähert.
Der große und ziemlich dicke Ritter wies stumm auf die Käfigtür, durch die er sich noch nicht einmal hätte hindurchzwängen können, wenn er sich seiner Rüstung und großen Teilen seines nicht eben kleinen Bauches entledigt hätte.
Die alte Frau seufzte.
„Dann eben nicht.“
Auch der Kater schien ein wenig enttäuscht zu sein.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Bersten und Krachen von draußen.
„Was ist das?“, wollte der Ritter schon fragen, doch die alte Frau kreischte bereits panisch.
„Das sind die Kinder? Das sind bestimmt die Kinder!“. Sie fuchtelte panisch mit den Armen in der Luft herum. „Sie sind zurück!“
Der große und zugleich ziemlich dicke Ritter verstand die Welt nicht mehr. Doch seine Aufgabe war es, ein Ritter zu sein, und ritterlich zu agieren, bedeutete auch, alte, wehrlose Frauen vor Gefahren jeglicher Art zu schützen, selbst wenn die alten Frauen sonderbar waren und gewisse Ähnlichkeiten zu Hexen besaßen.
Der Ritter stürmte nach draußen. Sein Stürmen war recht langsam und behäbig, weil er nun einmal nicht nur groß, sondern auch ziemlich dick war, doch für seine Verhältnisse bewegte er sich mit enormer Geschwindigkeit. Mit einer für ihn untypischen Eleganz zog er sein riesiges Metallschwert aus der Scheide, in der es bis eben noch unbekümmert gerührt hatte, und hielt es drohend vor seinem Leib. Sollte die Gefahr doch kommen!
Ein riesiges Maul, das nur aus Zähnen und Flammen zu bestehen, senkte sich vom Himmel herab und verschlang den großen und ziemlich dicken Ritter mit einem einzigen Happs, fast so als wäre der riesige Kerl in seiner metallenen Rüstung nichts weiter als ein ein Stück Brot am Waldboden.
Das Maul und sein Besitzer, ein himmelbedeckend großer und unendlich böser Drache, schüttelten sich kurz, dann flappten monströse lederne Schwingen mehrfach kurz auf, und der Drache befand sich über den Wolken.
Majestätisch glitt er durch die Sphären, entriss der Erde sein Gewicht, segelte höher und tiefer, spielte mit Sonnenstrahlen und Windböen, war ein gleißender Blick am Firmament, eine Kreatur vollendeter Anmut.
Der Drache rülpste.
Sein ganzer Leib krampfte sich plötzlich zusammen, seine Schwingen falteten und lösten sich wieder, seine glimmenden Feueraugen schlossen sich wie unter Schmerzen.
,Was ist nur los?‘, wunderte er sich. Der beschuppte Drachenbauch gab Geräusche von sich, die selbst eine kinderfressende Hexe verängstigt hätten. Er blubberte und röhrte, grummelte und zischte, als befände sich in seinem Inneren ein hochaktives Alchemielabor.
Doch in seinem Inneren befand sich nur ein einstiger Ritter, dessen fülliger Leib, inklusive Metallschwert und Metallrüstung, sich allmählich in den tödlichen Magensäften des Drachens aufzulösen begannen.
Der Drache rülpste, und einzelne Funken segelten müde aus seinem zahngefüllten Maul. Keine Flammenstürme, kein Feuerinferno, nur träge Funken, denen das Glimmen schwer zu fallen schien.
,Was ist nur los?‘, wunderte sich der böse Drache und landete auf einem fernen Felsplateau.
Dann explodierte er.

Nicht weit entfernt stand eine schöne Frau mit wallendem, nachtschwarzen Haar und einer Hautfarbe, neben der Schnee bunt gewirkt hätte, im Turmzimmer einer mächtigen Burg und starrte in den Sonnenuntergang. Am Horizont erblühte ein gleißender Feuerball und erlöschte in wuchtiger Detonation, doch sie bemerkte es nicht. Der Apfel hatte bereits zu wirken begonnen, hatte ihr die Sinne geraubt, jedes Gefühl betäubt.
Nun war sie bereit für den bösen Drachen, bereit, von ihm verschlungen, vertilgt, zerschmettert, ja vielleicht sogar geliebt zu werden. Ihr war es egal. Das Gift im Apfel wirkte bereits, lähmte ihre Empfindungen, löschte ihr Denken. Alles war egal. Keine Furcht mehr, keine Zittern und Bangen. Keine enttäuschte Hoffnung mehr, kein Sehnen und Verlangen. Alles egal.
Sie schloss die Augen, setzte sich auf den Strohsack, den der böse Drache ihr als Schlafunterlage hingeworfen hatte, nachdem er sie aus den königlichen Gemächern geraubt und wie ein Tier in diesen Kerker geworfen hatte. Sie hatte Besseres verdient, war sie doch schließlich eine Prinzessin, DIE Prinzessin. Vermutlich suchten dort draußen bereits zahlreiche Ritter nach ihr, bewaffnet mit Schwertern und Morgensternen, mit Äxten und Bögen, willens, dem bösen Drachen den Garaus zu machen, sie aus ihrem Verlies zu befreien und anschließend, wie es ihr Vater versprochen hatte, ihr Gemahl zu werden.
Doch es war egal. Alles war egal.
Es klopfte an der Tür. Die Tür war aus massivem Eichenholz gefertigt, und um sie aufzubrechen, bedurfte es mindestens eines Rammbocks.
„Ich habe den Schlüssel gefunden.“, rief Hänsel von draußen und stocherte damit wild im Schloss herum, bis sich die massive Eichentür mit einem fast schon zärtlichen Klicken einen Spalt weit öffnete.
Seine Schwester lehnte stumm an der Wand, beobachtete das Treiben und schmollte. Sie hatte nicht hierhergewollt, hatte diese mächtige Burg niemals betreten wollen, war zu keinem Zeitpunkt daran interessiert gewesen, wer wohl in diesem enormen und versperrten Turm wohnte. Bestimmt nur irgendeine Prinzessin, die befreit werden wollte.
Es gab nur zwei Dinge, die sie wollte, und eines davon waren Lebkuchen. Leckere, honigsüße, samtweiche Lebkuchen.
Die andere Sache, die sie unbedingt wollte, hatte etwas mit Sprache zu tun, mit Rhythmus, mit Klang. Sie wollte Wörter aneinanderreihen, miteinander verbauen, mit ihnen spielen, sie in hoher Geschwindigkeit zu den abstrusesten Rhythmen in den Äther werfen, wollte beschimpfen und lobpreisen, wollte mit ausgesuchten Reimen von ihrer Kindheit im armen, mutterlosen Elternhaus berichten und kunstvoll über die Vorteile diverser primärer und sekundärer Geschlechtsorgane berichten. Ihr Künstlername würde Unzel sein, das klang mystisch und gefährlich zugleich, und sie würde sämtliche Schankstuben des Reiches mit ihrem Werk erfreuen.
Hänsel wusste nichts davon. Hänsel wusste gar nichts. Er sperrte am liebsten alte Frauen irgendwo ein und junge Frauen irgendwo aus. Und dann heiratete er sie.

Die Prinzessin kam zu sich. Das schmutzige Gesicht eines Jünglings schwebte über ihr wie ein böser Drache, doch dann lächelte es, und die Prinzessin atmete auf. Die Wirkung des Apfels hatte nachgelassen, nur leichte Kopfschmerzen erinnerten an seine betäubende Wirkung.
„Ich habe dich gerettet.“, sagt der Jüngling und hielt triumphierend einen güldenen Schlüssel empor.
Die Prinzessin beschaute sich den Jüngling. Er war mager und schmutzig, doch sah freundlich aus. Zudem roch er ein wenig nach Lebkuchen, was nur ein gutes Zeichen sein konnte. Prinzessinnenrettungen waren immer eine riskante Sache, und sie durfte nicht wählerisch sein. Immerhin war er weder groß, noch dick oder gar in eine lächerliche Metallrüstung gewandet.
„Was ist dem dem Drachen?“, wollte sie wissen.
„Er ist explodiert.“, sagte Hänsel und grinste.
„Nicht schlecht.“, meinte die Prinzessin anerkennend und setzte sich auf. Ein leichter Schwindel überkam sie, dann war alles vorbei.
„Alles in Ordnung, Prinzessin?“, fragte Hänsel, der sich noch immer nicht geschafft hatte, sich oder seine trotzig an der Wand lehnende Schwester vorzustellen. Die Prinzessin nickte tapfer.
„Wird schon gehen.“, sagte sie und stand auf. Ihr langes schwarzes Haar flutete ihren Rücken hinab, und Hänsel seufzte entzückt. Eine derartige Schönheit hatte er noch nie erlebt, noch nie zu erträumen gewagt. Ihre Anmut nahm ihm den Atem. Seine Schwester hätte die richtigen Wörter finden können, hätte sie als strahlend, zauberhaft, elegant, majestätisch, fragil, elfengleich, umwerfend, funkelnd oder sonnensüß bezeichnen können, doch sie stand nur an der Wand und schmollte.
„Du bist so … schön.“, staunte Hänsel und konnte sein Glück kaum fassen.
Die Prinzessin lächelte und betrat somit jene Bereiche märchenhafter Schönheit, bei deren Beschreibung Autoren prinzipiell versagen.
„Wir sollten meinen Vater aufsuchen.“, wisperte die Prinzessin. „Er möge es vermählen.“
Hänsel nickte gehorsam. ,Ich habe wirklich Glück‘, dachte er verzückt. ,Ich bin ein Hänsel im Glück.‘
Sie verließen das karge Turmzimmer, schlossen die Tür hinter sich und schritten ihrem neuen, gemeinsamen Leben entgegen.

An der Wand lehnte noch immer Hänsels Schwester, ein zartes unscheinbares Wesen, das mittlerweile drei Dinge wollte: Lebkuchen, Sprachgesang und den güldenen Schlüssel, den Hänsel in sein neues Leben mitgenommen hatte.
„Schlüssel!“, rief Unzel vom Turm hinab, doch der Turm war riesig, und nicht einmal die Ahnung eines Klangs erreichte Hänsel, der Hand in Hand mit seiner geretteten Verlobten das Burgtor durchquerte und alles Elend hinter sich ließ.
Unzel sah ihm nach, und Tränen standen in ihren Augen.
Sie war eingesperrt, eingekerkert in diesem verdammten Turm, und diesmal würde niemand kommen, der ihr half. Keine großen oder ziemlich dicken Ritter würden nach ihr suchen, Drachen für sie töten oder die elende Eichentür mit Rammböcken zerbersten lassen.
Unzel seufzte.
Und Lebkuchen gab es auch nicht.
Nur einen elenden Strohsack, der vermutlich schon diverse Prinzessinnen vor der letzten beherbergt und mit Ungeziefern beliefert hatte. Ein paar alte Äpfel gab es und eine alte Dose Bohnensuppe. „Magisch“ stand auf dem Etikett, und Unzel schnaubte. Natürlich war sie das.
Sie lief zur Tür. Wenn ein Rammbock die Eichentür kaum zu sprengen vermochte, würde es die simple Armkraft eines ausgemergelten Mädchens erst recht nicht schaffen; dessen war sie sich bewusst. Aber man konnte es ja mal probieren.
Die Tür bewegte sich nicht.
Natürlich.
Unzel lief zur Fensteröffnung. Unterhalb des Fenstersims gab es vor allem Tiefe. Sie hatte die Stufen nicht gezählt, die sie auf dem Weg zum Turmzimmer erklommen hatten, doch bezweifelte sie, dass eine solch immens große Zahl bereits einen eigenen Namen besaß. ,Zwölfundvielzig‘, klang zwar gut, aber nicht einmal ansatzweise ausreichend.
Sie starrte aus dem Fenster. Hinabzuklettern war Wahnsinn. Der Turm war nicht nur hoch, sondern auch glatt.
,Drachenfeuer.‘, vermutete Unzel und überlegte weiter:
,Drachenfeuer, Ungeheuer. – daraus lässt sich was machen.‘
Sie nickte und sah noch einmal hinab. Die Tiefe schrie ihr entgegen, lud sie ein in ihr luftiges Reich.
,Vielleicht, wenn ich ein Seil hätte.‘, überlegte Unzel und blickte sich um. Doch kein Seil war zu sehen.
,Das einzige, was entfernt an ein Seil erinnert, ist mein Zopf.‘, dachte Rapunzel, seufzte enttäuscht und setzte sich auf den Strohsack.
Als Stunden später allmählich Hunger einsetzte, ergriff sie die Dose Bohnensuppe und schmetterte sie immer wieder gegen die Eichentür.
,Einer von beiden wird nachgeben.‘, dachte Unzel und hoffte, dass es die Eichentür war. Doch Eiche ist stur, und bald schon platzte der Decke von der Dose und gab den Inhalt frei.
„Die sind ja riesig!“, staunte Unzel, denn die vermeintliche Bohnensuppe bestand nur aus zwei monströsen Bohnen.
,Magisch.‘, las Unzel noch einmal auf dem Etikett und lachte traurig.

Als sie erwachte, hatte sich etwas geändert. Sie sah sich um. Die Dose Bohnensuppe war leer, vor dem Fenster tummelten sich ein paar Regenwolken und die Eichentür frönte weiterhin verschlossener Sturheit. Alles war wie am Vortag. Und dennoch war etwas anders. SIE war anders.
Sie tastete sich ab. Zwei Arme, zwei Beine. Sogar der Bauchnabel war noch immer vorhanden. Nase, Ohren, Haare, Augen, Haare, Stirn, Haare.
Haare! Überall waren Haare! Über Nacht war aus ihrem schlichten dreckigblonden Schopf ein riesiges Nest, ein wallendes Ungetüm, güldener Haare geworden, ein endloser Strang seidigen Glanzes, der direkt ihrem Haupt entspross.
,Ein Seil!‘, dachte Unzel sofort, und nur wenige Minuten später hing sie an der Außenwand des Turms, durch nichts weiter als ein paar viel zu dünne Haare getrennt von der Erdanziehungskraft.
„Ich kann das schaffen!“, ermutigte sie sich. „Ich bin weder schwach noch funzel – ich bin Rap-Unzel!!“
Zum Glück war gerade niemand da, um zu fragen, was genau „funzel“ war, und so setzte sie ihren Abstieg fort, so weit ihre Haare reichten. Was erstaunlicherweise exakt bis auf den Burghof war.
„Erstaunlich.“, meinte Unzel und verließ die elende Burg des bösen Drachen, ohne nur einmal zum Kerkerturm zurückzublicken.

Den Weg nach Hause kannte sie nicht. Der Weg zum Schloss ihrer zukünftigen Schwägerin war ihr noch fremder. Zum finsteren Wald würde sie sich zurückfinden, doch ihr Wunsch nach Lebkuchen hatte sich irgendwann während des Kletterns verflüchtigt. Nur ein Wunsch war ihr geblieben: Sie wollte ihre Kunst in die Welt hinaustragen, wollte Gasthäuser und Dorfschenken mit Menschen füllen, die allesamt ihrer geschmiedeten Wortakrobatik lauschen würden. Sie wollte den gesamten Planeten mit ihren Wörtern befüllen, wollte ihrerseits befüllt werden mit dem Planeten, Inspiration finden für weitere Werke, wollte wachsen, eins werden mit allem und jedem.
„Hinaus!“, rief sie euphorisch sich selber zu. „Hinaus in die Welt!“
„Vielleicht könnte ich da behilflich sein…“, schnurrte da eine sanfte Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sich Unzel um, doch da war niemand.
„Hier unten.“, schnurrte die Stimme, und Unzel sah hinunter.
Dort unten, direkt vor ihren Füßen, stand ein schwarzer Kater und blickte zu ihr hinauf. Und sie stand tatsächlich. Die beiden Vorderpfötchen waren nach der Menschen Art in die Höhe gehoben, und die beiden hinteren Pfötchen steckten in zwei Stiefeln, die dem Tier viel zu groß zu sein schienen.
„Ich hätte da vielleicht etwas, das dich interessieren könnte…“, begann der Kater erneut.
„Wer bist du?“; fragte Unzel verwirrt.
„Mein Name tut nichts zur Sache. Auch der Umstand, dass ich früher mal berühmt war, als mit drei anderen in einer Band spielte, besitzt keinerlei keine Bedeutung.“ Der Kater stand in seinen viel zu großen Stiefeln und gestikulierte mit seinen vorderen Pfötchen.
„Wichtig ist, dass ich hier etwas habe, das dir gefallen könnte.“
„Und was wäre das? Etwa deine Stiefel?“ Viel mehr hatte der Kater nicht am Leib.
„Genau.“, antwortete der Kater und grinste.
„Und was soll ich mit deinen Stiefeln anfangen?“, fragte Unzel verwundert.
„Es sind besondere Stiefel!“, rief der Kater begeistert.
Unzel schaute ihn skeptisch an. „Sind sie etwa magisch?“
Der Kater nickte. „Oh ja! Magisch!“
Er setzte sich hin und begann die Stiefel, die ihm viel zu groß waren, auszuziehen.
„Du musst wissen, dass ich früher Bestandteil einer bekannten Musikkapelle war. Wir vier waren einander in Bremen begegnet und tourten mit unserem Programm durch die gesamte Welt.“ Der Kater seufzte, tief in seinen Erinnerungen versunken.
„Damit wir schneller von Schenke zu Schenke, von Ort zu Ort, kamen, hatten wir uns diese Stiefel besorgt. Es sind nämlich -“ Seine Stimme wurde zu einen Flüstern. „Siebenmeilenstiefel!“
„Was für Stiefel?“
„Siebenmeilenstiefel!“, erklärte der Kater. „Wenn du diese Stiefel trägst, kannst du mit einem einzigen Schritt sieben Meilen zurücklegen.“
Unzel war beeindruckt.
„Sieben Meilen! Damit wäre ich in Windeseile am nächsten Ort! Und am übernächsten! Und am überübernächsten!“
Der Kater nickte.
„Was willst du dafür haben?“, fragte Unzel euphorisch.
Die Augen des Katers blitzten listig auf.
„Alles, was du besitzt.“
„Alles?“
„Alles.“ Der Kater betrachtete Unzels schmutzige und zerfetzte Kleidung. „Na gut, fast alles.“
Unzel nickte. „So sei es.“

Nur wenige Minuten später besaß Unzel zwei Stiefel, die ihr zu passen schienen, als wären sie für sie angefertigt worden. Der Kater hingegen besaß ein großes Stück Lebkuchen, das so aussah, als wäre es einst Teil eines Fensterbretts gewesen. Dennoch war er nicht unglücklich, denn der Lebkuchen war das Leckerste, was er jemals in seinem Dasein gerochen oder gar gekostet hatte. Zufrieden schnurrte er und schnupperte an der erhaltenen Bezahlung.
Er wandte sich Unzel zu: „Vergiss nicht, dass es einen Trick gibt, um die Stiefel zu benutzen.“
Doch Unzel hörte nicht zu. „Die passen ja wie angegossen!“, rief sie begeistert und schritt davon.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte sich ihr linker Fuß um exakt sieben Meilen vom rechten entfernt. Da jedoch Unzels Beinlänge gleich geblieben war, zerriss ihr Körper im Nu und sie verstarb, bevor sich sich auch nur fragen konnte, was mit ihr geschah.
Der Kater seufzte, nahm einen kleinen Bissen vom Lebkuchen und ging davon. Die Siebenmeilenstiefel ließ er zurück. Sie hatten ihm sowieso niemals gepasst.

Nachdem er eine Weile gewandert war, fing es an zu schneien. Kater besitzen ein dickes Fell, und so ein bisschen Schnee hatte ihn noch nie davon abgehalten, seines Weges zu ziehen. Der Schnee nahm zu, doch der Kater ging weiter. Wenige Minuten später hörte es wieder auf, und am Himmel erschein die Sonne. Der Kater wanderte, und gerade, als es wieder zu schneien begann, begegnete er einer alten Dame.
„Ich schüttle gerade meine Bettwäsche aus.“, rief sie vergnügt über den Lärm des beginnenden Schneesturms hinweg.
Der Kater nickte stumm. Hätte er etwas gesagt, hätte er Schnee und Eis in den Mund bekommen.
Die alte Dame schüttelte Kissenbezüge aus, und der Schneesturm wurde intensiver. Es wurde kälter und kälter, doch die alte Dame hörte nicht auf zu schütteln.
Der Kater begann zu frieren, doch es wurde immer noch kälter.
Die alte Dame legte den Kissenbezug beiseite, und das Wetter wurde augenblicklich besser. Dann nahm sie ein Bettlaken und schüttelte erneut. Wieder begann es zu schneien.
„Jetzt reicht‘s!“, knurrte der Kater frierend und sprang der alten Dame auf den Rücken.
„Huch!“, rief sie, und es hörte auf zu schneien.
Der Kater krallte sich tief in ihre Schulter.
„Huch!, rief sie erneut. Der Kater war recht schwer, und die alte Dame krümmte sich ein wenig unter seinem Gewicht.
„Wirst du jetzt ewig dort bleiben?“, fragte sie. Der Kater nickte, und die alte Dame krümmte sich noch ein bisschen tiefer.
„Oje.“, seufzte die alte Dame. „Dann bin ich wohl nicht länger gesellschaftsfähig.“
Sie packte ihre Sachen und zog sich in eine einsame Hütte tief im finsteren Wald zurück. Der Kater, der seine Vorliebe für Lebkuchen entdeckt hatte, bestand darauf, dass die Hütte unbedingt aus leckeren Teigwaren zu bestehen habe. Und so lebte die alte Dame mit ihrem Kater glücklich und zufrieden in einer kleinen, leckeren Hütte im finsteren Wald, bis eines Tages zwei Kinder vor der Tür standen und damit begannen, an ihrem Häuschen zu knabbern.

Ende.