„Ich heiße Mark, und ich knabbere gerne an Stiften.“
Nur zögerlich hatten die Worte seinen Mund verlassen, doch die Gruppe, der ‚Kreis‘, wie ihn Frau Käsekuchen nannte, begrüßte ihn lautstark und im Chor.
„Hallo Mark.“, tönte es aus sechzehn Mündern, und es war die Stimme von Frau Käsekuchen, die besonders gut zu hören war. Frau Käsekuchen war der Inbegriff der Sanftheit, und ihrer Stimme wohnte stets eine solche Zärtlichkeit bei , dass man sich wünschte, Kuscheldecken würden aus ihr hergestellt werden. Es war letztlich ihre Stimme gewesen, die eindringliche Sanftheit ihrer Worte, die ihn dazu bewegt hatte, sich am Kreis zu beteiligen. Sich ihm zu öffnen.
Was er jedoch verschwieg, war, dass er gar nicht Mark hieß. Er hieß Marko, und er liebte es, Dinge zu verschweigen. Er hasste es zu lügen, doch nur zu gerne ließ er die Hälfte der Wahrheit ungesagt. Aber auch das würde er niemandem erzählen.
„Hallo Mark.“, grüßten alle, und Marko nickte schüchtern.
„Hallo.“, sagte er. Ganz leise.
Frau Käsekuchen lächelte. Ihr Lächeln war wie ihre Stimme, warm und weich, und wenn es Kuscheldecken aus ihrem Lächeln gegeben hätte, dann hätte sich jeder liebend gerne in eine solche gehüllt.
„Viele Leute knabbern an Stiften…“, sagte Frau Käsekuchen langsam und begann somit das Gespräch. Die ‚Runde‘, wie sie es nannte, vermutlich weil es so gut zu ‚Kreis‘ passte.
„Oder an Fingernägeln.“, warf jemand ein, und Marko verzog angewidert das Gesicht. Fingernagelknabberei war ekelhaft. Unästhetisch, unhygienisch, unnütz.
Dann lieber Stifte.
„Es begann ganz harmlos.“, sagte er leise und fühlte sich, als wäre er in einem Klischee gefangen. Marko zählte dreizehn ihm aufmerksam zugewandte Köpfe. Dreizehn, inklusive Frau Käsekuchen.
„Ich liebte es schon immer, an Dingen zu knabbern. Meine Mutter weigerte sich frühzeitig, mich zu stillen, weil sie die Schmerzen meiner ersten Zähnchen nicht ertrug. Als ich täglich einen Nuckel zerkaute, kaufte man mir irgendwann keinen neuen mehr.
Dann entdeckte ich Stifte.“
Marko grinste traurig. Frau Käsekuchen nickte, als würde sie sich ganz genau erinnern.
„Ich liebte es zu zeichnen, doch noch mehr liebte ich es, an den Stiftenden zu kauen, sie mit Bisspuren zu übersäen. Mein Mund war ein Mahlwerk, und kein Stift verweilte lange in meiner Nähe.“
Dass Mutter ihm die Stifte immer wieder wegnahm, verschwieg Marko. Dass sein Vater eines Tages ausrastete, als er Bissspuren auf seinem heißgeliebten Platinfüller entdeckte, verschwieg er ebenfalls.
„Mit vier Jahren hatte ich zu schreiben gelernt. Meine Eltern hielten mich für ein Genie, doch alles, was ich wollte, war in steter Nähe zu Stiften sein zu dürfen. An ihnen zu saugen, meine Zähne in den Kunststoff rammen. Spuren zu hinterlassen.“
Frau Käsekuchen schüttelte traurig mit dem Kopf. Seufzte. Und kannte noch längst nicht die ganze Geschichte.
Marko fuhr fort, und vierzehn Ohrenpaare lauschten ihm gespannt. Vierzehn. Immerhin.
„Es war an einem siebten April, als ich meinen ersten Bleistift zerbiss. Ostern nahte, und ich hatte meinen Eltern ein Bild vom Osterhasen malen wollen.“
Dass er gar kein Bild hatte malen wollen, verschwieg Marko. Auch dass er nur malte, um Stifte benutzen zu dürfen, erzählte er nicht. Auch, dass mehr oder weniger seine gesamte Karriere auf dem Wunsch nach der Nähe zu Stiften beruhte, behielt er für sich.
„Es kam, wie es kommen musste: Das Ende des Bleistifts fand meine Lippen, fand meinen Mund, fand meine Zähne. Ich kaute, erst wenig, dann mehr, dann voller Inbrunst. Dann knackte es.“
Marko hielt inne. Der gesamte Kreis sah ihn aufmerksam an. Selbst Frau Käsekuchens Lächeln war verschwunden.
„Das Knacken war das schönste Geräusch, das ich jemals vernommen hatte. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken, und verzückt hielt ich inne. Saß da und genoss den Moment.“ Marko hatte die Augen geschlossen und lächelte sehnsüchtig. „Speichel lief über den Bleistift in meinem Mund, füllte den entstandenen Bruch und spülte den Geschmack von Holz und Graphit hinaus. Nach dem ersten, akustischen Höhepunkt folgte nun ein zweiter, geschmacklicher, wesentlich subtiler, doch umso verzückender. Als der Geschmack des Stiftes meine Zunge, meine Sinne, fand, war ich verloren.“
Marko öffnete die Augen. Blickte traurig in die Runde.
„Für immer verloren.“
Der Kreis schwieg. Verwirrt. Entsetzt. Fasziniert.
„Bis heute verbrauche ich täglich fünf bis neun Bleistifte. An schlechten Tagen bis zu zwanzig. Ich knacke sie, sauge kurz, dann genieße ich. Knacke wieder, lasse das Aroma auf mich wirken. Bis der ganze Stift verschwunden ist.“
Frau Käsekuchen sah blass aus. Sie stammelte ein paar Laute, doch niemand hörte ihr zu.
„Nehmt nicht irgendwelche Stifte. Nehmt Bleistifte, weiche am besten. B oder 2B. Staedtler ist gut, Faber-Castell ist besser. Vor allem die mit den Noppen.“
Er kramte in seiner Tasche. Holte eine Schachtel heraus. Als er begann, Bleistifte im Kreis zu verteilen, fand Frau Käsekuchen ihre Sprache wieder.
„Aber Mark!“, stotterte sie. „Das geht doch nicht!“
Doch Marko beachtete sie nicht. Schaute auf die Schachtel Bleistifte, die sich allmählich leerte.
Denn auch das hatte er verschwiegen: Seine Sucht war ansteckend. Schon hörte das erste, geliebte Knacken von Holz, ein genussvolles Seufzen, weiteres Knacken.
„Der ist für Sie, Frau Käsekuchen.“, sagte Marko und reichte ihr den letzten Stift. Den er extra für sie reserviert hatte. Der besonders verlockend aussah. Besonders knackig.
Frau Käsekuchen blickte auf Marko, blickte auf den Stift, zögerte, nickte dann und lächelte sanft.
„Leben Sie wohl.“, grinste Marko und entblößte die zahlreichen Holzsplitter zwischen seinen Zähnen.
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