Das Geheimnis

Projekt*.txt präsentierte uns ein viertes Wort. Das Wort heißt „mischen“. Ich nahm es, verquirlte es mit einer kleinen, neulichen Alltagsbeobachtung und kreierte somit die folgende Geschichte:

Das Geheimnis
18.04.2018

Ihr Atem war schwer. Ihre Taschen waren schwer. Alles war schwer.

Sie keuchte. Spürte, wie sich zwischen ihren dünnen Haaren Schweißtropfen bildeten. Lief ein paar Schritte, rannte fast. Setzte dann die Taschen ab. Keuchte erneut.
Was für eine blöde Idee. Der Laden war nur ein paar Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, und normalerweise kaufte sie dort immer ein. Kaufte ein und trug ihre Einkäufe nach Hause. Seit Jahren. Jahrzehnten.

Doch heute hatte sie sich übernommen. Hatte schlecht geschlafen, nur zwei oder drei Stunden, hatte sich nicht gut gefühlt, sich trotzdem dennoch nach draußen gezwungen. Hatte nicht nur die üblichen Sachen besorgt, Brot, Käse, Wurst, was man so braucht, sondern mehr. Obst für den Kuchen. Milch. Sogar ein Fläschchen Sekt. Was für eine blöde Idee.

Nun stand sie hier, mit vier Taschen anstelle von einer, an jeder Hand zwei, erst wenige Meter vom Laden entfernt. Sie schwitzte, keuchte. Nahm sich zusammen. Hob die Taschen an. Mühlensteinschwer kamen sie ihr mittlerweile vor. Lief ein paar Schritte. Trippelte. Fünf Meter. Sieben Meter. Pause. Setzte die Taschen ab.

Leute gingen vorüber. Das konnten Leute gut: Vorübergehen, nicht innehalten, wegsehen. Sie war 76 Jahre alt, ihr Rücken war krumm, ihre Haare glommen in hellem Grau. Alles an ihr schrie förmlich: Ich bin alt. Selbst ihre Kleidung, wenn sie ehrlich war.
Doch niemand blieb stehen. Hielt an und fragte, ob er helfen könne. Sie wollte keine Hilfe, aber trotzdem. Fragen wäre nett.

Herr Ludwig, der Hausmeister, schob das auf die Handys. Auf die vermaledeiten Smartphones. Doch sie wusste es besser: Menschen waren nun einmal so. Waren immer so gewesen. Die Handys halfen nicht. Doch wenn ihre Blicke nicht auf den Bildschirmen klebten, fanden Menschen eben andere Gründe wegzusehen. Sich nicht noch zusätzliche Probleme aufzuladen. Man hatte schon genug eigene.

Also lief sie. Rannte fast. In winzigen Etappen. Graue Maus in grauer Kleidung. Hob vier pralle Taschen wenige Zentimeter über den Boden und rannte los. Bis sie nicht mehr konnte. Bis die erste Tasche auf dem Boden schliff. Bis die Arme zu schwer wurden, die Griffe sich zu tief in die Hand pressten. Bis sie wieder innehielt. Ihren Atem suchte.

Für solche Situationen gab es eigentlich Enkel. Oder Nachbarskinder. Doch ihr Enkel wohnte vierhundert Kilometer entfernt, war Mittelpunkt eines eigenen Universums mit eigenen Problemen. Ein Anruf pro Woche. Vier Besuche im Jahr. Das musste reichen.
Und die Kinder der Nachbarn waren schon vor Jahrzehnten ausgezogen. Hatten selber Kinder. Kindeskinder teilweise. Und Schmerzen. Natürlich.

Anheben. Trippeln. Vier Meter. Fünf Meter. Los, noch zwei Schritte! Abstellen. Atmen.

Es war nicht mehr weit. Sie hatte allerdings ohnehin nichts vor. Wollte Kuchen backen. Wollte Mehl und Eier und Zucker zusammenmischen. Butter und Backpulver dazu. Vanillepulver. Vielleicht ein wenig Zimt.
Die Äpfel würde sie schälen und in kleine Stücke schneiden. Halbmonde, hatte ihre Tochter immer gesagt. Und sich einen in den Mund gestopft.

Diesmal brauchte sie länger, um zu Atem zu kommen. Stand, an die Hauswand gelehnt, da. Mit Armen, die entkräftet an ihr herabhingen. Mit Händen, die acht Schlaufen hielten. Vier Taschen. Schwere Taschen. Die immer schwerer wurden.

Das Geheimnis, hatte sie zu ihrer Tochter geflüstert, ist das Apfelmus. Denn Apfelstücke allein waren trocken und langweilig. Wenn man sie jedoch in Apfelmus warf, wenn man die Mischung ordentlich rührte und liebevoll auf dem Teig verteilte – dann wurde es perfekt.

Das Geheimnis war kein Geheimnis. War nie eins gewesen. Stammte aus irgendeinem alten Kochbuch. Aber nur so durfte ihr Apfelkuchen gebacken werden. Mit Apfelmus.
Ihre Tochter hatte immer gerührt. Hatte die Halbmonde in die Schüssel geworfen und in das süße Mus gerührt. “Du musst das gut vermischen.”, hatte sie gesagt. “Dann wird der Kuchen besonders lecker.” Und ihre Tochter hatte gerührt, untergehoben, gekleckert, gemischt. Und verschwörerisch gegrinst: Unser Geheimnis.

Der Hauseingang war in Sichtweite. Natürlich lag noch eine Ampel dazwischen. Eine kleine Allee mit Kastanienbäumen, die bereits erste Blüten trugen. Und eine Nebenstraße, die es ebenfalls zu überqueren galt. Doch der Hauseingang, das Ziel, war sichtbar.

Anschließend würde es leichter gehen. Vor ein paar Jahren hatte die Hausverwaltung einen Fahrstuhl eingebaut. Er war winzig, doch er half, das Hindernis zu überwinden, das die zwei Etagen bis zu ihrer Wohnung mittlerweile für sie darstellten.

Danach: Küche. Auspacken. Schürze. Backen.
Doch vorerst: Losgehen. Die acht Schlaufen greifen und losgehen. Die Arme heben, die Einkäufe vom Boden lösen und losgehen. Nur ein paar Schritte. Kein Problem.

Diesmal waren es nur zwei Schritte. Drei, wenn man den ersten, halben, mitzählte. Dann war es vorbei. Sie setzte die Taschen wieder ab. Ließ sie fast fallen.

Der Kuchen sollte wundervoll werden. Sollte die Wohnung, ihre viel zu große, viel zu leere Wohnung, mit warmen Düften füllen, ihr Herz streicheln.
Alles Gute, würde sie sagen, vielleicht zum Kuchen, vielleicht in das leere Wohnzimmer, und an ihre Tochter denken. Die sich bestimmt gefreut hätte. Die sich über Apfelkuchen immer gefreut hatte.

Nicht jetzt, ermahnte sie sich. Hielt die Träne zurück. Griff verzweifelt nach den Taschen. Lief los. Vier, sieben, zwanzig Schritte. Biss die Zähne zusammen. Lief. Dachte nicht. Bannte die Blicke auf den Boden und lief. Bis zur Ampel.
Keuchte. Schwitzte. Weinte.

“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte eine Stimme. Fragte Herr Ludwig.
Sie sah auf. Nickte matt.

Herr Ludwig mochte Apfelkuchen.