Man hätte Gunter und Gerald für eineiige Zwillinge halten können. Doch das waren sie nicht. Schließlich gab es – zumindest heute – mindestens einen entscheidenden Unterschied: Gerald hatte Geburtstag, Gunter schnupfen.
Wenn Gunter nieste, verschluckte er stets das „Ha“ vor dem „Tschi“. „Tschi!“ platzte es dann aus ihm heraus, und sein rechtes Bein stampfte gleichzeitig auf den Boden. Gerald hatte bisweilen geargwöhnt, daß Gunters Stampfen dazu diente, das fehlende „Ha“ zu kompensieren, doch sicher war er sich nicht.
Die beiden standen in Geralds Zimmer herum, und Gerald war gerade dabei, Gunters Geschenk [Es war mit Sicherheit wieder ein abenteuerlich aussehender Stein, den Gerald seiner Sammlung abenteuerlich aussehender Steine hinzufügen konnte.] auszupacken, als Gunter nieste. „Tschi!“ explodierte es aus seinem Mund und Gunters rechter Fuß stampfte ein Loch in den Boden.
Tatsächlich: Da war plötzlich eine Delle im Teppich wo gerade noch eine ebene Fläche gewesen war. Gunter zog den Teppich beiseite. Unter diesem befand sich ein Loch, das ungefähr die Ausmaße von Gunters rechtem Fuß hatte. Nacheinander lugten Gunter und Gerald hindurch, doch erkannten nicht viel. Etwa ein Meter tiefer konnten sie aber eine Art Plattform erahnen.
Die beiden zögerten nicht lange und entfernten rasch weitere Teile des Bodens, vergrößerten innerhalb weniger Sekunden derart, daß ein schlanker Körper bequem hindurchpaßte.
„Ich gehe zuerst.“, meinte Gunter und Gerald nickte. Gunter ging immer zuerst.
Auf die Plattform zu gelangen, war nicht schwierig. Schlüpfte man durch das Loch, brauchte man nur noch loszulassen und landete mit einem unangenehm lauten „Wumms!“ auf der nächsten Ebene.
„Metall“, murmelte Gerald, „Die Plattform besteht aus Metall.“
Zudem war sie auch nicht sehr groß, maß vielleicht ein mal ein Meter und war umkränzt von einem stählernen Geländer. Nur eine Seite war offen. Dort ragte ein Brett über den Rand hinaus ins Leere.
„Eine Leiter!“, rief Gunter und war schon die ersten Sprossen hinabgestiegen.
„Wir sind auf einem Sprungturm.“, stellte Gerald fest, sobald auch er die Leiter betreten hatte.
„Wir sind in einer Schwimmhalle!“, rief Gunter von unten, denn er hatte die Leiter bereits hinter sich gelassen und erkundete die Umgebung.
„Tschi!“, nieste er und stampfte auf. Das Echo schallte von den Wänden wider.
‚Der Raum muß riesig sein!‘, dachte Gerald, doch konnte sich nicht erinnern, bisher über einem Schwimmbad gewohnt zu haben.
„Die Becken sind leer!“, rief Gunter, der von seiner Erkundungstour zurückgekehrt war. „Alle Becken sind leer.“ Er nieste erneut. Und stampfte.
Geralds Augen hatten sich mittlerweile an das dämmrige Dunkel gewöhnt, und er konnte seine Umgebung allmählich erkennen. Sie waren vom höchsten Sprungturm herabgestiegen; daneben standen noch zwei weitere. ‚Zehn Meter, fünf Meter, drei Meter.‘, schätzte Gerald und starrte in das leere Becken vor seinen Füßen. Es war nicht groß, aber sehr tief.
„Dahinten sind noch drei weitere.“, erklärte Gunter atemlos. „Eines für Kinder, ein großes zum Schwimmen und ein klitzekleines.“
„Ein Whirlpool.“, vermutete Gerald. Gunter nickte und nieste.
„Was war das?“, fragte Gerald plötzlich.
„Ich habe geniest.“, meinte Gunter.
„Psst.“, flüsterte Gerald und versuchte, in der Stille des Schwimmbads etwas zu hören, das nicht hierhergehörte. Schritte.
„Dort drüben.“, Gunter flüsterte nun auch und zeigte nach links.
Gerald nickte.
Gunter ging voran, langsam diesmal, schleichend. Gerald lief hinterher, versuchte, im Dämmerlicht etwas erkennen zu können.
„Es sind zwei.“, flüsterte Gunter plötzlich und deutete auf eine vertrocknete Palme. „Sie verstecken sich dahinter.“
Gerald nickte erneut. In seiner Tasche spürte er das beruhigende Gewicht des mit Geschenkpapier umwickelten Steins.
Die zwei Silhouetten lösten sich von ihrem Versteck, kamen zu ihnen.
„Wer seid ihr?“, rief Gunter und Gerald hörte das leichte Zittern in seiner Stimme.
‚Er hat Angst.‘, dachte Gerald, ‚Dabei hat Gunter niemals Angst!‘
Eine der beiden Fremden schrie plötzlich „Ha!“ und stampfte auf den Boden. Gerald konnte die beiden nun gut erkennen. Sie sahen aus wie Gunter. Beziehungsweise er selbst. Alle beide.
Was war hier los?
„Ich heiße Gunter.“sagte der Fremde, der nicht geschrien hatte. „Und das ist Gerald.“ Er zeigte auf seine Begleitung und ergänzte:
„Ich habe Geburtstag. Und Gerald Schnupfen.“