Die Ameise

„Das ist aber ein komisches Ende für eine Geschichte.“
Die Ameise hatte das die dicke Made, die sie bis vor einige Augenblicke noch in Richtung des gewaltigen Ameisenbaus am Rande des Wädchens geschleppt hatte, beiseite gelegt und schnaufte ein wenig
Ich starrte sie an, denn wenn ich eines gut konnte, dann war das, Ameisen anzustarren.
„Was meinst du damit?“, fragte ich verwirrt.
„Deine Geschichte. Sie hat ein komisches Ende.“, erklärte die Ameise ungeduldig.
Vorsichtshalber fragte ich nochmal nach. Wenn ich eines gut konnte, dann war das nachzufragen.
„Welche Geschichte denn?“
„Na, die mit der Ameise, die eine dicke Made beiseite legt, schnauft und freundlich darauf hinweist, dass das Ende der Geschichte komisch sei.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Eine solche Geschichte habe ich nie geschrieben.“, widersprach ich. Wenn ich eines gut konnte, dann war das, Insekten zu widersprechen.
„Ach, stimmt ja.“, sagte die Ameise, hob schnaufend die dicke Made hoch und drehte sich um.
„Wie geht die Geschichte denn aus?“, wollte ich noch fragen, doch da hatte die Ameise mich bereits in den Ameisenhaufen getragen.

Schachtelsatz

Am 25.02. wird laut Fredkalender stets der fetzige Tag der Schachtelsätze begangen.

Einst, und meine Erinnerung, die üblicherweise nicht nur recht selektiv, sondern auch zuweilen lückenhaft und sprunghaft ist, weigert sich, ein genaues Datum oder auch nur Jahr zu spezifieren, trug es sich in einem kleinen Dörfchen, dessen Bewohner, allesamt gutmütiger und froher Gesinnung, dazu neigten, Sauberkeit und Ordnung wertzuschätzen, und sich, unter anderem in jährlich abgehaltenen Wettkämpfen, deren Sieger mit einem kleineren Geldbetrag und einer prachtvollen Gans belohnt wurde, auch gerne gegenseitig darin maßen, wer von ihnen größere Reinlichkeit und Akkuratesse an den Tag legte, zu, dass sich in einer dunklen, jedoch perfekt sauberen und staubfreien Ecke eines Dachbodens, auf dessen blitzblanken Holzdielen man hätte zu Mittag und sogar zu Abend speisen können, eine Schachtel ein wenig bedrängt fühlte von all den ordentlich gestapelten Kisten, Werkzeugen, Möbeln und Gegenständen, die sie zu allen Seiten hin umgaben, ja einschlossen, und es kaum noch schaffte, genügend Luft von und Blick nach draußen zu erhaschen, um sich einigermaßen wohl zu fühlen, was sie, nachdem sie mehrere Wochen lang intensivst gegrübelt und sinniert hatte, zu der Entscheidung brachte, dass es so nicht weitergehen konnte, dass sie, die durchaus hübsch anzusehen war und deren Inhalt, obgleich man ihn auf dem Dachboden verstaut hatte, noch immer nutzvoll und funktionsfähig zu sein schien, sich nicht länger von all dem ordentlich gelagerten Krimskrams um sie herum bedrängen und verstecken, ersticken und belagern lassen wollte, sondern einen Weg finden musste, in die Freiheit, nach der sie sich so lang schon sehnte, zu entfliehen, auch wenn das für eine Schachtel, die natürlich für Immbolilität geschaffen worden war, ziemlich unmöglich zu sein schien, was sie, unsere kleine, liebe Schachtel, jedoch nicht davon abhielt, zu wackeln und zu wippen, zu zittern und zu ruckeln, als gelte es ein Erdbeben, und zwar eines von gewaltiger Intensität, zu imitieren und schließlich, als sie genug Kraft, genug Energie, angesammelt hatte, in einem gewaltigen, ja formidablen, Satz über ihre bedrängenden, erstickenden Nachbarn hinwegzuspringen, kurz zu poltern und schließlich auf den blitzblanken Holzdielen zu landen, die sie mit funkelndem Glanz und angenehmer Leere willkommen hießen, während hinter der mit solch gewaltigem, ja formidablem Satz in die Freiheit gesprungenen Schachtel die Masse der restlichen Gegenstände, die sie soeben noch bedrängt und erstickt hatten, zu jubeln und zu applaudieren begannen, was das denn für ein gewaltiger, ja formidabler, Schachtelsatz, denn genau darum hatte es sich letzlich gehandelt, gewesen war, wodurch jedoch die Dachbodenbesitzerin Frau Finkelfieps, der selbstverständlich, und das sollte nicht vernachlässigt werden, auch der Rest des Hauses gehörte, verwundert geweckt und letztlich dazu gebracht wurde, mitten in tiefster Nacht, während draußen Sterne am Himmel standen, die den Mond liebevoll bewunderten, und drinnen die Dachbodengegenstände noch immer vor Begeisterung über den Schachtelsatz, den sie soeben erblicken durften, tuschelten und raschelten, die Kisten und Werkzeuge und Möbel aufzuräumen, in ihre alte, akkurate Ordnung zurückzubringen, und alles, was sich während des Schachtelsatzes verschoben hatte, wieder in fast schon penibler Präzision an seine althergebrachte Position zurückzustellen, bis ihr Blick auf die vergnügt am Boden sitzende Schachtel, die gerade einen gewaltigen, ja formidablen, Satz hinter sich gebracht hatte und sich nun in ihrer neugewonnenen Freiheit, wie man an ihrem vergnügten Glimmern sehen konnte, äußerst wohl fühlte, fiel, sie die Schachtel öffnete und in ihr, unter einem recht locker sitzenden Deckel, lauter Spielzeuge aus fernster Kindheit wiederfand, die sie fast vergessen hatte und die nicht nur alte Erinnerungen zurückholten, sondern auch Frau Finkelfieps verschlafenem, und wegen des nächtlichen Aufräumens ein wenig missmutigem Gesicht eine Träne, die so warm und weich und sehnsüchtig war, wie es nur Tränen sein können, entlockte, so dass sie nicht anders konnte, als sich direkt neben die Schachtel, die so viel Schönes, Warmes, Vergessenes in sich barg, auf die Holzdielen zu setzen und bis zum Morgengrauen jedes einzelne Spielzeug anzufassen, zu betrachten, zu bewundern und, während Tränen in großer Zahl ihre rosigen Wangen übergossen, in längst verschüttet geglaubten Erinnerungen zu schwelgen, bis sie sich schließlich irgendwann, es waren bereits diverse Stunden vergangen, langsam und seufzend erhob und beschloss, der Schachtel, der längst vergessenen Schachtel, die vorhin noch einen gewaltigen, ja formidablen, Satz hingelegt hatte und die einen so wundervollen Schatz barg, einen besonderen Platz zu schenken, einen Schachtelschatzplatz, hier, direkt am Eingang des Dachbodens, wo die kleine Schachtel atmen und alles sehen konnte – und wo sie von allen gesehen wurde, die den Wunsch verspürten, in fernen Erinnerungen zu schwelgen.

Doof

„Doof!“ Der Rascheligel war sichtlich erzürnt. „Doof! Doof! Doof!“ Sein ohnehin quietschig grelles Stimmchen überschlug sich mehrfach und purzelte beinahe davon. Sämtliche Stacheln des Rascheligels hatten sich aufgerichtet und mehr denn je sah er aus wie ein niedlicher Kaktus. Wie ein zorniger, niedlicher Kaktus, um genau zu sein.
„Doof,“ wiederholte er ein weiteres Mal und pausierte dann trotzig. Irgendwo unter seinem Stachelkleid hatte er vermutlich seine Ärmchen verschränkt, aber so genau konnte man das nie wissen.

„Was genau ist denn so doof?“, fragte das Regenbogenkänguru mit einer Stimme, deren wohliges Dröhnen selbst einen Kolibri beruhigt hätte.
„Nicht was, sondern wer!“, quietschte der Rascheligel, dem heute offensichtlich keineswegs danach war, fröhlich durch Herbstlaub zu rascheln. Er hatte sich in eine Raserei hineingesteigert, aus dem es kein Entkommen zu geben schien. Einzig die butterweiche Stimme des Regenbogenkängurus hielt ihn davon ab, komplett durchzudrehen.

„Wer genau ist denn so doof?“, fragte das Regenbogenkänguru geduldig, und man musste es dafür bewundern, dass es nicht genervt mit den Augen rollte. Noch nicht einmal ein bisschen.
„Naja, diese Leute!“, ereiferte sich der Rascheligel, „Diese doofen Leute, die sich über andere aufregen!“
Das Regenbogenkänguru nickte wissend.
„Und die doofen Leute, die schlecht über andere reden!“, ergänzte der Rascheligel rasch. „Obwohl die anderen gar nicht anwesend sind und sich verteidigen können!“
„Hm.“, brummte das Regenbogenkänguru.
„Das sind die schlimmsten!“, rief der Rascheligel noch, dann verstummte er. Offensichtlich hatte er seinen gesamten Vorrat an Zorn aufgebraucht.

Eine Zeitlang geschah nichts. Ein dicker Käfer krabbelte verträumt durchs Geäst, und an den Baumwurzeln wogten saftige Grasbüschel zufrieden im sanften Frühlingswind. Zeit flog davon, als würde sie gerade nicht gebraucht.

Dann begann das Regenbogen zu sprechen. Zu dröhnen, um genau zu sein:
„Ich rede niemals über andere. Niemals. Weder gut noch schlecht.“
Neugierig hob der Rascheligel das Näschen, und seine Stacheln sanken langsam nieder.
„Immer wenn ich über jemanden rede, erscheint er plötzlich neben mir.“
Das Regenbogenkänguru redete langsam und ruhig. Seine Stirn lag in Falten und sein Blick war ernst. Nur in seinen Mundwinkeln saß noch immer das warme Lächeln, das die Waldbewohner so sehr mochten.
„Wenn ich über eine Maus redete, krabbelte sie mir zum Beispiel plötzlich über die Füße.“
Es ploppte leise, und eine sichtlich verwirrte Muffelmaus krabbelte über die riesigen Füße des Regenbogenkängurus.
„Wenn ich über Schokokuchen redete, tauchte er plötzlich irgendwo auf, als wäre er dort längst gewesen.“
Erneut ploppte es, und der Rascheligel sah verwirrt von dem Stück Schokokuchen auf, an dem er anscheinend die ganze Zeit geknabbert hatte.

„Und wenn du über alles redest?“, fragte der Rascheligel schließlich, nachdem er damit fertig war zu kauen und hinunterzuschlucken. Und dann nochmal abzubeißen, erneut zu kauen und erneut zu schlucken.
„Was passiert, wenn du über alles redest?“, fragte der Rascheligel noch einmal.
„Dann erscheint alles.“, sagte das Regenbogenkänguru.

Es ploppte kurz, und plötzlich war der Wald ziemlich voll.

Winterschlaf

„Vielleicht schläft er ja?“, piepste die klitzekleine Maus und schnüffelte neugierig in der Luft herum. Wenn sie aufgeregt war, schnüffelte sie immer in der Luft herum.

Der dicke Bär schüttelte langsam mit dem Kopf. „Seit über zwei Monaten?“, brummte er fragend. Er brummte immer, wenn er aufgeregt war. Er brummte ebenfalls, wenn er nicht aufgeregt war. Eigentlich brummte er immer. Schließlich war der dicke Bär ein dicker Bär.

„Vielleicht macht er Winterschlaf?“, piepste die klitzekleine Maus vorsichtig und ihre Schnurrbarthärchen zitterten. Wenn die klitzekleine Maus aufgeregt war, zitterten ihr Schnurrbarthärchen immer. Und sie war meistens aufgeregt.

„Menschen machen keinen Winterschlaf.“, erklärte der dicke Bär und gähnte. Die klitzekleine Maus hatte ihn aus seinen Träumen geweckt, hatte gepiepst und ihn mit zitternden Schnurrbarthärchen gekitzelt, bis er sich brummend erhob und sich nach dem Notfall erkundigte. Dem Notfall, den die klitzekleine Maus gerade durchlebte. Dem Notfall, der so notfällig war, dass ein dicker Bär seinen wohlverdienten Winterschlaf unterbrechen musste.

„Vielleicht ist er … gestorben.“, piepste die klitzekleine Maus und wurde noch ein bisschen aufgeregter. Der dicke Bär hob sie hoch und setzte sie zärtlich auf seine Schulter.
„Ihm geht es gut. Das weiß ich.“, brummte er beruhigend.

„Woher willst du das wissen?“, fragte die klitzekleine Maus zögerlich. Der dicke Bär war ihr bester Freund, und wenn er etwas sagte, dann stimmte es immer. Und selbst wenn es nicht stimmte, war es stets beinahe richtig. Zumindest meistens.
„Ich fühle es.“, brummte der dicke Bär. „Ich fühle, dass er in diesem Augenblick irgendwo sitzt und schmunzelt.“

Die klitzekleine Maus hörte auf, in der Luft zu schnüffeln. Sie war fast gar nicht mehr aufgeregt. Wenn der dicke Bär etwas fühlte, dann stimmte das immer. Der dicke Bär hatte sich noch nie verfühlt und war vermutlich der beste Fühler der ganzen großen Welt.

„Hoffentlich schreibt er dann bald wieder eine Geschichte.“, piepste die klitzekleine Maus und kuschelte sich tief in das Fell des dicken Bären. „Die klitzekleinen Geschichten mag ich am liebsten.“

Der dicke Bär nickte langsam und legte sich auf den Boden seiner Höhle.
„Ich bin mir sicher, dass schon bald eine neue Geschichte entstanden sein wird.“, sagte er und lächelte. „Vielleicht sogar eine mit einer klitzekleinen Maus.“

Doch die klitzekleine Maus schlief bereits tief und fest.