Der Mann in Schwarz

Die Mittagssonne brannte grell und heiß. Schattenlos erstreckte sich das staubige Grau der Straße vor Herrmanns geblendeten Augen. Er schwitzte unter seinem Cowboyhut, doch verzog keine Miene.
Den Hut hatte er in einem Secondhandladen für Karnevalsartikel erstanden. Er war aus Pappe, und irgendjemand hatte einen Sheriffsstern aus Alufolie darauf befestigt. Aus der Ferne betrachtet sah Herrmanns Cowboyhut verdammt echt aus.
Herrmann schwitzte. In Ermangelung büffellederner Cowboystiefel hatte er sich die nächstbesten Stiefel geschnappt, die ihm zur Verfügung standen: Gummistiefel. Moosgrüne.
Herrmann spürte, wie seine Füße in warmen Salzwasserpfützen badeten, doch verzog keine Miene. Er war schließlich ein Mann.
Heute Abend würde er sich vielleicht seiner Kleidung entledigen und ein Schaumbad genießen, doch in diesem Augenblick brauchte er stählerne Nerven. Ein Schweißfaden rann seine Wange hinunter, doch Herrmann beachtete ihn nicht. Seine gesamte Konzentration galt seinem Gegenüber, dem Mann in Schwarz, dessen Silhouette exakt 50 Schritt entfernt in der Hitze flimmerte.
Es hatte keine zwei Minuten gedauert. Kaum war Herrmann aus dem Zug gestiegen, hatte einen ersten Blick auf das Städtchen geworfen, hatte ihm der Mann in Schwarz auf die Schulter getippt. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt, jede einzelne Falte berichtete von Abenteuer und Gefahr. Mit seinem Drei-Tage-Bart hätte man Eisen feilen können. Aus seinen stahlblauen Augen funkelte der Tod. Der Mann in Schwarz hatte ihn angesehen, einen kurzen Blick auf den Sheriffsstern an Herrmanns Karnevalshut geworfen, ausgespuckt und mit rauher Stimme jene zwei Sätze gesagt, die Herrmanns Leben verändern würden:
„Es kann hier nur einen geben. Um Zwölf vor dem Saloon.“
Dann hatte er einen seiner beiden Revolver abgeschnallt und Herrmann vor die Gummistiefel geworfen. Herrmann trug keine Waffen. Seit dem Unfall mit dem Eichhörnchenbaby weigerte er sich sogar, schärfere Küchenmesser zu berühren.
Der Fremde in Schwarz hatte verächtlich auf die Straße gespuckt und war gegangen. Seine Sporen hatten leise bei jedem Schritt geklirrt.
Und nun stand er hier. Herrmann Piesecke, Blumenhändler aus Niedergrubenbach an der Mulze, mit einem Papphut auf dem Kopf, unter dem der Schweiß in Strömen floß, und einem Leben, das in wenigen Augenblicken durch eine Kugel beendet werden würde.
„Es kann hier nur einen geben.“, hatte der Fremde gesagt und somit Herrmanns Schicksal besiegelt. Der Fremde kannte keinen Frieden, nur den Tod, den ehrenhaften Tod. Herrmann hielt nicht viel von Ehre, doch war sie das Letzte, was ihm geblieben war. Das Vorletzte, um genau zu sein, denn an seiner rechten Hüfte hing schwer und eisern der Revolver des Mannes in Schwarz.
Ein frischer Lufthauch kühlte Herrmanns Gesicht. Plötzlich war der Mann in Schwarz deutlich zu erkennen. Herrmann sah, wie der Mann in Schwarz die Hand zum Revolver führte, und reagierte instinktiv. Ohne darüber nachzudenken, daß seine fünf Probeschüsse vor wenigen Minuten das Ziel allesamt meterweit verfehlt hatten, ohne darüber nachzudenken, daß diese Bewegung die letzte sein würde, die er in seinem Leben tat, zog er – und schoß. Ohne zu zielen.
Herrmann konnte noch nicht einmal sagen, ob der Lauf des Revolvers in die korrekte Richtung gezeigt hatte. Doch er hatte geschossen. An Herrmanns Ohr pfeifte es kurz und laut, dann war es still. Der Mann in Schwarz sackte zusammen, hielt sich die linke Brust.
Fünfzig Schritte durch den Wüstenstaub. Der Mann in Schwarz lag auf dem Boden. Im blechernen Stern an seiner Brust klaffte ein Loch, aus dem es rot pulsierte. Der Mann in Schwarz schwieg – und starb.
„Es kann hier nur einen geben.“, sagte Herrmann, und seine Stimme klang hart und männlich. Vom Anblick des Blutes war ihm schlecht geworden, doch er verzog keine Miene.
Er betrat den Saloon, bestellte lautstark beim Wirt ein Frischgezapftes. Doch es gab keinen Wirt. Es gab überhaupt niemanden. Der Saloon war leer. Verwirrt rannte Herrmann auf die Straße, zum Nachbarhaus, riß die Tür auf.
„Hallo? Ist hier jemand?“ Keine Antwort. Auch nicht im nächsten und übernächsten Haus. Die gesamte Stadt war menschenleer!
„Es kann hier nur einen geben.“, hatte der Mann in Schwarz gesagt.

[Im Hintergrund: Dark Tranquillity – „Fiction“]

Peter und die Unke

Als Peter das Badezimmer betrat, hüpfte gerade eine blaugrün gestreifte Unke aus der Klopapierrolle.
„Was machst du denn da?“, fragte Peter verdutzt, obwohl ihm sicherlich bessere Fragen eingefallen wären, hätte er nicht so dringend auf Toilette gemußt.
„Ich wohne hier.“, antwortete die Unke und lief dabei ein wenig orange an. Peter zog seine Schlafanzughose runter, setzte sich auf die Klobrille und überlegte:
„Du wohnst in der Klopapierrolle?“
„Nein, natürlich nicht! Ich wohne im Klo!“
„Aber ist das nicht ziemlich widerlich?“, fragte Peter und verrichtete sein morgendliches Geschäft. Die Unke sah interessiert zu. Wenn man es genau nahm, glotzte sie eigentlich nur. Ob sie interessiert war, konnte Peter nur schwer einschätzen. Wenn man es noch genauer nahm, glotzte die Unke eigentlich immer. Das lag an ihren Glubschaugen, die so wirkten, als hätte sie irgendwer einfach auf den Körper aufgeklebt. Außerdem ging von ihnen ein grüngoldener Schmmer aus, der nichts und alles zugleich zu bedecken schien. Peter wußte nie, wohin die Unke gerade starrte.
„Natürlich wohne ich nicht in der Toilette. Das wäre widerlich!“, meinte die Unke nach einer Weile, und Peter hatte das Gefühl, das sie sich damit selbst widersprach. Doch er zuckte mit den Schultern. Was wußte er schon von der unter Amphibien üblichen Gesprächsführung?
„Die Toilette ist nur ein Tor.“, erklärte die Unke. „Und ich bin nur der Hüter.“
„Der Hüter?“
„Ja, das sieht man an meinem unsichtbaren Hüter-Hut.“, sagte die Unke und patschte sich demonstrierend auf ihren feuchten Kopf. Sie hatte Recht: Der Hut war wirklich unsichtbar.
Peter stand auf, zog die Hose hoch und betätigte die Spülung. Erschrocken hüpfte die Unke beiseite.
„Die Toilette ist also ein Tor…“, murmelte Peter, während der dem wirbelnden Wasser hinterherblickte.
„Zu einer anderen Welt.“, nickte die Unke – oder versuchte es zumindest. Es sah nicht aus wie ein echtes Nicken aus, doch Peter konnte erkennen, was gemeint war.
„Was für eine Welt?“, fragte Peter neugierig.
„DAS … darf ich nicht sagen. Ich bin nur der Hüter. Das sieht man an meinem Hut.“
Peter nickte.
„Und wie gelangt man dorthin?“
„Du mußt nur eine einzige Rätselfrage richtig beantworten, die der verantwortliche Torhüter dir stellt.“
„Mehr nicht?“
„Mehr nicht.“
„Also los.“, meinte Peter, den die Kröte allmählich nervte.
„Unke.“, verbesserte die Unke.
„Dann eben Unke.“, murmelte Peter, den die Unke allmählich nervte.
„Die Frage lautet … an dieser Stelle mußt du dir einen Trommelwirbel vorstellen … : Wieviel ist zwei plus drei?“
Peter hatte es satt. Diese glubschäugige Unke veralberte ihn doch! Trotzig antwortete er „Achtundzwanzig.“ und hoffte, fortan in Ruhe gelassen zu werden. Er stürmte in Richtung Badezimmertür.
„Achtundzwanzig ist richtig!“, jubelte die Unke und das Wasser in der Toilette brandete auf. Es toste und tobte und formte sich zu einer riesigen Welle, zu einer feuchten Hand, die tropfend nach ihm griff und ihn in die Toilette zerrte.
„Neeeein…!“, schrie Peter, doch schon war er in der Toilette verschwunden. Die Unke gluckste vergnügt: „Ich bin der Hüter.“
Als Peter zu sich kam, befand er sich in einem langen, schlecht beleuchteten Korridor. Sein Schlafanzug war trocken, als wäre er nie durch das Klo gezogen worden, und nirgends sah er eine Unke herumhüpfen.
Er ging ein paar Meter. Seine Schritte hallten auf dem langen Gang wieder. Er fühlte sich unwohl.
„Ich will nach Hause!“, rief er, doch nur das Echo des Korridors antwortete. Er begann zu rennen. Türen um Türen flogen links und rechts an ihm vorbei, aber der Gang nahm kein Ende.
Erschöpft hielt er nach ein paar Minuten inne.
„Ich will nach Hause.“, flüsterte er. Vorsichtig öffnete er die Tür links von ihm und lugte hinein. „Ein Badezimmer.“, wunderte er sich.
Als Peter das Badezimmer betrat, hüpfte gerade eine blaugrün gestreifte Unke aus der Klopapierrolle.
„Was machst du denn da?“, fragte Peter verdutzt.

James Dean

Ich konnte mich nicht daran erinnern, das James-Dean-Poster jemals an der Wand meines Zimmers aufgehängt zu haben, doch jetzt blinzelte es mir verschwörerisch zu. Nicht „es“, „er“! Ich hatte noch nie Interesse für James Dean aufbringen können, auch klebte ich mir längst keine Poster mehr über die Tapete. Aber James Dean hing dort oben, bestückt mit dem typischen Cowboyhut und lässiger Miene, und zwinkerte mir zu.

Er wirkte lebendig, plastisch und realistisch, und fast schien es mir, als bedürfe es nur eines Schrittes in das Poster hinein, und ich stünde neben James Dean, in dessen Hand eine filterlose Zigarette vor sich hinglimmte. Die Zigarette war echt, ich roch es, doch ihr Qualm klebte starr auf der Fotografie.

Ich lächelte unsicher. Vielleicht war ich verrückt. Erst gestern hatte ich entdeckt, daß mein blauer Kugelschreiber leuchtete, wenn ich ihn berührte. Bei allen anderen blieb er langweilig blau, doch sobald ich meine Finger um ihn schloß, strahlte er ein fast überirdisches Leuchten ab. „Entweder“, hatte ich gesagt,“bin ich göttlich oder der Kugelschreiber oder wir beide.“
Die anderen hatten gelacht, mir den Kugelschreiber entrissen und waren weggelaufen.

Und nun zwinkerte James Dean mir zu. Von einem Poster.
‚Warum‘, überlegte ich, ’nennt man Schauspieler eigentlich stets bei ihrem vollen Künstlernamen?‘ Es kam mir falsch vor, James Dean als „Mr Dean“ zu bezeichnen [selbst wenn man die Namensähnlichkeit zu Mr Bean ignorierte]. Und ein schlichtes „James“ war ohnehin respektlos. Der Mann war schließlich tot.

Ich hatte noch nie einen einzigen Film gesehen, in dem Mr Dean, James, mitgespielt hatte. Natürlich hatte ich von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“ gehört und auch davon, daß der arme Herr Dean bereits in jungen Jahren verstorben war. Aber mich hatte das nie interessiert.
Und nun starrte ich auf ein Poster an meiner Wand, das mir zuzwinkerte.

„Komm mit!“, schien Herr Dean überlegen zu lächeln, während die Zigarette in seiner Hand nutzlos glimmte.
‚Komm mit!‘, fauchte ich angewidert in Gedanken. Das war doch eine Zeile aus dem schrecklichen Lied „Abenteuerland“ von Pur, in dem es hieß, daß der Eintritt den Verstand koste, Sollte ich wirklich in das Poster steigen und dabei den Verstand verlieren, dann würde ich lieber darauf verzichten.

Der Kugelschreiber, der gestern so wunderschön, ja himmlisch, geleuchtet hatte, fehlte mir. Es war nicht nur mein Lieblingskugelschreiber gewesen, jener, mit dem ich all meine Texte und Gedichte zu schreiben pflegte [In dieser Hinsicht ähnelte ich tatsächlich Herrn Dean: Wir hatten beide noch nie einen Computer benutzt.], sondern sein magisches Leuchten hatte mir Kraft gespendet, Entschlußkraft, Selbstvertrauen …

James Dean hing immer noch an meiner Wand und zwinkerte verlockend. Es war leicht: Ich brauchte nur die Hand auszustrecken und in seine Welt zu greifen. Wenn meine Finger gegen Beton stießen, wäre ich nur einem weiteren Irrsinn aufgesessen und hätte mir wohl auch meine Kugelschreibergöttlichkeit eingebildet. Wenn ich aber hindurchdrang, plötzlich in der anderen Welt war – dann war alles möglich. Vielleicht war ich tatsächlich auserwählt, vielleicht wartete eine Mission auf mich, vielleicht …

Vielleicht sollte ich James Dean wirklich besuchen. Immerhin, allzu unsympathisch sah er nicht aus. Und in den Dreißigern war es vielleicht auch ganz nett. Oder in den Vierzigern. Oder wann immer dieses Foto geschossen worden war.

Warum war James Dean eigentlich bunt? Gab es überhaupt Farbfotos von James Dean? Hatte es damals, in den 30ern, 40ern, 50ern – oder wann auch immer Herr Dean zu Ruhm gelangt war – schon Farbfotografie gegeben?
Wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Einem Schwarz-Weiß-Foto hatte ich niemals vertraut.

James, ich duzte ihn jetzt, blinzelte erneut. Erstaunlich, wie geduldig er mir zublinzelte, während ich untätig nach einer Entscheidung suchte. Ich wandte mich ihm zu. ‚Na gut‘, dachte ich, ‚was habe ich schon zu verlieren?‘

James schien zu lächeln. Er sah wirklich sehr sympathisch aus mit seinem Cowboyhut, seinen Cowboystiefeln und seinem Cowboyhemd, in dessen Tasche ein Kugelschreiber steckte …

Moment, das war doch MEIN Kugelschreiber! Wie konnte …? Dieser verdammte …!

Kurzentschlossen griff ich in das Poster, zerrte den Kugelschreiber aus James Brusttasche und gab dem Mistkerl noch eine schallende Ohrfeige, bevor ich das alberne Poster von der Wand riß, zerknüllte und in den Mülleimer warf.
Der Kugelschreiber in meiner Hand leuchtete zufrieden.

Theodor

Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, stopfte zitternd seine Pfeife.
„Ich bin alt.“, erklärte er Johann, dem fröhlichen Fineliner, der mal wieder zu Besuch war. Johann kam alle zwei, drei Jahre vorbei und brachte jedesmal ein wenig neuen Pfeifentabak mit. In der Antarktis war so etwas nur schwer zu bekommen.
„Ich bin alt.“, erklärte Theodor, so wie er es schon Tausende Male zuvor während des Pfeifenstopfens erklärt hatte. Ältere Pinguine neigen dazu, sich unwissentlich zu wiederholen.
„Ich bin alt.“, meinte Theodor, doch seine schwarzen Knopfaugen funkelten vor Vergnügen. Von wegen „unwissentlich“. Theodor liebte es, sich absichtlich zu wiederholen und damit sein – selbst für einäugige Kaiserpinguine – beeindruckendes Alter zu betonen. Theodor hatte seinen dreiundneunzigsten Geburtstag hinter sich und frierte häufiger als früher. Ansonsten ging es ihm aber gut. Wenn man von dieser einen Sache absah…
„Wenn man alt wird,“, erklärte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin seinem Freund Johann, der diese Rede schon hundertfach angehört hatte, „friert man häufiger. Deswegen die Pfeife.“ Er wedelte mit der Pfeife, und Johann zündete sie an. Ein Ritual.
„Doch ansonsten geht es mir gut.“, führte Theodor weiter aus. Johann nickte verständnisvoll, wie es von ihm erwartet wurde. Er hatte es noch nie gewagt, Theodor bei seinen immergleichen Monologen zu unterbrechen und lächelte sogar insgeheim, wenn er wieder einmal das verräterisch Funkeln in des Pinguins Knopfaugen entdeckte, das bezeugte, daß der alte Theodor doch nicht so senil war, wie er gerne vorgab.
Theodor zog an der Pfeife und blies zwei Kringel in die klirrend kalte Antarktisluft. Verzückt sahen beide zu, wie sie sich langsam auflösten und verblaßten.
„Mir geht es gut.“, meinte Theodor nach einer Weile. „Wenn da nicht diese eine Sache wäre…“
Johann horchte auf. ‚Nanu!‘, dachte er sich, ‚Das sind ha völlig neue Worte aus Theodors Schnabel!‘
Theodor seufzte und schüttelte träge mit dem Kopf.
„Äh…“, wagte Johann, der fröhliche Fineliner, zu fragen, während seine Kappe nervös klackte. „Was für eine Sache denn?“
Nun war es geschehen! Das immergleiche Ritual war unterbrochen! Eigentlich hätte Theodor von früher erzählen müssen, von seiner Kindheit, von den ersten Menschen, denen er begegnet war und die Pfeife entwendet hatte, während sie sich im ewigen Eis verirrten. Doch Theodor hatte anderes im Sinn. Heute war ein besonderer Tag!
„Heute ist ein besonderer Tag.“, meinte der einäugige Pinguin. „Der Osterhase war da.“
„Aber… aber…“, stammelte Johann, „Er kommt doch jedes Jahr. Eingehüllt in unzählige Fuchspelze und trotzdem zitternd versteckt er die bunten Ostereier hastig in Löchern und Spalten, bevor er eilig wieder von dannen hoppelt…“
„Der Osterhase war da.“, wiederholte sich Theodor, doch das verräterische Funkeln in seinen schwarzen Knopfaugen blieb aus. „Der Osterhase war da, aber wir können die versteckten Ostereier nicht finden.“ Theodor schüttelte traurig sein Kaiserpinguinhaupt.
‚Heute sieht er zum ersten Mal wirklich alt aus.‘, dachte Johann bekümmert.
Plötzlich kam eines der plüschigen Pinguinkinder hastig angetapst. Sven oder Rod oder Piet hieß es und rief schon von weitem: „Großvater! Großvater! Wir haben ein Ei gefunden!“
Erleichtert atmete Großvater Theodor, der einäugige Pinguin, auf. Doch Johann, dessen Blick viel schärfer war, erkannte, daß trotz des gefundenen Ostereis sich weitere Probleme ankündigten.
„Großvater! Großvater! Wir haben …“
„Ich weiß.“, unterbrach Theodor das nervige Gepiepse seines Enkelkindes. Er duldete es nicht, wenn man seinen Hang zu Wiederholungen nachahmte. Sven oder Rod oder Piet verstummte.
„Nun zeig schon her.“, brummte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, versöhnlich und schmauchte noch einen Rauchkringel in die Antaktisluft. Sven oder Rod oder Piet war mittlerweile bei ihm angekommen und holte nun hervor, was er sorgsam unter dem flauschigen rechten Flügel transportiert hatte.
‚Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.‘, dachte Johann, der fröhliche Fineliner.
„Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.“, sagte er.
„Aber…“, stotterte Theodor, der seinem einen Auge nicht trauen mochte. „Das Ei ist ja weiß!“
Sven oder Rod oder Piet nickte bekümmert.
„Dieser verdammte Osterhase!“, empörte sich Theodor. Hektisch wirbelte er mit der Pfeife umher, so daß glühender Tabak herausstob und sich zischend in den Schnee grub. „Ich bin dreiundneunzig Jahre alt, und immer waren die Ostereier bunt!“
„Vielleicht hat er vergessen, sie zu bemalen.“, schlug Johann, der fröhliche Fineliner vorsichtig vor.
„Dieser verdammte Osterhase!“, schimpfte Theodor noch einmal. „Wir werden Wochen brauchen, um alle Ostereier zu finden!“
„Weiße Eier sollte man nicht in weißem Schnee verstecken.“, piepste Sven oder Rod oder Piet und sagte damit den schlauesten Satz seines Lebens.

Olaf, der schwarze Kugelschreiber

Eines Tages erwachte Olaf und sagte mit düsterer Mine [Er war schließlich ein schwarzer Kugelschreiber.]:
„Ich habe keine Lust mehr auf das Hier und Jetzt! Den ganzen Tag hänge ich unnütz in der Tasche herum, warte darauf, irgendwann herausgeholt und aufgedreht zu werden, ein paar unleserliche Zeichen auf Zettelchen und Zettel zu notieren und dann wieder zu verschwinden. So kann das nicht weitergehen! Ich wandere aus!“
So konnte das nicht weitergehen, sagte sich Olaf und beschloß auszuwandern.

„Wohin?“, fragte die Schildkröte Uru, als er vorsichtig aus der am Garderobenhaken hängenden Jacke hüpfte und genau in Urus Abendbrotresten landete.
‚Immerhin eine weiche Landung!‘, dachte Olaf, doch antwortete: „Irgendwohin. Das Schicksal zeigt den Weg.“ Diesen Satz hatte er sich lange vorher überlegt. Er klang gut, fand Olaf. Am liebsten würde er ihn einfach niederschreiben, aber…
„Ich begleite dich.“, meinte Uru, „Zumindest ein bißchen.“
Der Kugelschreiber hüpfte glücklich auf und ab, war er doch so auf den ersten Metern seines Wagnisses nicht allein.
‚So bin ich auf den ersten Metern meines Wagnisses wenigstens nicht allein.‘, dachte er, und gemeinsam gingen und hüpften sie los.

Zuerst hüpfte Olaf wie wild voran, übersprang dank guter Kugelschreiberfeder sogar größte Kiesel, doch mußte bald einsehen, daß Kugelschreiber nicht für dauerhafte Fortbewegung geschaffen waren. Ihm ging die Puste aus. Außerdem bewegte sich Uru nur schwerfällig über den Boden, krabbelte langsam hinter ihm her, als hätte sie alle Zeit der Welt.
„Schnell, schnell!“, rief Olaf, sprang zwei-, dreimal nach oben, war bereits erneut außer Atem und keuchte: „Wir … haben doch … nicht alle … Zeit der Welt!“
„O doch.“, brummte Uru freundlich und krabbelte in gleichem Tempo weiter. „Das Auswandern braucht keine Eile, nur ein Ziel.“
Aber Olaf hörte sie nicht; schon war er wieder vorausgehüpft, weiter und weiter dem Unbekannten entgegen.

Nach einer kurzen Weile jedoch wurden seine Sprünge immer kleiner und kleiner, und er beschloß, eine Pause einzulegen. An einem hölzernen Pfahl wuchs ein Grasbüschel, das verlockend weich wirkte. Er setzte sich und wartete auf Uru, die aussah, als könne sie in ihrer Langsamkeit noch tagelang weiterwandern.
„Du siehst aus, als könntest du noch tagelang weiterwandern.“, rief Olaf, als Uru sich näherte. „Ich jedoch brauche schon jetzt eine Pause.“
„Innehalten ist weise.“, brummte Uru und knabberte verzückt an dem weichen Gras, auf dem Olaf hockte.
„Mmmhh… Mwo mwillst du eigentlich hin?“, fragte sie, einen Grashalm zerkauend. „Welches Ziel strebst du an?“
„Ich … äh … weiß es nicht…“, stotterte Olaf und wunderte sich. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“, sagte er und versuchte nun verzweifelt, ein Ziel zu ersinnen.
„Ohne Ziel ist eine Reise nur eine Flucht. Mit Ziel jedoch der Anbeginn von Neuem.“, erklärte Uru und wandte sich einem Löwenzahnblatt zu, das sich ihr in grüner Köstlichkeit entgegenreckte.
„Ich … äh … ich ..“, antwortete Olaf unsicher.
„Schau:“, meinte Uru und hob den Kopf. „Über uns befindet sich ein Wegweiser. Welcher Weg gefällt dir am besten?“
Olaf sah auf und erkannte, daß am oberen Ende des Holzpfahls, an den er sich lehnte, mehrere Tafeln angebracht worden waren. Er hüpfte ein paar Schritte zurück, um sie besser erkennen zu können: Es waren Pfeile, die in verschiedene Richtungen zeigte – und zu jedem Pfeil gehörten seltsame Zeichen.
„Das ist … Schrift!“, wußte Olaf und versuchte zu entziffern, was auf den Tafeln geschrieben stand.
„Und?“, fragte Uru, die sich behäbigen Leibes zu ihm gesellt hatte. „Wohin willst du?“
„Ich weiß es nicht.“, stammelte Olaf. Seine Stimme war kaum lauter als ein Mäusepieps.
Doch Uru hatte gute Ohren. „Du weißt es nicht?“, wunderte sie sich.
„Ich … Ich kann nicht lesen.“, gab der Kugelschreiber Olaf kleinlaut zu und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Doch der Boden war fest und steinern, und Uru antwortete mitfühlend: Du bist ein Kugelschreiber und kannst nicht lesen? Du Ärmster! Und kannst du denn schreiben?“
Olaf schüttelte traurig mit dem Kopf. Eine schwarze Träne kullerte aus seinen Augen.
„Uiuiui.“, murmelte Uru, „Ein Kugelschreiber, der nicht weiß, was er schreibt…“

Olaf wäre am liebsten weggelaufen. Schon wieder. Diesmal aber ohne die Schildkörte Uru. Allein. Irgendwohin. Egal, was die Pfeile dort oben am Ende des Pfahls bedeuteten.
Doch er war noch immer ein wenig außer Puste und würde nicht weit kommen, ohne alsbald eine weitere Pause einlegen zu müssen. Außerdem war Uru die einzige Freundin, die er hatte…
„Lauf nicht weg, Olaf.“, unterbrach Uru seine Gedanken, als hätte sie erahnt, was in Olafs Kopf geschah. „Überall gibt es Schilder und Tafeln. Und jedesmal wirst du dich neu entscheiden müssen, wohin du gehst. Wäre es da nicht besser zu wissen. was auf den Schildern geschrieben steht?“
Olaf nickte. Nur ein bißchen, denn er wollte nicht, daß sich eine weitere Träne aus seinen Augen löste.
„Ich bringe dir Lesen und Schreiben bei.“, sagte Uru mit einem Lächeln in der Stimme. „Es ist nicht einfach und wir ein paar Tage dauern. Doch du bist ein gescheites kerlchen und kannst das schaffen.“
Olaf blickte überrascht auf. Hatte er sich verhört?
„Nein, hast du nicht.“, sagte Uru, die tatsächlich Gedanken lesen konnte.

Und so geschah, was sonst nur in Märchen geschieht: Olaf lernte lesen und schreiben und begriff hnun, was sein Besitzer in – mittlerweile lesbaren – Zeichen auf Zettelchen und Zettel notierte.
„Er ist ein Poet.“, staunte Olaf und erzählte der Schildkröte abends von den Gedichten und Geschichten, die er geschrieben und gelesen hatte. Und manchmal, wenn er einen besonders weisen Gedanken in sich spürte, lenkte er die Hand des Poeten in die richtigen Bahnen:
Das Ziel jeder Reise sei Wissen.

Morning Pages II

Schon immer war ich der Ansicht, daß das Erwachen selbst in frühester Stunde eine angenehme Angelegenheit ist. Ich mag es nicht, dem Schlaf entrissen zu werden, mag es nicht, übermüdet das Haupt erheben zu müssen, mag es nicht, die wohlig weichen Federn zu verlassen, doch liebe es, einen neuen Tag zu beginnen, liebe es zu duschen, liebe es zu frühstücken, liebe es, mich umzudrehen und ein zerknittertes Dornröschen wachzuküssen. Und ich liebe es, mich direkt nach dem Aufstehen an den Schreibtisch zu setzen, mein Notizbuch aufzuschlagen und einfach draufloszuschreiben, irgendetwas, das mir gerade durch den Schädel surrt.

Zuweilen denke ich bereits im Erwachen darüber nach, was ich schreiben werde, formuliere ganze Sätze, die ich festzuhalten gedenke. Doch im nächsten Augenblick sind sie vergessen und müssen neuen Wortansammlungen Platz machen, die Zeile um Zeile mein Büchlein füllen.

Unlängst fiel es mir scher zu schreiben. Mit unguter Laune behaftet mußte ich Wort für Wort aus mir herausquälen, bis ich begann, eine längst begonnene Geschichte schemenhaft weiterzuführen. Plötzlich flogen die Sätze nur so an mir vorbei, und ich beschloß, in Bälde, bei entsprechender Laune einen Versuch zu wagen: Ich wollte, umrankt von morgendlicher Trägheit, eine kleine Geschichte schreiben.

Und das tat ich. An jenem Morgen, als plötzlich jeder verfügbare Kugelschreiber entschwunden war, schrieb ich die Geschichte von Olaf, dem schwarzen Kugelschreiber. Doch Zwänge setzte ich mir nicht. Es spielte keine Rolle, daß die Geschichte keine Welten bewegte, es spielte keine Rolle, daß ich am darauffolgenden Tag erneut Tagebuchähnliches verfaßte.

Und schon bald folgte eine Geschichte über Theodor, den einäugigen Kaiserpinguin. Und eine über James Dean, in Schwarz-Weiß. Dann wieder Tagebucheinträge.

Ich befürchte kein Stocken der Worte, fürchte mich nicht davor, nur Mittelmaß niederzuschreiben oder gar Sinnfreies. Denn tatsächlich freue ich mich, begeistere mich täglich neu:

Das Niedergeschriebene ist imstande, das Chaos in meinem Schädel zu sortieren. Bereits in frühesten Stunden habe ich darüber nachgedacht, wie denn der Tag verlaufen könnte – und festgestellt, daß das größte Schrecknis nur in meinem Kopf derart immens ist. Bereits in den frühesten Morgenstunden habe ich mich mit absurden Fantasieerlebnissen erheitert, den Tag mit einem Lächeln gestartet. Bereits in frühesten Morgenstunden habe ich etwas vollbracht, das mir Freude und Stolz bereitet.

Und hin und wieder schlüpfe ich noch einmal kurz unter die kuschlige Decke, wärme meinen erkalteten Leib und freue mich darüber, daß ein neuer Morgen begann.

Morning Pages

Gestern begann ich, sogenannte „Morning Pages“ anzufertigen. Ich hatte davon gehört, und obgleich ich keines kreativen Schubs bedurfte, erachtete ich den Grundgedanken für einen guten:

Wach auf und schreibe, was dir einfällt.

Da ich keinerlei Probleme damit habe, aus dem Stehgreif draufloszukritzeln, ja sogar Gefallen daran finde, begann ich – und stand alsbald vor dem ersten Problem: Wann soll ich aufhören?

Früher behauptete ich gerne, daß es mir leicht fiele, eine komplette A4-Seite mit der Erläuterung des Umstands, daß ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll, zu befüllen. Demenstprechend sah ich nicht die übliche Sorge [„Worüber soll ich denn seitenlang schreiben?“] auf mich zurasen, sondern die Unsicherheit bezüglich des geeigneten Aufhörzeitpunktes. Gestern beschrieb ich zwei A4-Blätter, kariert, zweizeilig, beidseitig. Dann kaufte ich mir eine Art Notizbüchlein, A5, kariert, und beschrieb heute fast fünf Seiten, ebenfalls zweizeilig.

Eine Recherche ergab, daß man drei Seiten beschreiben möge. Möglichst handschriftlich. Aber nirgendwo steht, wie groß die Blätter sein sollen oder wie weit die Linien auseinander. Spielt wohl keine Rolle. Daher wird es wohl von geringer Tragik sein, daß ich – mit Unwissenheit behaftet – etwas mehr niederschrieb als erforderlich.

Morning Pages stellen eine Art Kreativitätstechnik dar, eine Fingerübung für das Schreiben an sich, aber auch eine Möglichkeit, Ideen zu finden, ohne sie wirklich zu suchen. Das Geschriebene soll möglichst aus dem Bauch heraus kommen – ein Grund, warum ich mich trotz hieroglyphenartigem Schriftbild für Notizblock und Kugelschreiber entschied.

Angeblich wird man zunächst damit beginnen, die eigene Müdigkeit oder das Hungergefühl zu bemängeln, das sich während des Schreibens bemerkbar macht, und dann erst allmählich zu Innerem finden, zu Worten, die man gehört und noch nicht verarbeitet hat, zu Gedanken, die längst auf der Lauer lagen oder neu durch den Schädel schwirren.

Ich übersprang den ersten Schritt. Über Müdigkeit schrieb ich nur auf der Metaebene, nämlich indem ich erwähnte, daß ich nicht beabsichtigte, über Müdigkeit zu schreiben. Und bereits heute, am zweiten Tag der Morning Pages [Ich muß mir dringend einen anderen Namen einfallen lassen, zum einen, weil ich die Deutsche Sprache favorisiere, und zum anderen, weil ich ständig geneigt bin, die Kakelei als „Mourning Pages“ zu bezeichnen…] wurde mir bewußt, daß dieses Geschreibe nichts wirklich Innovatives birgt. Ich schreibe Tagebuch, wie ich früher bereits Tagebuch schrieb [Ich war nie einer von jenen, die über das Wetter oder Tagesereignisse schrieben, sondern befaßte mich vorwiegend mit meinen eigenen Gedanken und Ansichten zu Erlebtem und Erdachtem…]. Mehr nicht.

Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, es würde anders sein, ich würde zu anderen Ansichten gelangen, neue Einfälle würden mir durch das Hirn sprudeln und der Tag würde mit Lösungen beginnen, nicht mit Problemen. Doch ich schreibe über Sorgen, hinterfrage mich, suche Antworten – die ich jedoch wiederum nur mit Fragzeichen bestückt ausformulieren kann. Ich schreibe über das Tagebuch an sich, über meine Erwartungen und Erfahrungen.
Ich hatte von mir selbst mehr Tiefe erwartet, glaube ich.

Die Erwartungshaltung ist natürlich illusorisch. Von niemandem darf verlangt werden, noch vor dem Aufstehen die Probleme der Welt gelöst und sich zu kreativen Höheflügen aufgeschwungen zu haben. Hinzu kommt, daß ich erst zwei Tage lang schreibe, daß also die weitere Entwicklung dieses Journals [Ein besseres Wort!] überhaupt nicht absehbar ist.
Vielleicht werde ich über Träume schreiben, die mich über Nacht fanden, vielleicht kleine Geschichten, die mich amüsieren, vielleicht werde ich Anekdoten des gestrigen Tages erwähnen, vielleicht…

Insgeheim ersehne ich den Tag, an dem ich erst einmal den gesamten Seelenmüll heruntergeschrieben haben werde, an dem ich mich zu wiederholen beginne, wenn ich schon wieder denselben Gedanken nachjage. Denn dann bin ich bereit für den nächsten Schritt, hoffe ich – wie auch immer dieser Schritt aussehen wird.

Tatsächlich scheint der Inhalt des Geschriebenen aber keine große Bedeutung zu haben, und es wird geraten, daß Menschen, die ihre Niederschrift nicht von anderen gelesen wissen möchten, erst schreiben, dann zerreißen sollen. Mir jedoch ist der Inhalt wichtig; auch wenn ich nicht weiß, für wen ich schreibe, möchte ich doch nicht nutzlos vor mich hinschwafeln. Selbst wenn es niemandem anderen etwas bringen wird: Mir selbst mögen die Morning Pages nützen. Nicht nur, um meine Schreibfertigkeiten zu entwickeln, sondern auch, um mich der Inhalte zu erfreuen.

Das führt zur nächsten Frage: Für wen schreibe ich? Diese Frage ist nahezu unbeantwortbar. Im Augenblick störte ich mich nicht an fremden Blicken in meinem Geschriebsel. Doch es wird der Tag kommen, an dem das Niedergeschriebene anderen vorenthalten werden möge, weil selbiges doch eine Spur zu persönlich, zu leicht mißbrauchbar, ist. Vielleicht entschied ich mich auch deswegen für die handgeschriebene Variante – obwohl Getipptes [falls Brauchbares dabei herausspringt] natürlich leichter von mir selbst weiterzuverwerten wäre. Denn vor Handgeschriebenem schreckt die Neugierde anderer doch oft genug noch zurück, und auch meine Unschön-Schreibschrift hat abschreckenden Charakter.

Für wen schreibe ich also? Für ein zukünftiges Ich? Für das heutige Ich, das Freude am Schreiben findet, das es liebt, mit Worten zu spielen und die Gedanken durch Niederschrift zu ordnen? Für Nachfahren, die mit den Memoiren des semiberühmten Comiczeichners, viel Geld zu erwirtschaften gedenken? Für zukünftige Texte, die aus der Krakelei in die Morning Pages entstehen könnten? Ich weiß es nicht, doch gefällt mir diese Unwissenheit.

Denn jedes präzisere Ziel, jedes potentielle Publikum schränkt ein, läßt den Fluß stocken. Ich will nicht darüber nachdenken müssen, was ich schreibe, und ob das Geschriebene irgendwem zusagt. Das Morgendliche Journal soll frei sein von Zwängen – abgesehen natürlich von dem, aufzustehen und loszuschreiben. Selbst die Seitenanzahl soll keinen Zwang darstellen: Drei A5-Seiten sind schnell bekritzelt, alles Übrige ist optional. Und sollten keine erheiternden Geschichten, keine amüsanten Anekdoten, keine tiefsinnigen Gedanken, keine absurden Träume, keine Weltverbesserungsvorschläge und keine Selbstmotivationstexte die Seiten füllen, sondern nur ewig gleiches, uninteressantes, belangloses Geschwafel, so werde ich doch nicht aufhören, mich nicht zu einer Thematik zwingen.
Das „Aus-Dem-Bauch-Heraus“ hat oberste Priorität.

Und eines ist tatsächlich festzustellen. Das morgendliche Schreiben erfreut. Nicht nur, weil das schreibende Hinübergleiten ins Erwachen ein sehr angenehmes ist, nicht nur, weil die Niederschrift die Gedanken ordnet und das Gefühl vermittelt, den Tag mit einer gewissen Struktur, mit einer Sinnhaftigkeit, zu beginnen, sondern auch, weil ich nach mehreren Sätzen plötzlich den Drang verspüre, etwas zu schaffen, etwas zu leisten, den Tag zu nutzen. Gleichzeitig weiß ich nach befüllten dreiodermehr Seiten, daß ich schon etwas geschafft, erledigt habe, daß ich noch nicht einmal richtig erwachte und bereits etwas vollbrachte.

Allein dafür lohnt es sich, die Morning Pages, die sicherlich nichts Weltbewegendes, nichts Atemberaubend-Besonderes, nichts Innovatives, darstellen, weiterzuführen und mich jeden Morgen erneut mit meinem Schreiben zu erfreuen…

[Im Hintergrund: Meat Loaf – „Bat Out of Hell III – The Monster Is Loose“]