Knusel war kein gewöhnliches Meerschweinchen. Knusel war ein Meerschweinchen mit modischem Kurzhaarschnitt.
Außerdem mochte er alkoholische Getränke. Selbstverständlich trank Knusel sie nicht; schließlich war er noch immer ein Meerschweinchen. Aber er liebte es, wie sich das Licht in Rotwein brach, er liebte das Anis-Aroma von Ouzo, und vor allem liebte er das Spiel der Perlen in frisch gezapftem Bier. Insbesondere, wenn das Bier auf einem hölzernen Tresen stand.
„So ein Barbier.“, sagte er oft zu seiner Freundin Robert. „So ein Barbier ist schon etwas Tolles.“
Robert kicherte dann immer leise und blickte auf Knusels modischen Kurzhaarschnitt.

Frederick fon Flatter – live auf der Leipziger Buchmesse

Fredkrakelei vor BuchmessepublikumNur sieben Jahre und 2700 Comics waren nötig, um hier anzukommen. „Hier“ – das war der Lesetreff, Stand E313 in Halle 2 der Leipziger Buchmesse, der Halle, die dank Cosplayerbefüllung zu Verstopfung neigte. „Hier“- das war eine Bühne, die keine Bühne war, weil es ihr zwar an Erhöhung fehlte, aber nicht an Sitzgelegenheiten für ein Publikum, das nicht wundervoller hätte sein können. „Hier“ – das war 17 Uhr am Samstag, 16. März 2013.
 
Und so saß ich an einem Tisch, der eigentlich dem Buchverkaufsstand gehörte, breitete Zeichenutensilien vor mir aus, trank einen Schluck Wasser und spürte die Nervosität in mir brodeln. Meine Hände zitterten ein wenig, und ich befürchtete, keine einzige Linie aufs Papier bringen zu können. Aber ich war zuversichtlich: So vieles hätte schief gehen können bis zu diesem Moment, und doch saß ich hier, blickte auf gut gefüllte quaderformige Sitzgelegenheiten und war bereit, eine halbe Stunde Buchmessenzeit mit meinem Gekrakel zu verschönern.
 
Stefan Gemmel, Kinder- und Jugenbuchautor und gleichzeitig euphorischer Ideenmensch, hatte den intitialen Gedanken: Bastian sitzt auf der Bühne, lässt sich vom Publikum Stichworte zuwerfen und verarbeitet diese zu amüsanten cartoonesken Zeichnungen, in denen Fred, die fetzige Fledermaus, nicht fehlen sollte. Und weil es gut ist, Gutes zu tun, werden die für einen guten Zweck versteigert.
Dass nebenbei Fredbücher herumliegen und erwerbbar sein werden, war selbstverständlich.
 
Fredbücher am Stand der Edition ZweihornAus dem Gedanken wurden Mails, wurde ein Plan. Die Buchkinder Leipzig, eine wundervolle Buch- und Schreibwerkstatt für Kinder und Jugendliche, sollten den Erlös erhalten. Ein Beamer sollte meine Linienführung auf eine Leinwand werfen, und Stefan sollte anekdotesk moderieren.

Und so saß ich an dem Tisch, der im letzten Moment herbeiorganisiert worden war, und atmete ein und aus. Versuchte, nicht an das Wirrwarr in mir zu denken. Daran, dass die Kamera sich auch erst vor kurzem zu uns gesellt hatte. Daran, dass sie auf der falschen Seite stand und mehr Hand als Bild zeigte. Daran, dass jede einzelne Bewegung meines Stiftes beobachtet werden würde. Daran, dass Stefan zeitbedingt abgesagt und die Moderation an Andreas Dietz, selber kinderbuchiger Autor und Illustrator, abgegeben hatte. Daran, dass der Buchmessetag sich dem Ende neigte und mir theoretisch nur lächerliche 30 Minuten zustanden, um meine Werke zu kreieren.

Einatmen. Ausatmen.

Ich schaute in die erwartungsfrohen Gesichter im Publikum. Freunde, Familie, Fremde. Alle wirkten ungemein sympathisch. Auch Andreas strahlte Ruhe aus, und selbst mein Gesicht besaß ein Lächeln. Nur meine Finger zitterten, wussten nicht, dass alles gut werden würde.

Einatmen. Ausatmen.

Ich zeichnete ein Testbild. Kamera, Beamer, alles funktionierte. Die ersten Linien waren holprig, aber wenn ich mir Mühe gab, würde meine Hand das machen, was sie sollte.

Einatmen. Ausatmen.
Anfangen.

Andreas moderierte, begrüßte, stellte mich vor, stellte Fred vor, stellte das Buch vor. Erklärte das Prozedere.

Und schon erreichte mich der erste Wortvorschlag.
Mauer.

Meine Gedanken rasten.
Mau. Katze. Kartenspiel. Mauer als Komparativ von mau. Berlin. Pink Floyd.
Das Publikum lieferte ein weiteres Wort:
Straßenbahn.

Ich war verwirrt. Zwei Wörter? Wirklich?
Meine Erstgedanken plumpsten zu Boden, ich dachte an Tatra-Bahnen, an die gestrige Reise von der Buchmesse zur Hauptbahnhof, an das ungünstige Größenverhältnis von Straßenbahn zu Fred.

Ein weiterer Publikumseinwurf.
Das letzte Abendmahl.
Was?

Bastian krakeltDie Welt versank hinter einem Schleier und ich begann zu zeichnen.
Fred mit einem überdimensionalen Stift in der Hand. Auf eine Mauer ein Stück Kuchen malend.
Der Untertitel kam zuletzt: „Freds letztes Abendmahl. Gemalt.“
„Die Straßenbahn ist hinter der Mauer.“, sagte ich. Lächelte. Erntete Applaus.

Andreas fing die nächsten Vorschläge ein.
Baum. Toast. Heidi, das schielende Opossum.
Was?
Ich wusste noch nicht einmal, wie ein Opossum aussah!

Meine Finger griffen sich den Bleistift. Vorsichtshalber hatte ich von allen wichtigen Stiften zwei Exemplare bereitgelegt. Man konnte ja nie wissen.
Linien entstanden. Die Leinwand zeigte alles. Dennoch war war kaum erkennbar, was ich beabsichtigte.
Dann der Fineliner. Ich wurde konkreter.

Unterdessen versteigerte Andreas das erste Bild. Zehn Euro waren das Einstiegsgebot und wurden schnell überboten. Der Preis wuchs in die Höhe, doch ich hatte keine Zeit für Erstaunen, sondern versuchte, gleichzeitig sauber und rasch zu zeichnen, liebevoll, so wie ich es immer tat – nur schneller.

Das zweite Bild war ein Bilderrätsel. Erst zum Schluss beschriftete ich die einzelnen Elemente.
„Baum“ stand am Baum.
„Aß“ stand am Toast.
„Name“ stand am faul herumliegenden Fred, der ein Schild mit seinem Namen in die Höhe hielt.
Baumaßnahme.

Ein leises Ah! durchs Publikum, gefolgt von einem Applaus. Ich war es nicht gewohnt, für Zeichnungen oder Wortspielkonstruktionen beklatscht zu werden und senkte den Kopf. Trank einen Schluck Wasser.
Kam langsam zur Ruhe.

Zwischendurch hörte ich zu. Lächelte, beantwortete Andreas‘ Fragen zu Fred. Stellte fest, nicht gleichzeitig reden und zeichnen zu können. Fühlte mich wohl.

Die nächsten Stichwörter.
Fahrrad.
Buchmesse.
Das war fast einfach. Wenn man davon absah, dass Fahrräder nicht eben leicht zu zeichnen waren.

Bild Nummer 2 wurde versteigert. Und ich zeichnete. Fred mit einem riesigen Lineal. Neben einem Buch stehend. „Fahrräder fetzen“, stand auf dem Buch.
Und ganz am Ende ergänzte ich die Pointe. Kündigte sie großspurig an. Freute mich über die kleine Dramaturgie, die sich ergeben hatte.
„Ich bin ein Buchmesser!“, lachte Fred, und das Publikum war zufrieden.

„Schaffen wir noch eins?“, fragte Andreas, und ich nickte. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch wusste, dass wir überziehen durften. Wir waren die letzten hier am Lesetreff.

Muskelkater.
Das Stichwort brachte mich zum Grübeln. Apfelmus. Gestreifte Katze. Alice im Wunderland. Durchzechte Nacht.
Eine Idee fand mich:
Muskelkater. Katze. Maus. Fledermaus.

„Fleder-Mäuse haben es ja nicht so mit Muskel-Katern.“, sagte Andreas, und die Idee erlosch.
Meine Gedanken rannten davon, blieben bei Sport hängen.

Was ich nun zeichnete, war ein Comicstrip. Aus drei Paneln bestehend.
In denen Fred verkündete, dass er gerne Sport treibt, dabei aber stets ein wenig tranig ist.
Transport, eben.

Auch hier zögerte ich die Pointe heraus. Erwartete, dass das Publikum längst Bescheid wusste. Aber das tat es nicht
Ich färbte Freds Zunge rot, damit sich das Farbbild rentierte.
Freute mich über das abermalige Raunen, als die Pointe ankam.

Wieder wurde das Werk versteigert. Und wieder war der Preis höher, als ich anfangs erwartet hätte. Zwischen 30 und 50 Euro hatte jedes einzelne der Bilder eingebracht.
Und ich lehnte mich zurück. Versuchte, mich ein wenig zu entspannen.

Die Veranstaltung endete mit Applaus. Ich war geschafft, dankte Andreas, dankte dem Publikum.

Doch es war noch nicht vorbei. Denn zur Freude von Herrn Kälberer, dem Mann hinter meinem dem Fredbuchverlag Edition Zweihorn , waren inzwischen allerlei Bücher verkauft worden.
Und ich durfte sie nun signieren. Inklusive Zeichnungen nach Wunsch.

Und wieder zeichnete ich im Akkord. Plauderte nebenbei mit den Leuten. Freute mich.

Die Lautsprecher verkündeten das Ende des Buchmessentages. Ich war noch lange nicht fertig.
Der Wachmann kam vorbei und jagte uns raus. ich war noch immer nicht fertig.
Wir zogen zum Messestand der Edition Zweihorn um. Ich signierte weitere Exemplare des fetzigen Fredbuchs. Sah nun allmählich ein Ende. Sah den Wachmann, der uns erneut herausschmiss. Diesmal endgültig.

Der geschrumpfte Rest packte seine Sachen zusammen und suchte den Weg nach draußen. Verabschiedete sich voneinander.

Und erst als der Abend in geselliger Runde ausklang, als Pizza vor meiner Nase stand und dann auch meinen Magen füllte, spürte ich, wie die Hektik meinen Körper verließ. Wie der Schleier vor meinen Augen sich lüftete.
Wie glücklich ich war.

die beiden meerschweinchen hießen robert und knusel. robert war ein mädchen, aber niemand wusste es. „robert“, riefen alle, „komm, trink ein bier mit uns!“
doch robert mochte kein bier. nicht, weil sie ein mädchen war, sondern weil meerschweinchen kein bier mögen.
abgesehen von knusel, natürlich.
aber das ist eine andere geschichte.

Stifte

„Ich heiße Mark, und ich knabbere gerne an Stiften.“
Nur zögerlich hatten die Worte seinen Mund verlassen, doch die Gruppe, der ‚Kreis‘, wie ihn Frau Käsekuchen nannte, begrüßte ihn lautstark und im Chor.
„Hallo Mark.“, tönte es aus sechzehn Mündern, und es war die Stimme von Frau Käsekuchen, die besonders gut zu hören war. Frau Käsekuchen war der Inbegriff der Sanftheit, und ihrer Stimme wohnte stets eine solche Zärtlichkeit bei , dass man sich wünschte, Kuscheldecken würden aus ihr hergestellt werden. Es war letztlich ihre Stimme gewesen, die eindringliche Sanftheit ihrer Worte, die ihn dazu bewegt hatte, sich am Kreis zu beteiligen. Sich ihm zu öffnen.
Was er jedoch verschwieg, war, dass er gar nicht Mark hieß. Er hieß Marko, und er liebte es, Dinge zu verschweigen. Er hasste es zu lügen, doch nur zu gerne ließ er die Hälfte der Wahrheit ungesagt. Aber auch das würde er niemandem erzählen.
„Hallo Mark.“, grüßten alle, und Marko nickte schüchtern.
„Hallo.“, sagte er. Ganz leise.
Frau Käsekuchen lächelte. Ihr Lächeln war wie ihre Stimme, warm und weich, und wenn es Kuscheldecken aus ihrem Lächeln gegeben hätte, dann hätte sich jeder liebend gerne in eine solche gehüllt.
„Viele Leute knabbern an Stiften…“, sagte Frau Käsekuchen langsam und begann somit das Gespräch. Die ‚Runde‘, wie sie es nannte, vermutlich weil es so gut zu ‚Kreis‘ passte.
„Oder an Fingernägeln.“, warf jemand ein, und Marko verzog angewidert das Gesicht. Fingernagelknabberei war ekelhaft. Unästhetisch, unhygienisch, unnütz.
Dann lieber Stifte.
„Es begann ganz harmlos.“, sagte er leise und fühlte sich, als wäre er in einem Klischee gefangen. Marko zählte dreizehn ihm aufmerksam zugewandte Köpfe. Dreizehn, inklusive Frau Käsekuchen.
„Ich liebte es schon immer, an Dingen zu knabbern. Meine Mutter weigerte sich frühzeitig, mich zu stillen, weil sie die Schmerzen meiner ersten Zähnchen nicht ertrug. Als ich täglich einen Nuckel zerkaute, kaufte man mir irgendwann keinen neuen mehr.
Dann entdeckte ich Stifte.“
Marko grinste traurig. Frau Käsekuchen nickte, als würde sie sich ganz genau erinnern.
„Ich liebte es zu zeichnen, doch noch mehr liebte ich es, an den Stiftenden zu kauen, sie mit Bisspuren zu übersäen. Mein Mund war ein Mahlwerk, und kein Stift verweilte lange in meiner Nähe.“
Dass Mutter ihm die Stifte immer wieder wegnahm, verschwieg Marko. Dass sein Vater eines Tages ausrastete, als er Bissspuren auf seinem heißgeliebten Platinfüller entdeckte, verschwieg er ebenfalls.
„Mit vier Jahren hatte ich zu schreiben gelernt. Meine Eltern hielten mich für ein Genie, doch alles, was ich wollte, war in steter Nähe zu Stiften sein zu dürfen. An ihnen zu saugen, meine Zähne in den Kunststoff rammen. Spuren zu hinterlassen.“
Frau Käsekuchen schüttelte traurig mit dem Kopf. Seufzte. Und kannte noch längst nicht die ganze Geschichte.
Marko fuhr fort, und vierzehn Ohrenpaare lauschten ihm gespannt. Vierzehn. Immerhin.
„Es war an einem siebten April, als ich meinen ersten Bleistift zerbiss. Ostern nahte, und ich hatte meinen Eltern ein Bild vom Osterhasen malen wollen.“
Dass er gar kein Bild hatte malen wollen, verschwieg Marko. Auch dass er nur malte, um Stifte benutzen zu dürfen, erzählte er nicht. Auch, dass mehr oder weniger seine gesamte Karriere auf dem Wunsch nach der Nähe zu Stiften beruhte, behielt er für sich.
„Es kam, wie es kommen musste: Das Ende des Bleistifts fand meine Lippen, fand meinen Mund, fand meine Zähne. Ich kaute, erst wenig, dann mehr, dann voller Inbrunst. Dann knackte es.“
Marko hielt inne. Der gesamte Kreis sah ihn aufmerksam an. Selbst Frau Käsekuchens Lächeln war verschwunden.
„Das Knacken war das schönste Geräusch, das ich jemals vernommen hatte. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken, und verzückt hielt ich inne. Saß da und genoss den Moment.“ Marko hatte die Augen geschlossen und lächelte sehnsüchtig. „Speichel lief über den Bleistift in meinem Mund, füllte den entstandenen Bruch und spülte den Geschmack von Holz und Graphit hinaus. Nach dem ersten, akustischen Höhepunkt folgte nun ein zweiter, geschmacklicher, wesentlich subtiler, doch umso verzückender. Als der Geschmack des Stiftes meine Zunge, meine Sinne, fand, war ich verloren.“
Marko öffnete die Augen. Blickte traurig in die Runde.
„Für immer verloren.“
Der Kreis schwieg. Verwirrt. Entsetzt. Fasziniert.
„Bis heute verbrauche ich täglich fünf bis neun Bleistifte. An schlechten Tagen bis zu zwanzig. Ich knacke sie, sauge kurz, dann genieße ich. Knacke wieder, lasse das Aroma auf mich wirken. Bis der ganze Stift verschwunden ist.“
Frau Käsekuchen sah blass aus. Sie stammelte ein paar Laute, doch niemand hörte ihr zu.
„Nehmt nicht irgendwelche Stifte. Nehmt Bleistifte, weiche am besten. B oder 2B. Staedtler ist gut, Faber-Castell ist besser. Vor allem die mit den Noppen.“
Er kramte in seiner Tasche. Holte eine Schachtel heraus. Als er begann, Bleistifte im Kreis zu verteilen, fand Frau Käsekuchen ihre Sprache wieder.
„Aber Mark!“, stotterte sie. „Das geht doch nicht!“
Doch Marko beachtete sie nicht. Schaute auf die Schachtel Bleistifte, die sich allmählich leerte.
Denn auch das hatte er verschwiegen: Seine Sucht war ansteckend. Schon hörte das erste, geliebte Knacken von Holz, ein genussvolles Seufzen, weiteres Knacken.
„Der ist für Sie, Frau Käsekuchen.“, sagte Marko und reichte ihr den letzten Stift. Den er extra für sie reserviert hatte. Der besonders verlockend aussah. Besonders knackig.
Frau Käsekuchen blickte auf Marko, blickte auf den Stift, zögerte, nickte dann und lächelte sanft.
„Leben Sie wohl.“, grinste Marko und entblößte die zahlreichen Holzsplitter zwischen seinen Zähnen.

Alles Gute

Alles Gute!, wünsche ich dir ins Leere. Es fehlt an Luftballons und Partyhüten, an Kuchen und feiernden Gästen. Und es fehlt an dir.
In der Ferne birgt ein dunkler Stein deine Reste, und vielleicht trägt er heute eine einzelne, einsame Geburtstagskerze. Doch niemand wird kommen, sie auszublasen.
Du fehlst mir., denke ich, und begreife, wie wahr das ist. Wie sehr ich das vergaß. Wie sehr ich dich vergessen habe.
Die Erinnerungen an dich verblassen, sind nur noch bewegte Fotos, Wackelbilder, um die herum eine zerbröckelnde Geschichte schwebt. Und vielleicht erinnere ich mich auch nicht länger, wiederhole nur die Erzählungen, die immer wiederholt werden, finde nur die Bilder in mir, die ich aus Fotoalben stahl.
Zwischen alledem schwebt stets die düstere Drohung deines kommenden Welkens, und jede Erinnerung birgt den bitteren Beigeschmack deines baldigen Fehlens.
Ich entsinne mich deines Bartes und schmunzle. Er stand dir nie, und niemals begriff ich, warum er unbedingt dein Gesicht füllen musste. Dann blicke ich in den Spiegel und sehe meinen eigenen Bart, schmunzle noch ein wenig mehr.
Das Leben neigt zu Wiederholungen, denke ich, und frage mich, wie viel Wiederholung ich bin, wie viel von dir ich in mir trage. Und weiß, dass ich mir diese Frage bereits tausendfach stellte. Dass sie keine Antwort braucht.
56 Jahre wärst du heute geworden, rechne ich. 56 Jahre. Das ist nichts, denke ich. Das ist nichts!, schreit es in mir, und Tränen bahnen ihren Weg.
Ich setze mich auf den Boden. Weine.
Die Tränen sickern zögerlich, als hätten sie verlernt, mich zu verlassen. Ich bin erwachsen geworden, denke ich, doch in diesem Augenblick bin ich Kind. Sitze auf dem Boden, weine und sehne mich danach, in deiner Umarmung Trost zu finden.
Dann bin ich leer, verweile noch, halb Kind, halb ich, stehe auf und packe meine Sachen. Wie lange ist es her, dass ich zum letzten Mal weinte?, frage ich mich, aber der Gedanke findet keinen Halt. Verliert sich zwischen den flatternden Fetzen, die nun dein Gedenken bilden.
Alles Gute!, wünsche ich traurig ins Leere.
Gehe zur Arbeit, als wäre dies ein ganz normaler Tag.