Sonderbar

„Komm rein! Es gibt bald Mittag!“, rief Svens Mutter durch das geöffnete Küchenfenster hinaus in den Garten, doch Sven hörte sie nicht. Nur Minka, Svens kohlrabenschwarze Katze, ließ sich mit einer winzigen Drehung ihrer Ohren anmerken, dass ihr trotz vor Wonne geschlossener Augen nichts entging.
Sven hockte im Gras und kraulte Minka den Bauch. Minka mochte es, am Bauch gekrault zu werden, und hatte sich bereitwillig auf den Rücken gelegt, sämtliche Tatzen weit von sich gestreckt und die Krallen eingefahren. Sven kraulte und streichelte voller Hingabe, und die Katze schnurrte vor Vergnügen.
„Mittag!“, rief Svens Mutter lautstark durch das Fenster, und diesmal vernahm Sven ihren Ruf. „Mittag.“, wiederholte er, streichelte Minka noch kurz über das Fell, sprang auf und rannte ins Haus.
„Mama?“, fragte Sven Minuten später, während er an einer Kartoffel kaute, „Stimmt es, dass Herr Leonard geisteskrank ist?“
„Schschscht!“, antwortete Svens Mutter und schielte durch das Küchenfenster in den Garten, ob Herr Leonard diese Worte nicht zufällig vernommen hatte. „So etwas sagt man nicht.“, meinte sie schließlich in gedämpfter Lautstärke. „Herr Leonard ist unser Nachbar und ein freundlicher Mensch.“ Sie zögerte. „Nur manchmal ist er etwas sonderbar.“
„Sonderbar.“, wiederholte Sven und prüfte den Klang des ungewohnten Wortes. „Was heißt sonderbar?“
Svens Mutter seufzte. „Sonderbar heißt: merkwürdig, nicht normal, ungewöhnlich. Herr Leonard ist eben bisschen anders als wir.“
„Weil er mit Vögeln redet?“, fragte Sven neugierig, doch Svens Mutter antwortete nicht.
„Iß auf, bevor es kalt wird.“, sagte sie und ging zum Kühlschrank, um den Nachtisch zu holen.
Nach dem Essen durfte Sven wieder im Garten spielen. Minka erwartete ihn schon, doch Sven hatte anderes vor: Er schlich sich zum Zaun und spähte hinüber in Herrn Leonards Garten. Herr Leonard entdeckte ihn sofort.
„Hallo Sven!“, rief er freundlich und winkte.
„Können Sie wirklich mit Vögeln reden?“, fragte Sven ohne zu zögern.
„Natürlich kann ich das!“, antwortete Herr Leonard schmunzelnd und rief „Wilma! Brigitte! Ottokar! Kommt doch mal her!“
Im nahestehenden Kirschbaum raschelte es kurz, und schon kamen zwei Sperlinge und eine Amsel aus dem Geäst geflattert und setzten sichvertrauensvoll auf Herrn Leornards ausgebreitete Arme.
„Sagt dem kleinen Sven ‚Guten Tag.'“, forderte Herr Leonard die Vögel auf, und wie eine wirbelnde Wolke stießen sie sich von ihm ab und kamen zu Sven gefolgen, dem vor Staunen der Mund offenstand. Die drei Vögel umflatterten kurz Svens Gesicht – er konnte ihre Flügelschläge deutlich spüren – und kehrten anschließend in den Kirschbaum zurück.
„Danke.“, rief Herr Leonard den Vögeln zu und wandte sich an Sven. „Und? Hat es dir gefallen?“
Doch Sven stand nicht länger am Zaun. Er war weggerannt, hinter das Haus, und zitterte am ganzen Leib.
„Herr Leonard ist wirklich sonderbar.“, keuchte er.
„Er ist geisteskrank.“, maunzte Minka und rieb ihren Kopf an Svens Bein.

Ein Gedanke zu „Sonderbar“

  1. Ich liebe diese Geschichte!:-)
    Der Schluss gefällt mir sehr gut!
    „Er ist geisteskrank“, maunzte Minka und rieb ihren Kopf an Svens Bein.
    Respekt!;-)

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