Theodor

Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, stopfte zitternd seine Pfeife.
„Ich bin alt.“, erklärte er Johann, dem fröhlichen Fineliner, der mal wieder zu Besuch war. Johann kam alle zwei, drei Jahre vorbei und brachte jedesmal ein wenig neuen Pfeifentabak mit. In der Antarktis war so etwas nur schwer zu bekommen.
„Ich bin alt.“, erklärte Theodor, so wie er es schon Tausende Male zuvor während des Pfeifenstopfens erklärt hatte. Ältere Pinguine neigen dazu, sich unwissentlich zu wiederholen.
„Ich bin alt.“, meinte Theodor, doch seine schwarzen Knopfaugen funkelten vor Vergnügen. Von wegen „unwissentlich“. Theodor liebte es, sich absichtlich zu wiederholen und damit sein – selbst für einäugige Kaiserpinguine – beeindruckendes Alter zu betonen. Theodor hatte seinen dreiundneunzigsten Geburtstag hinter sich und frierte häufiger als früher. Ansonsten ging es ihm aber gut. Wenn man von dieser einen Sache absah…
„Wenn man alt wird,“, erklärte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin seinem Freund Johann, der diese Rede schon hundertfach angehört hatte, „friert man häufiger. Deswegen die Pfeife.“ Er wedelte mit der Pfeife, und Johann zündete sie an. Ein Ritual.
„Doch ansonsten geht es mir gut.“, führte Theodor weiter aus. Johann nickte verständnisvoll, wie es von ihm erwartet wurde. Er hatte es noch nie gewagt, Theodor bei seinen immergleichen Monologen zu unterbrechen und lächelte sogar insgeheim, wenn er wieder einmal das verräterisch Funkeln in des Pinguins Knopfaugen entdeckte, das bezeugte, daß der alte Theodor doch nicht so senil war, wie er gerne vorgab.
Theodor zog an der Pfeife und blies zwei Kringel in die klirrend kalte Antarktisluft. Verzückt sahen beide zu, wie sie sich langsam auflösten und verblaßten.
„Mir geht es gut.“, meinte Theodor nach einer Weile. „Wenn da nicht diese eine Sache wäre…“
Johann horchte auf. ‚Nanu!‘, dachte er sich, ‚Das sind ha völlig neue Worte aus Theodors Schnabel!‘
Theodor seufzte und schüttelte träge mit dem Kopf.
„Äh…“, wagte Johann, der fröhliche Fineliner, zu fragen, während seine Kappe nervös klackte. „Was für eine Sache denn?“
Nun war es geschehen! Das immergleiche Ritual war unterbrochen! Eigentlich hätte Theodor von früher erzählen müssen, von seiner Kindheit, von den ersten Menschen, denen er begegnet war und die Pfeife entwendet hatte, während sie sich im ewigen Eis verirrten. Doch Theodor hatte anderes im Sinn. Heute war ein besonderer Tag!
„Heute ist ein besonderer Tag.“, meinte der einäugige Pinguin. „Der Osterhase war da.“
„Aber… aber…“, stammelte Johann, „Er kommt doch jedes Jahr. Eingehüllt in unzählige Fuchspelze und trotzdem zitternd versteckt er die bunten Ostereier hastig in Löchern und Spalten, bevor er eilig wieder von dannen hoppelt…“
„Der Osterhase war da.“, wiederholte sich Theodor, doch das verräterische Funkeln in seinen schwarzen Knopfaugen blieb aus. „Der Osterhase war da, aber wir können die versteckten Ostereier nicht finden.“ Theodor schüttelte traurig sein Kaiserpinguinhaupt.
‚Heute sieht er zum ersten Mal wirklich alt aus.‘, dachte Johann bekümmert.
Plötzlich kam eines der plüschigen Pinguinkinder hastig angetapst. Sven oder Rod oder Piet hieß es und rief schon von weitem: „Großvater! Großvater! Wir haben ein Ei gefunden!“
Erleichtert atmete Großvater Theodor, der einäugige Pinguin, auf. Doch Johann, dessen Blick viel schärfer war, erkannte, daß trotz des gefundenen Ostereis sich weitere Probleme ankündigten.
„Großvater! Großvater! Wir haben …“
„Ich weiß.“, unterbrach Theodor das nervige Gepiepse seines Enkelkindes. Er duldete es nicht, wenn man seinen Hang zu Wiederholungen nachahmte. Sven oder Rod oder Piet verstummte.
„Nun zeig schon her.“, brummte Theodor, der einäugige Kaiserpinguin, versöhnlich und schmauchte noch einen Rauchkringel in die Antaktisluft. Sven oder Rod oder Piet war mittlerweile bei ihm angekommen und holte nun hervor, was er sorgsam unter dem flauschigen rechten Flügel transportiert hatte.
‚Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.‘, dachte Johann, der fröhliche Fineliner.
„Ohne Zweifel. Dies ist ein Osterei.“, sagte er.
„Aber…“, stotterte Theodor, der seinem einen Auge nicht trauen mochte. „Das Ei ist ja weiß!“
Sven oder Rod oder Piet nickte bekümmert.
„Dieser verdammte Osterhase!“, empörte sich Theodor. Hektisch wirbelte er mit der Pfeife umher, so daß glühender Tabak herausstob und sich zischend in den Schnee grub. „Ich bin dreiundneunzig Jahre alt, und immer waren die Ostereier bunt!“
„Vielleicht hat er vergessen, sie zu bemalen.“, schlug Johann, der fröhliche Fineliner vorsichtig vor.
„Dieser verdammte Osterhase!“, schimpfte Theodor noch einmal. „Wir werden Wochen brauchen, um alle Ostereier zu finden!“
„Weiße Eier sollte man nicht in weißem Schnee verstecken.“, piepste Sven oder Rod oder Piet und sagte damit den schlauesten Satz seines Lebens.

9 Gedanken zu „Theodor“

  1. Also, ich muss sagen… diese Geschichte hat schon sehr verstörendes.

    Ich meine… zuerst fand ich ja nur den Hasen makaber. Schon die Fuchsfellummantelung drückte eine gewisse „Schluss mit lustig“-Haltung aus (erinnerte mich ein wenig an Red aus „no rest for the wicked“ – besonders: http://www.forthewicked.net/archive/02-05.html), aber das war noch in Ordnung. Aber als es dann darum ging, dass er bei den Pinguinen Ostereier verteilt, dachte ich nur noch: ‚Meine Güte, was für ein durch und durch sadistisches Tier‘. Ich fragte mich, ob die Eier wohl gekocht waren oder ob die Pinguine deswegen so aufgeregt werden, weil sie sie retten und in die Wärme bringen wollten.

    Und dann die Erkenntnis, dass die Pinguine tatsächlich Ostereier wollen… was machen sie damit, wenn sie sie gefunden haben? Essen? Irgendwie wirkt das… falsch… fast kanibalisch.*schauder*
    Gerade frage ich mich, ob sie bei der Suche auch schonmal aus der Versehen ein eigenes Ei ‚gefunden‘ haben…

    Klar, ist das alles nett und harmlos gemeint, wieder eine ‚Tier und Zeichenutensil‘-Geschichte, aber irgendwie macht gerade diese fröhliche scheinbare Harmlosigkeit das ganze noch ein wenig grusliger.

  2. REPLY:
    Ach herrje. Ich habe die Befürchtung, daß du selbst in der harmlosesten Geschichte noch Übelstes finden würdest.

    Also: Pinguine sind keine Vegetarier. Sie essen tote Fische. Oder lebendige. Der Unterschied zu gekochten Hühner[!]eiern ist da nicht so groß.
    Und ich ging einfach davon aus, daß sie imstande seien, ihre eigenen Eier von den Ostereiern zu unterscheiden.

    Der Osterhase ist mit Absicht böse. Schließlich versteckt er auch weiße Eier auf der Antarktis.

    Der Fineliner stört mich selbst ein wenig. Aber nur ein wenig. Mir fällt gerade auf, daß in der nächsten Geschichte wieder ein Stift vorkommen wird. Mannomann, langsam fällt es auf.
    [Aber immerhin wird er nicht sprechen können.]

  3. REPLY:
    Hmm… das käme wohl auf einen Versuch an. Eigenltich kenne ich es umgekehrt. Ich bin mit Märchen großgeworden, also (wie jeder, wie wohl jeder, der Märchen vorgelesen bekam) mit abgehackten Zehen, Fersen, Händen und anderen Gliedmaßen, glühenden Eisenschuhen, Frauen, die (in gewisser Weise auf eigenen Wunsch) nackt in ein mit Nägeln beschlagenes Fass gesteckt werden und so zu Tode kommen. Aber wenn man später das Wort Märchen gebraucht, dann spricht man davon, als ob das harmlose kleine Geschichten wären (die schlimmste war die von dem Jungen, der sein Essen mit der Kröte teilte und verhungerte, als die Eltern die Kröte umbrachten).

    Und wenn Du schon mit bösen Osterhasen anfängst, ist der Sprung zu bösen Pinguinen nicht mehr weit.

    Ei bleibt Ei. Wenn es in dieser Welt menschlich denkende und emfpindende Pinguine gibt, trifft das auch auch Hühner zu und ich denke, selbst wenn sie unbefruchtet sind, müsste das Verstecken von Ostereiern jeder eigerlegenden Spezies irgendwie gegen den Strich gehen.

    Ach, ich mag die Zeichenutensilien (auch wenn ich mich hier ein wenig gewundert habe, wie der Fineliner zum Südpol kommt).
    Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, welche Charaktere da wohl alles zusammenkämen und mir kleine Dialoge ausgedacht. Besonders spannend finde ich den Bleistift mit dem Radiergummi am anderen Ende.

  4. REPLY:
    Es ist also festzustellen, daß mein schlafummanteltes Hirn deinen Leseansprüchen nicht genügen kann, weil du immer wieder hinterfragst.
    Aber die Mrächen/Trickfilm/whatever-Welt ist eine absurde, in der ein Schwein auch mal Schweinebraten servieren darf…

  5. REPLY:
    So ein Unsinn (tschuldigung*g*). Was sind denn meine Leseansprüche? Wenn sie ihnen nicht genügen nwürden (was auch immer das bedeutet), würde ich sie nicht kommentieren und wenn ich es hinterfrage, ist es ein Zeichen dafür, dass sie mich beschäftigt hat.

    Abgesehen davon sind zwei Geschichten eine schwache Basis für eine Theorie, oder?

    Und ich neige dazu, immer zu hinterfragen.;)

    Ja, ist das Akzeptieren dieser Absurdität ein Zeichen kindlicher Unschuld, eines dafür, dass man sich nicht wirklich Gedanken darüber macht oder beides?

  6. REPLY:
    Gut, ich hatte mich schon gefragt, ob ich mit dem Abtippen dieser Geschichten das Bild, das du von mir hast, zerstöre. Ich mag ja kritisiert werden, und du hast ja auch recht, doch verwunderte mich eben, wie detaillversessen du reagiertest. Aber vermutlich sollte ich das wirklich als positiv erachten.
    Außerdem sollte ich mich an mich selbst erinnern: Wenn ich etwas gutfinde, kann ich trotzdem nen stundenlangen Monolog darüber abhalten, was ich daran nicht mag, bevor ich erwähne, daß ich es eigentlich mag.

    Vermutlich kenne ich dich einfach zu wenig, um zu wissen, wie du es meinst. Aber ich bemühe mich, positiv zu denken…

    Hinterfragen fetzt ja eigentlich auch. Nur hatte ich eben nicht hinterfragt, sondern einfach in den Raum gestellt. Deswegen fällt es mir schwer, auf deine Einwände einzugehen. Tatsächlich ist die beste Antwort, die ich geben kann: Als ich das schrieb, war ich noch nicht wach. Aber ich bezweifle irgendwie, daß es daran lag…

    Diese Absurdität darf natürlich hinterfragt werden, sollte sogar. Akzeptieren ist sicherlich der falsche Weg. Nur manchmal wäre es vielleicht besser einfach hinzunehmen, daß etwas so ist, nur um sich letztlich mit dem Nachdenken nicht selbst im Weg zu stehen…

  7. REPLY:
    Bild? Du hast befürchtet, Dich zu deidealisieren?;)

    Stimmt. Ich mag Details, die kleinen Dinge. Daraus mag sowohl Verliebtheit als auch Besessenheit resultieren. Auf der einen Seite krittele ich gerne daran herum (wobei ich Rechtschreibfehler immer überlese – in diese Richtung geht es nie). Dafür reichen manchmal auch nur kleine Details, um mich glücklich zu machen, wie die düstere Mi(e)ne, die mich dazu bringt, den Monitor seelig anzulächeln.

    Es liegt vielleicht auch daran, dass ich an Kurzgeschichten nicht wirklich gewohnt bin. Die meisten Dinge, mit denen ich mich beschäftige, sind Serien oder Welten und wenn mich etwas stört, begleitet es mich deswegen in der Regel eine lange Zeit und wird deswegen so früh wie möglich ausgesprochen.

    Und je mehr ich etwas mag, desto schwerer wiegen für mich Dinge, die nicht so perfekt sind, wie sie hätten sein können.

    Deswegen bin ich mir auf der einen Seite bewusst, dass die Morgengedanken nicht auf Perfektion ausgelegt sind, sie vielleicht einen kürzeren Prozess der Reifung durchschritten haben und man deswegen mit anderen Erwartungen herangehen sollte, aber diese umzuschalten fällt mir eben ein wenig schwer. Aber das wird schon.:)

    Ich finde das mit dem Regisseur, der nicht mehr Freude am Kino hat, irgendwie nicht so schlimm. Klar, er sieht den Film anders, aber ich denke, gleichzeitig kann er gute Einstellungen und Schnitte mehr genießen, weil er sie bewusst wahrnimmt und freut sich, wenn er Ideen findet, auf die er selbst nicht gekommen wäre.

  8. REPLY:
    komisch, ich fand die Geschichte einfach nett/hübsch/gut … die vorstellung von ostereier suchenden Pinguinen finde ich durchaus belustigend und die davaon, wie der Hase vorher sitzt und extra für die Pinguine weiße eier weiß anmalt gleich noch mehr *g*
    Schließlich geht es doch ums suchen, und das macht nur dann spaß, wenn es nicht zu einfach ist.

    Daran, dass pinguine hühnereier fressen kann ich irgendwie auch nichts anstößiges finden … falken jagen (und fressen) tauben, andere Vögel fressen ebenso vögel, das ist nicht abstoßend sondern natur … es gibt einen haufen säugetiere, die sich von anderen säugetieren ernähren, warum sollte das bei vögeln anders sein?

    irgendwie find ich, man muss tatsächlich nicht alles erklären und begründen können … es ist einfach so wie es ist in der welt in der die geschichte sich befindet, auch wenn es parallelen zum realen gibt, beides gleichzusetzen funktioniert einfach nicht.

  9. REPLY:
    Warum komisch? Es wäre schrecklich, wenn meiner Meinung wäre (tatsächlich ging ich davon aus, dass der Eindruck der Süßheit bei allen anderen überwiegt und sonst vermutlich kaum jemand auf derartig seltsame Gedanken kommen wird).

    Ja, aber wie viele Kindergeschichten gibt es, in denen Falken Tauben jagen? Es ging mir nicht um biologische Tatsachen, sondern darum, dass Kindergeschichten im allgemeinen heile Welten darstellen, es aber vorkommt, dass genau diese heile Welt etwas… wie soll ich sagen… das, was eigentlich alles andere als fröhlich ist, noch dadurch verstärkt, dass es als fröhlich dargestellt wird.
    Besonders denke ich da an Schilder von Metzgern, die lachende und tanzende Schweine zeigen.

    Natürlich ist das hier nicht so extrem der Fall und es braucht schon eine Verrückte wie mich, es anders zu sehen, aber als ich es las, empfand ich es einfach so.

    Das kommt darauf an. Ich denke, dass die Wirkung von Details häufig unterschätzt wird. Wenn zum Beispiel der Held einer Serie einen Hund besitzt und diese plötzlich ‚verschwindet‘ (im Sinne von: nicht mehr auftaucht oder erwähnt wird), weil er den Autoren nicht mehr in den Kram passt. Dinge, bei denen die Autoren denken ‚darauf wird schon keiner achten‘ sind die, die dann auf Fanseiten diskutiert werden.

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