Strandpromenade

Die folgende Geschichte entstand, weil Diego sie sich wünschte.

Die Mittagssonne, ein kolossaler weißer Fleck, der das gesamte Himmelsgewölbe einzunehmen schien, grinste grell auf die Strandpromenade hinab, als gelte es, die gesamte Welt in hellstes Gleißen zu hüllen. Die Promenade war leer, und im samtig weichen Kitzelsand des Strandes tummelten sich nur ein paar verwirrte Krabben. Selbst die eifrigsten Sonnenbadenden hatten das Weite gesucht, sich in kühlen Schatten zu noch kühleren Cocktails gesellt.

Ein einziger Mann lief die Promenade entlang. Langsam und behäbig, seinen dicken Leib mühsam vorwärts schleppend warf er einen riesigen runden Schatten auf den hellen Stein. Seine Sandalen knirschten sich träge durch die zahlreichen Sandkörner, die Wind und Menschen gen Stadt geschleift und auf dem Weg verteilt hatten. Der Mann ächzte, und Schweiß lief im die Schläfen hinab.

Die Krempe seines lächerlichen Touristenhutes schützte seinen dicken rotglühenden Schädel kaum vor dem überpräsenten Strahlen der Sonne, und auch die gelb gerahmte Sonnenbrille auf seiner Schweißperlennase half ihm kaum, dem Gleißen beizukommen. Halb erblindet kroch er voran, legte mühsam Meter um Meter zurück, als gelte es, in Zeitlupe den Schatten hinterherzujagen, die längst geflohen waren.

Seine Oberschenkel waren von unnötig kurzen Bermudashorts mit Papageienmotiv bedeckt und rieben bei jedem Schritt aneinander, erzeugten ein weiches Geräusch, das in dem immer wiederkehrenden Ächzen aus dem ausgetrockneten Hals des dicken Mannes beinahe unterging. Unterhalb der Shorts befand sich Haut, nackte Haut, die einst weiß gewesen war, doch nun zu warnender Röte erblühte. Auch hier floss Schweiß, folgte den Zwängen der Gravitation und landete schließlich in hellblauen Flipflops, wo er sich zu salzigen Pfützen sammelte.

Es war heiß, soviel stand fest, und selbst ausgedörrteste Wüsten hätten zugeben müssen, dass dies der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort, das richtige Wetter für Luftspiegelungen, für irre führende Fata Morganas, gewesen wären, der perfekte Moment, um einen dicken, langsam vorwärts schwankenden Mann mit Illusionen zu narren und ihn an seinem Verstand zweifeln zu lassen.

Doch was er sah, war keine Illusion, war kein Trugbild, kein billiger Zauber, den glühende Luft oder ein von Hitze zermürbter Verstand erwirkt hatten. Was er sah, war ein Nilpferd, ein echtes, lebendiges, aufrecht gehendes Nilpferd, das dem dicken Mann nicht nur entgegenkam, sondern auch noch gute Laune zu haben schien.

Die wild brütende Mittagssonne schien das Nilpferd ebenso wenig zu bekümmern wie das Fehlen von Menschen auf der Promenade – oder gar die Anwesenheit des dicken, behäbigen Mannes. Auf seinen zwei Hinterbeinen laufend wirkte es recht vergnüglich und gut gelaunt – soweit man das von Nilpferden überhaupt sagen kann. Und es trug zwei prall gefüllte Eistüten, aus denen das zarte, verlockend kühle Milchprodukt auf köstlich aussehende Weise langsam herauszuschmelzen begann.

Das Nilpferd stapfte fröhlich vor sich hin, der dicke Mann ächzte ihm entgegen. Unter einer Palme, die, hätte man sie befragt, das derzeitige Wetter mit „aufdringlich heiß und unerträglich trocken“ bezeichnet hätte, trafen sich die beiden Gestalten, die einander in Körperform nichts nachstanden. Die Palme schwieg, weil niemand sich für ihre Wettermeinung interessierte, der dicke Mann keuchte und schwitzte, und das Eis tragende Nilpferd gluckste aus den Tiefen seines voluminösen Bauchs.

Der dicke Mann hob den Blick. Allein diese kleine, fast winzige Bewegung schien ihm übermenschliche Mühen abzuverlangen, und der Schweißstrom auf seiner Stirn floss in neuen, bisher unbekannten Ausmaßen.

„Eis!“ röchelte er, als er plötzlich erkannte, was das fröhliche Nilpferd dort, direkt vor seinen Augen durch die sengende Hitze transportierte. „Eis!“
Die Augen des dicken Mannes bekamen einen fiebrigen Glanz, und als hätte er im Wilden Westen eine lupenreine Goldmine entdeckt, begann er, das eine Wort, den Namen des soeben gefundenen Reichtums, wieder und wieder auszurufen:
„Eis! Eis! Eis!“

Das Nilpferd nickte. Seine Zustimmung wirkte fast majestätisch, und es wunderte niemanden der leider abwesenden Anwesenden, das es nun nasal und mit wichtigtuerischer Stimme sprach:
„Speiseeis. Richtig. Und nicht nur das, sondern auch in verschiedenste Sorten Eises: Stracciatella, Walnuss, Melone, Blaubeere, Schokolade, Schlumpfeis, Malaga, Joghurt, Erdbeere – und diverse weitere. Sie alle vereint nicht nur eine exquisite, erfrischende Kühle, sondern auch der Umstand, dass sie sich in meinem Besitz befinden.“
Das fröhliche Lächeln des Nilpferdes bekam einen höhnischen Zug.

„Eis.“, keuchte der dicke Mann und mobilisierte seine letzten Kräfte für einen vollständigen Satz. „Könnten Sie mir bitte ein Eis abgeben?“
Das Nilpferd schnaubte. Es war ein lustvolles Schnauben, feucht und heiter, und irgendwie schaffte es das fröhliche Nilpferd auch noch, dabei ungestüm mit dem Kopf zu schütteln.
„Nein, nein und nochmals nein!“, rief es aus. „Dies ist mein Eis!“
Der dicke Mann weinte fast:
„Aber Sie haben zwei…“, begann er, doch das Nilpferd unterbrach ihn.
„Nein, nein und nochmals nein! Dies ist mein Eis!“

„Also gut.“, meinte da der dicke Mann und richtete sich auf. Seine Hose war zu eng und zu bunt, seine Haut zu rot und zu nackt, sein Gesicht zu feucht und zu salzig. Und doch schaffte er es für einen Moment, würdevoll auszusehen: „Sie haben es so gewollt!“
Der Nilpferd verstummte und schaute den dicken Mann fragend an. Erste Tropfen geschmolzenen Eises benetzten leise plätschernd den heißen Steinboden.
Der dicke Mann räusperte sich. Dann sprach er den einen Satz, der alles verändern sollte:
„Nilpferde besitzen keine Daumen.“

Das Nilpferd starrte verdutzt auf seine Vorderpfoten, die noch immer die beiden prall gefüllten Eistüten hielten, starrte zum dicken Mann, der nun seine letzte Kraft verloren hatte und langsam in sich zusammensank, als wäre er nur ein vergessener roter Ballon irgendwo am Strand. Dann starrte das Nilpferd zurück auf das Eis – und begriff.

Nilpferde besitzen keine Daumen. Nilpferde können überhaupt kein Eis halten. Nilpferde können überhaupt nichts mit ihren Gliedmaßen halten!
Die Erkenntnis durchfuhr das einst so fröhliche Nilpferd wie ein Blitz, und die beiden prall gefüllten Eistüten fielen zu Boden. Ein feuchtes Schmatzen erklang, als Waffeln und schmelzende Frostmilch aufschlugen, und sowohl dicker Mann als auch verdutztes Nilpferd sahen ihnen nach, als wohnten sie einem Wunder bei.
„Weg.“, sagte das Nilpferd nach einer Weile, die nur Sekunden währte, und der dicke Mann nickte bestätigend: „Weg.“

Und plötzlich, als hätte sie dort oben die ganze Zeit auf den richtigen, den perfekten Augenblick gewartet, stürzte eine silberne Möwe aus dem grellen Gleißen der Mittagssonne, stürzte hinab und klaubte die Eistüten auf, eine nach der anderen, balancierte sie in ihrem orangefarbenen Schnabel und schwang sich im nächsten Moment bereits wieder hinauf in leuchtende Höhen, die erbeuteten Objekte trophäengleich vor sich her tragend.

„Tja.“, sagte der dicke Mann, als die Möwensilhouette in der Sonne verglomm.
„Tja.“, sagte das Nilpferd, und gemeinsam gingen die beiden ins nächste Café, um sich einen Eisbecher zu bestellen.
Oder auch zwei.