Menschen 5

Alte Menschen, die lauthals und kopfschüttelnd über die angebliche Langsamkeit der Kassiererin schimpfen – und sich kurz zuvor freiwillig in die offensichtlich längste Kassenschlange stellten.

Eine Jugendliche, mit einer olivgrünen Jacke bekleidet, auf der sie in krakligen Filzstiftbuchstaben ihre Englischkenntnisse kundtut:
„Punks not death.“

Menschen 4

Ich sitze auf einer Couch inmitten einer Kneipe. Die Stimmung ist gut, die Musik gedämpft. Ich kann meine Nachbarn reden hören. Ein Mädel erzählt von dem Jugendbekleidungsfachgeschäft „Olymp & Hades“. Die Thematik allein mag verwerflich sein, doch wesentlich schlimmer ist, daß sie versucht, die Wörter zu anglifizieren. „Ollimp änt Häjds“. ‚O mein Gott!‘, denke ich und korrigiere mich: ‚O meine Götter!‘. Denn die griechischen Götter an den ebenso griechischen Orten hätten sich bei derartiger Verunglimpfung ihrer Wohnstätten bestimmt die Haare gerauft und Zeus angefleht, ein paar gehörige Blitze zu werfen. Vorsichtshalber wechselte ich meinen Sitzplatz.

Gerade versuche ich herauszufinden, wann die nächste Straßenbahn an dieser Haltestelle eintrudeln würde, als zwei Gestalten auf mich zugehen bzw -torkeln. Beide sind in einer Art HipHopStyle gekleidet, der aber ziemlich billig aussieht – in jeglicher Hinsicht. Der erste, mit modischem Schirmstirnband auf Schädel nuschelt eine Frage in meine Richtung. Ich erahne, daß es um die Bitte nach Zigaretten und/oder Alkohol geht. Ich habe nichts, gebe das zu verstehen. Der nächste Versuch der Ausformulierung einer Frage bezieht sich auf die Straßenbahn. „Noch drei oder vier Minuten.“, sage ich. Der Freund tritt hinzu, erkundigt sich ebenfalls nach der Straßenbahn, möchte zudem noch die Uhrzeit erfahren. Ich gebe bereitwillig Auskunft und wundere mich, warum seine Lippe so blutig ist. Währenddessen pinkelt HipHopper Nr.1 in einen Hauseingang. Beide stelle angewidert aber belustigt fest, daß Urin stinkt. Nr.1 bückt sich und klaubt einen Zigarettenstummel vom Boden auf. ‚Wie dreckig muß es einem gehen, damit man so etwas tut?‘, frage ich mich. Er reißt den Filter ab und versucht, den kümmerlichen Rest anzuzünden. Die Bahn nähert sich. Das Feuerzeug streikt. Nr.2 hilft aus. Die Feuerzeugflamme versengt mehr Haut als Tabak. Die Bahn beginnt zu bremsen. Noch immer ist der Stummel unangezündet. Noch immer bemühen sich die beiden. Für einen Zug. Für einen lächerlichen Zug an einer alten, weggeworfenen Zigarette. Die Bahn hält. Nr.2 steckt sein Feuerzeug ein, geht zur Tür, findet unterwegs noch einen Zigarettenstummel im Rinnstein, steckt ihn ein. Die beiden setzen sich. Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid suche auch ich einen Sitzplatz – am anderen Ende der Straßenbahn.

Menschen 3

Ich ging an einer Frau vorbei. Sie klagte seufzend über diverse Krankheiten und Wehwehchen, und ich fragte mich, ob ich auch sämtliche Gespräche mit dieser Thematik füllen werde, wenn ich älter bin. Gerade meinte sie „…da wurde mir ganz schwarz vor Augen…“, als ihre Gesprächspartnerin desinteressiert einen von diesen säuberlich frisierten, winzigen Hunden am Halsband packte, hochhob und sich unter den Arm klemmte, als wäre er nichts weiter als ein unebdeutendes Plüschtier, ein modisches Spielzeug mit einer lächerlichen Schleife im Fell. Als ich weiterlief, sah mir der Hund traurig hinterher, fast, als wäre er sich seiner Bedeutungslosigkeit bewußt.

Eine Straßenecke weiter begegnete ich einem weiteren Hund. Ausgelassen wühlte er in einem riesigen Stoffwechselendproduktberg herum und ignorierte sein glatzköpfiges Herrchen, das verärgert nach ihm rief: „Bitch! Bi-itch!!!“ Für einen Augenblick war ich verdutzt. Wie konnte man seinen Hund derart titulieren? Doch als ich der wörtlichen Übersetzung des Begriffs gedachte, erschien die Namensgebung plötzlich weniger skurril. Verschmitzt lächelnd ging weiter.

Menschen 2

Ein Junge kommt mir entgegen. Zielstrebig steuert er eine kleine Pfütze an, rennt darauf zu, hält kurz davor an, wagt noch einen halben Schritt und beobachtet dann fasziniert den eigenen Fuß, wie er langsam im schlammigen Naß untergeht. Wenige Augenblicke später macht er mit dem anderen Fuß einen großen Schritt über die Pfütze und rennt vergnügt weiter.

Drei Kinder klettern auf einer metallenen Plastik herum, halten sich auf fast schon obszöne Weise an allen erdenklichen Körperteilen der dargestellten nackten Ringer fest, offensichtlich ohne sich ihres Treibens bewußt zu sein.

Eine alte Frau in orange-braun-gestreifter Strickjacke gibt bei der Lektüre des Bibliotheksbuches „Hilfe, ich habe Urlaub“ immer wieder ein leises Kichern von sich und zupft die ganze Zeit über an den faltigen Hautlappen unterhalb ihres Kinns herum.

Ein pubertärer Junge hockt rebellisch auf einer Banklehne, die Schuhe auf der Sitzfläche postiert. Er pfeift durch die Zähne, reiht wild und ohne Taktgefühl Töne aneinander, minutenlang, hält nicht inne. Ich atme auf, als ich in die Straßenbahn entfliehen kann.

Ein Kind führt einen kleinen Hund an der Leine. Dieser rennt los, das Kind eilt hinterher, tollt mit ihm herum. Dabei stürzt es zwei Treppenstufen hinab, steht auf, rennt weiter.
Die besorgte Oma ruft viel zu leise hinterher:
„Sei vorsichtig, ja!?“

Menschen

Ein molliges Mädel kommt mir entgegen, führt ihren Freund an der Hand. Auf ihrem dunkelblauen Kapuzenpullover lese ich in Brusthöhe die Worte „5UCK.MY.D1CK“. Verwundert wende ich mich ab.

An der Kasse steht vor mir ein Türke. Auf den ersten Blick wirkt er dümmlich, doch sein Lächeln ist echt. Er kauft Papers und Lamm. Mehr als 5 kg Lamm. Beinstücken und Hackfleisch. Gefroren. Was macht er wohl damit?

Zwei ältere Frauen stehen hinter mir. Sie schimpfen über Dinge, die meiner Aufmerksamkeit entgingen. Parallel unterhalten sie sich über die Zeitschriftenstapel in ihren Einkaufstaschen. Rätselzeitschriften. (Haus)Frauenzeitschriften. Die beiden wirken wie fleischgewordenen Klischees ihrer selbst.

In der Straßenbahn sitzt ein Angetrunkener, die offene Bierflasche in der Jackeninnentasche verstaut. Er schaut aus dem Fenster, brummelt irgendetwas und schüttelt traurig-lächelnd den Kopf. Ich würde ihn gerne verstehen, höre hin, schaue hin, folge seinem Blick. Doch ich vernehme nichts, erkenne nichts. Erneutes Kopfschütteln und weitere Monologe. Ich bin voll von Neugier und Mitleid. Eine eigenartige Mischung.