Die Maus

Die Musik bewegte sich an den Grenzen dessen, was Normalsterbliche als Musik erachtet hätten, und krachte sich schwer und wuchtig durch das Wohnzimmer. Ich saß am Rechner, drückte Tasten und widmete mich zugleich entstehenden Buchstaben und raumbefüllendem Lärm.

Ein Missklang ertönte. In den Wulst aus Klangmonstren hatte sich Unbekanntes eingeschlichen, Fremdes, das mich aufhorchen ließ und die Musik einem raschen Schweigen entgegenwarf. Im Regal knabberte es.

„Eine Maus!“, wusste ich, denn die Vergangenheit war voll mit Augenblicken, in mich ihr rasches Huschen unweit meiner Terrasse erfreut hatte. Selbst das unübersehbare Mäuseloch, das den Boden unweit meiner Gemüsepflanzen zierte, hatte ich stets mit Wohlwollen bedacht. Eine Maus.

Das Knabbern verstummt nicht. Die Musik wartete darauf, wiederbelebt zu werden, doch meine Aufmerksamkeit galt dem vermeintlichen Nagetier, das sich irgendwo zu meiner Rechten niedergelassen hatte und Geräusche in seine Umgebung sandte.

Langsam näherte ich mich. Ordner, technisches Gerät und allerlei Unrat, der sich weigerte, als solcher klassifiziert zu werden, befüllten die einzelnen Regalböden und verhinderten jede Sicht auf das mögliche Pelztierchen.

Ich entfernte den ersten Ordner. Und kreischte.
Ich hatte eine Maus erwartet. Ich mochte Mäuse. Ich bin ein Mann.
Doch ich kreischte wie eine Dreizehnjährige. Nur lauter.

Die Maus lugte unter dem Regal hervor, rannte in Richtung Sofa, kehrte blitzschnell um und huschte erneut unter das Regal. Wo sie blieb. Und keinen Laut von sich gab.

Der Mann in mir fand seinen Weg zurück an die Oberfläche und brachte eine beruhigende Woge Vernunft mit: Die Maus befand sich unter dem Regal. Das Regal stand in der Zimmerecke unweit von Schreibtisch und Sofa. Wenn ich letzteren ihren Kontakt zur Wand stahl, gab es jenseits des Regals keinen naheliegenden Unterschlupf mehr, der attraktiv genug war, um dorthin zu flüchten. Dachte ich. Und schob Möbel durch die Gegend.

Meine bisherige Mäusefangerfahrung beschränkte sich auf fehlende Existenz, und so krallte ich mir zwei Schüsseln, die ich über das Tierchen stülpen wollte, sobald ich es erblickte. Dachte ich. Doch ich erblickte es nicht.

Ich räumte das Regal aus, Stück für Stück, bis ich dahinter sehen konnte, schob es gar von der Wand weg, doch fand keine Maus. Sie hatte hier verweilt, das war offensichtlich. Ein Schokoriegelpapier hatte umfangreiche Zahnbegegnungen erfahren und zierte nun den Teppichboden. Aber die Maus war verschwunden.

Die ermattete Batterie der Taschenlampe half der Suche keineswegs, und dennoch war ich mir alsbald sicher, dass sich die Maus weder im Regal noch darunter befinden konnte. Wo jedoch sie ihr Wesen oder gar Unwesen trieb, vermochte ich nicht zu ahnen.
Ich ließ die Wohnung, wie sie war, und kehrte zum Schreibtisch zurück. Tippte. Hörte Musik.
Sah die Maus.

Diesmal kreischte ich nicht. Die bereitgelegten Schüsseln waren fern, und als ich eine von ihnen in meiner Hand hatte, wusste ich nicht mehr, wo sich der Nager befand. Immerhin entdeckte ich eins: Kein Mäuseloch.
Das Gebäude war gerade einmal 15 Jahre alt, und die wenigen Wände, die ich beschauen konnte, wirkten lochfrei. Wahrscheinlich war mein felliger Mitbewohner neugierig über die Terrassenschwelle geklettert und hatte sich an meiner Anwesenheit erfreut. Und am Schokoladenriegelpapier.

Die untere Etage des Regals war nun leer, ihr Inhalt bevölkerte den Wohnzimmerboden. Die Maus blieb verschwunden.

Als ich die Maus das nächste Mal vernahm, hatte sie sich eine andere Zimmerecke ausgesucht und produzierte dort begeisterte Knabbergeräusche. Ihre Diät konnte ich nicht nachvollziehen, denn dort, neben dem wuchtigen Ikea-Bücherregal, standen nur ein paar Pappen.

Mittlerweile hatte ich die Taktik gewechselt. Die Einfangschüsseln waren Einfanghandtüchern gewichen. Damit wollte ich das Tierchen bewerfen und es mitsamt Handtuch ins Freie befördern. Ein guter Plan. Dachte ich.

Die Maus knabberte. Polystyrol, stellte ich fest. Warum ich auch immer dort eine Polystyrolplatte, „Quietschpappe“ hatten wir sie als Kinder genannt, lagerte. Ich räumte Bücher aus der unteren Etage des Regals und raubte heimtückisch mal wieder jegliche Rückzugsmöglichkeiten. Und nebenbei baute ich Mauern. Mauern aus Büchern. Lückenlos. Dachte ich.

Denn kaum hatte mich die Maus bemerkt, floh sie, schlüpfte durch eine winzige Lücke zwischen den Büchern, rannte am Regal entlang und verkroch sich an dessen anderem Ende.

Ich seufzte, schnappte mir mein Handtuch und begann erneut zu bauen. Höher, enger, präziser. Ein kleines Fort entstand auf dem grauen Teppichboden. Im Regal schloss ich Lücken mit schmalen Büchern. Auch hier war kein Durchkommen. Dachte ich.

Kaum hatte ich die Maus aufgescheut, war sie durch meine Mauern gedrungen und meinem improvisierten Käfig entkommen. Dann hielt sie inne, anscheinend ebenso verdutzt wie ich, aber bevor ich nur daran denken konnte, das Handtuch zum Einsatz bringen, war sie zu ihrem altbekannten Regal zurückgeeilt. Ich hatte keine Chance.

Tage vergingen. An einem sah ich sie, am nächsten nicht. Ich ertappte sie vor der Küchenzeile, deutlich sichtbar in braunem Pelz auf kalten weißen Fliesen. Ich war gerade von der Arbeit heimgekehrt, und sie saß dort, als wüsste sie nicht, dass hier noch jemand hauste. Fast schon gemächlich lief sie zu den Einbauschränken zwängte sich durch eine winzige Lücke und verschwand im Nirwana unter Kühlschrank und Spüle. Dass es mir nichts nützte, das Zierbrett zu entfernen und in die Dunkelheit zu starren, bedarf keiner Erwähnung.

Das Handtuch lag auf der Couch, wartete auf seinen Einsatz, doch ich hatte die Hoffnung aufgegeben, der Maus auf diese Weise beikommen zu können. Sie war nicht nur schnell, sondern passte in jede Lücke, kletterte schneller, als ich zu begreifen imstande war. Ich fühlte mich wie Tom auf seiner endlosen Jagd nach dem unfangbaren Jerry. Erbärmlich.

Am nächsten Morgen lief das Fass über. Ein Apfel war der Tropfen, einer von zweien, die ich in eine Plastiktüte gehüllt in meine Fahrradtasche gelegt hatte, um auf Arbeit Vitamine konsumieren zu können. Doch als ich aufstand und die mittlerweile stets verschlossene Wohnzimmertür öffnete, sah ich es bereits: Vor und in der Tasche klebten zahlreiche winzige Apfelraspelstücke, zu einem großflächigen Muster angeordnet, dessen künstlerischen Aspekt ich nicht abstreiten konnte. Angewidert entsorgte ich das Meisterwerk, entsorgte auch die eine angeknabberte Frucht und freute mich, dass wenigstens die zweite unversehrt geblieben war.

Am Nachmittag fuhr ich zum Baumarkt. Lebendfallen gab es nicht, dafür eine erstaunliche große Auswahl an Tötungsutensilien. Achselzuckend erwarb ich drei.

Falle Nummer 1 bestand aus einem länglichen Pappkarton, an dessen Enden ich Löcher freizustechen hatte. Entlang einer Wand positioniert sollte die Maus ins Innere gelangen, sich dort am Giftköder laben und irgendwo verenden. Keine gute Falle, wenn man es bedachte, denn wer wusste schon, welchen abgelegenen Unterschlupf sich das sterbende Tierchen für seine letzten Atemzüge auserwählte – und wie lange es brauchte, bis der Gestank das Finden des Kadavers erzwang?

Falle 2 und 3 kamen im Doppelpack, ähnelten der klassischen Drahtbügelfalle, doch bestanden aus Kunststoff und einer Feder, die tatsächlich gute Arbeit leistete. Nach zwei Probeversuchen hatte ich keine Lust mehr darauf, mir die Finger von der Falle zerquetschen zu lassen. Einen Köder brachten die Fallen ebenfalls mit. Man musste nur den Deckel entfernen, die Falle spannen, dorthin stellen, wo man die Maus vermutete, und schon würde sie ihren Dienst tun. Dachte ich.

Ich deponierte die Giftfalle hinter das Sofa, in die direkte Bahn zwischen Schreibtischregal und Küchenzeile, auf den kürzesten Weg zwischen zwei ihrer favorisierten Unterschlupfoptionen. Ich traute der Giftfalle nicht und war froh, nur eine einzige gekauft zu haben.

Federfalle 1 stellte ich unter die Küche, direkt neben den Einbaukühlschrank. Dort hatte ich die Maus hineinkriechen sehen, und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie der Falle begegnen und von Hunger oder Neugier getrieben am inkludierten Köder schnuppern würde. Dachte ich.

Die zweite Federfalle stellte ich an das Bücherregal, dorthin wo noch immer mein Bücherfort stand und meine Schmach besiegelte. Vielleicht würde die Maus hier erneut langlaufen. Dachte ich.

Keine der Fallen wirkte.
Meine Überraschung hielt sich in Grenzen. Tatsächlich war ich sogar ein bisschen stolz. Was für eine clevere Maus ich doch bei mir wohnen ließ!

Zwei Tage vergingen. Ich sah die Maus am anderen Ende des Schreibtischs, näherte mich ihr gar mit dem noch immer nicht aufgegebenen Handtuch, doch als sie davonrannte, mich streifte, lag erneut ein Schrei auf meiner Zunge.
Ich hielt ihn zurück.
Gerade noch.

Am Abend opferte ich ein Stück Schokolade. Die Federfallenköder waren offensichtlich nutzlos, doch an die Mechanik glaubte ich noch. Ich klebte kleine Mengen süßer Verlockung auf beide Federfallen und korrigierte sogar die Position der zweiten Falle. Nun stand sie am Schreibtischregal, dort, wo mir das flinke Wesen zum ersten Mal begegnet war.
Wahrscheinlich würde die Maus nur die Schokolade futtern. Dachte ich. Und ging zu Bett.

Der neue Tag erwachte und mit ihm auch meine Neugier. Die Giftfalle prüfte ich schon gar nicht mehr. Sie war nur Gift, keine Falle.

Federfalle 1 unter der Küche war unberührt. Der Köder sah aus wie am Abend, und ich zuckte mit den Schultern. Hätte ja sein können.

In der zweiten Falle lag die Maus. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was ich sah, doch als ich es erkannte, war es offensichtlich. Die Maus hatte am Köder genascht, die Falle hatte reagiert und ihr das Genick gebrochen. Der Kopf war verschlungen vom Kunststoffmonstrum, und der Rest des winzigen braunen Leibes hing steif und ohne Leben aus seinem Maul.

„Tut mir leid.“, flüsterte ich, ging nach draußen und warf die Falle mitsamt ihrem Opfer in die Mülltonne. „Tut mir leid.“