Zettel. Überall Zettel.
Der Bezug des Zimmers löste in mir eine Kette von Erinnerungen aus: Schließlich hatte ich diverse Jahre lang in WGs gelebt, wusste, wie man sich mit vier weiteren eine Toilette teilte und sich dennoch Privatsphäre bewahrte. Nun jedoch musste ich feststellen, dass es einen immensen Unterschied zwischen einer Wohngemeinschaft und der euphemistisch „Pension“ genannten Behausung, die mir derzeit zweite Heimat war, gab:
Zettel.
Zettel waren zweidimensionale Stellvertreter für Regeln. Und Regeln gab es anscheinend überall und für alles. Hätten diese Zettel sich in einer WG befunden, hätte ihre Lebenszeit keine zwei Tage betragen. Nur allzu rasch hätten aufsässige Gemüter die Wände von mahnenden Zwängen befreit und – im Idealfall – den Papiermüllcontainerinhalt um mehrere Handvoll fröhlicher Schnipsel erweitert.
Doch hier in der Pension hingen die Zettel offensichtlich seit Jahren und blichen langsam vor sich hin.
Manche der Zettel, manche der Regeln, waren in ihrer Lebenszeit korrigiert worden, Zeilen waren mit Korrekturflüssigkeit übertüncht, andere nachträglich, handschriftlich, ergänzt.
Überhaupt: Handschrift. Während einige der Zettel durchaus den Innereien eines Farbdruckers entsprangen und dann mittels Schere zu klebbarem Format zurechtgestutzt worden waren, überwogen doch die handbeschriebenen. Mit Buchstaben, die an Sütterlin erinnernd das Alter der Regelsetzenden verrieten und sich der letzten Neuerungen deutscher Rechtschreibregularien verweigerten, gemahnte nahezu jede Wand der Pensionsetage der Dinge, die befolgt werden mussten:
Essensreste durften keineswegs im gelben Sack landen, die Dusche war nach Benutzung zu reinigen, der Duschvorhang so zu justieren, dass Wassertropfen keine Chance hatten, den Kachelboden zu benetzen. Flaschen gehörten in den Eimer, Abwaschreste nicht ins Waschbecken.
Manche der Regeln entsprangen reinem Menschenverstand. Doch allein ihre Niederschrift erweckte in mir Widerspenst: Ich wollte faulige Pflaumen in den Gelben Sack werfen, wollte die Haustür bei Anbruch der Dunkelheit aufreißen, wollte einen Kärcher mieten und beide Bäder mit Wut und Wasser fluten.
Mein Zimmer war ein Heiligtum. Hierhin hatte sich kein Zettel, keine Regel, verirrt. Hier war ich sicher.
Als ich jedoch eines Tages nach langem Tagewerk heimkehrte, mit lächerlich grobem Schlüssel meine lächerlich dünne Zimmertür öffnete und die wenigen Quadratmeter betrat, die mir vorübergehend Unterschlupf boten, bot sich mir ein Anblick des Grauens.
Auf grauem, grauenvollem Teppichboden lag ein Stück linierten Papiers, fünf Zeilen handgeschriebenen Mahnens.
Eine Anrede gab es nicht, keinen Abschiedsgruß, nur eine Unterschrift der Vermieterin.
Und einen Hinweis, der weniger Hinweis als viel mehr Drohung war:
Bei Toilettentätigkeiten, die größeren Papierbedarf hatten, wurde mir geraten, das Papier im beistehenden Mülleimer zu entsorgen, nicht in der Toilette selbst. Diese neigte anscheinend zu Verstopfung.
Zahlreiche Fragen sprangen in meinen Kopf.
Wieviel war zuviel?
Hatte jeder Bewohner einen solchen Zettel erhalten?
Oder nur ich?
Hatte man mich als Schuldigen ausgemacht?
Wenn ja, wie?
Wurden meine Badezimmeraktivitäten überwacht?
War die Toilette tatsächlich verstopft gewesen?
Oder war das eine Warnung?
Hatte ich in den letzten Tagen überhaupt papierintensive Tätigkeiten ausgeübt…?
Antworten brauchte ich nicht.
Ich schloss die Tür mit mehr Inbrunst als nötig, griff mir einen Apfel und vertilgte wütend sein Fruchtfleisch.
Nur kerngefüllte Innereien blieben übrig.
Ich warf einen letzten Blick auf den Zettel, wickelte den Apfelrest ein und warf ihn in den Gelben Sack.