Was würde passieren, wenn niemand mehr imstande wäre zu lügen, beziehungsweise, wenn es unser moralisches Gewissen oder irgendetwas ähnliches untersagen würde, unverfroren Unwahrheiten zu verbreiten, wenn eine Art Filter im Gehirn sitzen würde und bei jeder Lüge, der man sich bewusst wird, Unwohlseinsenzyme ausschüttete. Was würde dann passieren?
Mir selbst bereitet es tatsächlich Unwohlsein, wenn ich lüge. Dennoch kann ich nicht behaupten, stets die Wahrheit und nichts als die Wahrheit von mir zu geben. Nur allzu oft geschieht es, dass ich, um mich oder andere in besserem Lichte stehen zu lassen, die Wahrheit ein wenig verdrehe, sie beschönige und somit – eigentlich – lüge. Die allseits gefürchtete Frage „Findest du mich zu dick?“ würde ich nur mit „Ja.“ beantworten, um zu bekräftigen, dass dem nicht so ist und dass ich die Frage für überflüssig erachte. Wenn mich eine dicke Frau fragen würde, ob ich sie zu dick fände, gelänge es mir sicherlich, die eine oder andere ausweichende Antwort aus dem Hut zu zaubern.
Lügen, der Höflichkeit wegen. Um jemanden anderes nicht zu verletzen. Um sich selbst vor Schaden zu bewahren. Notlügen. Kleine Unwahrheiten, die man vorschiebt, um nicht zu viele Details aufzählen zu müssen.
„Wie geht es dir?“ „Ganz gut.“
Es fiele schwer, so etwas auszulöschen. Und das soll auch nicht das Ziel sein.
Wichtiger wäre es, bewusste Lügen, Lügen größeren Ausmaßes, zu verhindern, zu beseitigen. Nicht durch Strafen im eigentlichen Sinne. Sondern dadurch, dass Menschen nicht willens sind, sie zu benutzen. Eben weil die Wahrheit sie besser fühlen lässt.
Und da taucht das nächste Problem auf: In den seltensten Fällen gibt es eine reine, klare, echte Wahrheit. Allein schon aufgrund subjektiver Wahrnehmung ist die Wahrheit selten ein klarer Punkt, auf den man zeigen kann, der unumstritten im Raum steht, fest verankert und von allen Seiten erkennbar. Die Wahrheit ist allzu häufig, ein wabbliges, schwammiges Gebilde, wird ausdiskutiert bis zum letzten, weil jeder der Diskutanten, sie, die Eine, gefunden zu haben glaubt. Der eigene Blickwinkel ist nur ein Produkt aller verfügbaren Infomationsquellen, und wer glaubt, ausreichend Informationen getankt zu haben, meint häufig, sich im Besitz der Wahrheit zu befinden. Dass weitere Informationen dieses Konstrukt aber destabilisieren könnten, wird vorerst ignoriert.
Es gibt keine reine, ideele Wahrheit. Jeder sieht die Dinge anders – und auch das will ich nicht ändern.
Was möchte ich also dann? Ich möchte, dass niemand imstande ist, mit Vorsatz eine Lüge auszusprechen. Eine richtige Lüge, eine, die die Wahrheit nicht nur verzerrt, sondern umkehrt. Niemand soll ohne schlechtes Gewissen, ohne psychische Folgen fähig sein, anderen Dinge zu berichten, von denen er selber weiß, dass sie sich anders verhalten als er sie erzählt. Das ist es, was ich möchte: Niemand soll etwas anderes sagen können als er weiß.
Allerdings ist das nicht einfach. Märchen zu erzählen beispielsweise bedeutet, Lügen zu erzählen. Einen Roman zu schreiben bedeutet zu lügen. Jedoch sind diese Lügen durchschaubar, und sie dienen auch nicht dem Zwecke, die Realität zu verzerren, sondern Geschichten zu erzählen, also zu unterhalten und gegebenfalls Lehren zu vermitteln. Märchen und Romane mögen Lügen sein, doch sind sie als solche erkennbar und daher keine echten Lügen.
Schwierig wird es nur, wenn die Erkennbarkeit fehlt, wenn also der Rezipient nicht imstande ist auszumachen, ob es sich um Wahrheit oder Fiktion handelt. Das kann passieren, weil das Kind, dem das Märchen vorgelesen wird, dieses für ebenso wahr hält wie den Weihnachtsmann, oder aber weil der Romanleser glaubt, einen Tatsachenbericht vor sich zu haben und mangelnde Informationen über den tatsächlichen Sachverhalt ihn in diesem falschen Wissen lassen oder gar bestätigen. Und schwupps wurde aus einer erkennbaren Lüge eine nicht länger erkennbare, aus einer harmlosen oder „falschen“ Lüge eine echte. und dabei wollte ich die doch vermeiden.
Auch an anderer Stelle wird es schwierig: Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge sind zu schwammig. Obiges Beispiel aufgreifend halte ich es nicht für eine Lüge, einer dicklichen Frau zu erzählen, sie sie nicht zu dick. Abgesehen davon, dass die „Bin ich zu dick?“-Frage in den meisten Fällen überflüssig ist, ist das Verschweigen des „Aber“-Teils der Antwort durchaus akzeptabel. „Nein, Schatz, du bist nicht zu dick, sondern wunderschön, aber du wärst noch schöner, wenn du ein paar Kilo abnehmen würdest.“
Notlügen sind also erlaubt. Echte Lügen nicht. Wo ist die Grenze? Es gibt keine.
Was ist, wenn sie tatsächlich immer mehr zunimmt, er sie aber trotzdem noch immer mag. „Es kommt nicht allein auf das Äußere an.“ Aber eben auch, und allein ihrer Gesundheit zuliebe oder um sich [und ihm] die komischen Blicke der Mitmenschen zu ersparen, wäre es durchaus sinnvoll abzunehmen. Die Frage naht „Bin ich zu dick?“ und nicht länger kann der Gefragte sich mit einer Notlüge behelfen. Er ist der festen Überzeugung, sie sei zu dick, und würde er etwas anderes behaupten, würde er lügen. Die Wahrheit ignorieren. Und gäbe es das eingangs gewünschtes moralische Gewissen, wäre er nicht imstande, eine solche Lüge auszusprechen. Es würde antworten: „Ja, du bist zu dick.“ und bervor er eine Abmilderung oder Begründung oder ein „Ich liebe dich aber trotzdem, denn du bist viel mehr als nur Körper.“ hinterher schieben kann, bricht sie in Tränen aus, verlässt ihn, futtert sich weitere Pfunde an und wirft mit Küchenradios oder -messern um sich. Nicht unbedingt in der Reihenfolge.
Die Wahrheit erwirkt in diesem äußerst wacklig zusammengebastelten Beispiel hauptsächlich Negativeffekte, und das ruhige Gewissen des Mannes ist von fast vernachlässigbarer Bedeutung. Aber, denke ich mir, wenn alle immer die Wahrheit sagen würden, wenn also auch Situationen wie obige nicht mit Lügen besänftigt werden würden, würde es dann nicht ein Gewöhnungseffekt eintreten, die ungewohnte Offenheit und Ehrlichkeit zur Normalität erklärt werden und dementsprechend die Empfindlichkeit gegenüber wahrheitsgetreuen, aber verletzenden Aussagen sinken? Das wäre fein und würde so manches Problem lösen, das sich mir stellt, wenn ich überlege, ob es nicht besser wäre, wenn niemand mehr lügen könnte.
Was wäre mit Geheimnissen? Darüber habe ich lange nachgedacht und festgestellt, dass es eigentlich keine positiven Geheimnisse gibt. Sicherlich, man kann jemanden überraschen wollen und dies so lange wie möglich geheim zu halten versuchen. Aber in diesem Fall wird es sicherlich Möglichkeiten geben, den zu Überraschenden davon zu überzeugen, erstmal nicht weiter nachzufragen.
Ansonsten finde ich, dass Geheimnissen immer etwas Negatives anhängt. Der eine besitzt ungewöhnliche Hobbys oder Vorlieben, die in der Gesellschaft nicht anerkannt werden, der nächste ist nur noch aus Gewohnheit mit seiner Frau zusammen usw. Die meisten Sachen bergen ohnehin die Gefahr, dass irgendwann die Wahrheit oder etwas ähnliches ans Licht gerät.
Wenn niemand imstande wäre zu lügen, wären solche Geheimnisse alsbald bekannt. Ich bin zuversichtlich genug zu glauben, dass die Menschheit voll ist mit Wesen, die absonderliche Vorlieben haben und unnormal zu sein glauben. Doch wenn jeder unnormal ist, ist Unnormalität wieder normal.
In einigen Fällen wird es wohl an gesellschaftlicher Toleranz fehlen, und derjene, dessen Geheimnis keines mehr ist, wird als Perversling oder ähnliches geächtet. In diesem Fall hoffe ich darauf, dass einigermaßen humane Methoden gefunden werden, dem Absonderlichen zu begegnen.
Sorgen machen mir allerdings jene, die Situationen auszunutzen verstehen. Da steht ein Ladenbesitzer mitten in der Nacht in seinem Geschäft und drei muskulöse Männer kommen herein. „Gibt es hier Kameras oder eine Alarmanlage?“ fragt der eine. Der Ladenbesitzer muss verneinen, weil er nicht lügen kann. Gäbe es Kameras, würden die Drei vermutlich wieder gehen, unbescholten, denn die Frage nach den Kameras allein ist ja nicht strafbar. Der zweite Mann fragt: „Hast du eine Waffe?“ Wieder muss der Ladenbesitzer verneinen; Lügen ist ihm nicht möglich. Die Drei sehen ihre Chance, rücken bedrohlich näher, und es wird klar, dass es keine Möglichkeit geben wird zu verhindern, dass der Ladenbesitzer einen Teil seiner Habe in fremde Hände geben muss.
Auch dieses Beispiel ist mühsam zusammengebastelt, doch soll es verdeutlichen, dass die Fähigkeit, nicht lügen zu können, weiterr Nachteile birgt. Sicherlich, einmal gefasst werden die Täter maximal schweigen können. Abstreiten geht schließlich nicht. Doch bis es soweit ist, wenn es überhaupt dazu kommt, sind Geld und Waren dahin, der Ladenbesitzer geht pleite und traut sich nicht mehr aus dem Haus.
Ein weiterer Aspekt erweist sich als schwierig: Die Werbung. Werbung ist Beschönigung pur, meistens sogar reine Lüge. Und trotzdem enthält sie auch Informationen, und ich kann jeden verstehen, der sein eigenes Produkt lobpreist, als wäre es von höheren Mächten ersonnen. Und ich glaube sogar daran, dass zuweilen einer von ihnen die Wahrheit erzählt, nämlich weil er selbst davon überzeugt ist, etwas Besonderes geschaffen zu haben, selbst wenn die Wirklichkeit das widerlegt. In den meisten Fällen ist Werbung aber Augenwischerei, und wenn es keine Lügen mehr geben könnte, müsste auch die Werbung verschwinden. Zumindest die übertreibende, buntisierende, euphemisierende Werbung.
Was ist mit Werbung, die die reals existierenden guten Seiten eines Produkts anpreist, aber die schlechten verschweigt? Genau hier wird es wieder schwammig. Es existiert keine eindeutige Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, und wenn Photoshop ein paar Bilder aufpoliert, dann kann man das mal als Lüge, mal Hervorhebung deuten. Wahrscheinlich müsste sich auch hier die menschliche Mentalität ein wenig wandeln: Es gäbe mehr Ehrlichkeit, auch in Hinsicht auf erwerbbare Produkte, und jeder Hersteller, der heute Dinge erzählt, die an der Realität scheitern würden, gäbe es da nicht das leicht bekleidete Mädchen im Werbespot, würde in einer lügenfreien Welt an sich selber verzweifeln müssen beziehungsweise dafür sorgen, dass seine Versprechen sich als wahr erweisen. Dennoch blieben Augenwischerei und Notlügen vorhanden, und ich wäre der letzte, auch das noch ahnden zu wollen.
Eine Welt, in der aus eigenem Willen heraus keine „echten“ Lügen mehr existieren, wird anfangs mit Problemen zu kämpfen haben. Wahrheit schmerzt oft genug, und nicht selten ist Lüge die angenehmere Alternative. Doch bin ich optimistisch und glaube, dass Menschen imstande wären, sich an diese angebliche Härte zu gewöhnen, dass sie fähig wären zu lernen, sie richtig zu werten. Sicherlich, hier und da entstünden neue Probleme, die erst Lösungen bräuchten, doch vermutlich wären auch diese findbar.
Und dann? Was wäre dann? Was wäre so toll an einem Leben, in dem ich nicht mehr lügen könnte, in dem es für normal erachtet würde, die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott … Moment! Was wäre mit den Religionen? Würde sich dann endlich herausstellen, welche Religion Recht hat oder ob sie alle nur Märchen erzählen? Nein, natürlich nicht. Wer davon überzeugt ist, die Wahrheit zu erzählen, wird dies auch weiterhin tun. Wer also daran glaubt, dass Jesus das Rote Meer teilte und somit 72 Jungfrauen vor dem fliegenden Spaghettimonster rettete, wird dies auch weiterhin verkünden und Anhänger finden, die Gleiches glaube und für wahr halten. Aber jene, die tatsächlich lügen, die sich dessen bewusst sind, werden fortan von sich selbst daran gehindert werden.
Und dann? Friede, Freude, Eierkuchen? Harmonie ultra? Ich weiß es nicht, doch ich bin der festen Überzeugung, dass es das gegenseitige Verständnis erhöhen würde, würde man nicht mehr lügen. Plötzlich wären Radiomoderatoren nicht mehr unendlich gut gelaunt, sondern einfach nur menschlich; plötzlich würden Schauspieler öffentlich ihren unfähigen Regisseur denunzieren, anstatt dessen Mistfilme und die Zusammenarbeit zu preisen. Plötzlich würden unzählige Zeitschriften eingestampft werden, weil die Promis von allein nicht genug interessante, berichtenswerte Erlebnisse produzieren. Politiker müssten sich nicht mehr anhören, ständig zu lügen. Männer und Frauen könnten einander ein winziges Bisschen besser verstehen, weil niemand dem anderen irgendetwas vorzumachen imstande ist. Sicherlich, es gäbe zahlreiche wahrheitsbedingte Trennungen, doch gleichzeitig wäre es möglich, jederzeit mit einer einzigen Frage absolute Klarheit zu schaffen. „Habt ihr Atomwaffen?“ „Glaubst du, mich zu lieben?“ „Haste ma n bissel Kleingeld?“ „Bist du schwul oder was?“
Es werden keine rosa Plüschhasen durch die Gegend hüpfen, wenn wir alle aufhören zu lügen. Das Ozonloch wird sich deswegen nicht schließen, und Arschlöcher werden weiterhin Arschlöcher bleiben. Aber es wird ein wenig mehr Verständnis geben, ein wenig mehr Offenheit. Unzählige Verderbtheiten werden zutage treten, erstaunliche Gewohnheiten, und wir werden lernen müssen, damit umzugehen. Vermutlich wird vieles einfach wegignoriert, irgendwie akzeptiert werden, aber vielleicht gelingt es auch, manches, das für ungewöhnlich und absonderlich gehalten wird, zu normalisieren, einfach weil sich herausstellt, dass es viel zu viele Ungewöhnliche gibt, um sie noch als ungewöhnlich bezeichnen zu können. Es wird leichter, andere zu verstehen, die Motive des Handelns nachzuvollziehen, leichter zu begreifen, was der andere denkt und warum. Auf eine Frage nicht zu antworten, wird unschick sein, und Ehrlichkeit Grundbedingung für den täglichen Umgang miteinander. Forschungsberichte werden nicht aus beschönigenden, nichtssagenden Zahlen bestehen, und der Satz „Ich kann nicht.“ wird nicht länger Versagen bedeuten. Niemand wird sich Mühen müssen, so zu tun, als wäre er jemand anderes, bloß um sich selbst oder Vorstellungen von anderen gerecht zu werden. Männer werden durchschaut, wenn sie den harten Macker spielen, und die Kellnerin wird sich nicht erschrecken, wenn man ihre Frage, ob es denn geschmeckt habe, mit angewidertem Gesichtsausdruck verneint. Wir werden abhärten, weil plötzlich unser Inneres offenliegt und zugleich leichter zu uns selber finden, sobald nur jemand die richtigen Fragen stellt. Die Welt wird nicht schöner werden, aber besser. Sobald wir aufhören zu lügen.
[Im Hintergrund: Iron Maiden – „No more lies“]
Auf jede These die du Aufstellst fiel mir direkt eine Frage ein… die du ein paar Zeilen weiter selbst beantwortet hast. xD So bleibt mir nun also nicht mehr so viel Diskussionsstoff. Ich denke allerdings, dass es eine Welt ohne Lügen nicht geben kann.
REPLY:
Mir ist beim Schreiben auch aufgefallen, dass ich erst einmal ständig gegenreden musste, bevor ich zum Punkt kam. [Finde aber toll, dass du so lange durchgehalten hast…]
Im Prinzip ist das mit der „Welt ohne Lügen“ nur eine Fortsetzung des Gedankenspiels der „Welt der Telepathen“, das ich irgendwann mal machte. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie so etwas zu realisieren wäre, doch finde es spannend, darüber nachzudenken, was denn passieren würde, wenn…