Sredowiner Begegnung oder: Ein unlesbarer Text

Ich traf Breschnik in seinem Lieblingscafé „Awtimitow“, „Hütchen“, benannt nach der südpretorgischen Kopfbedeckung, die ihre Verbreitung wohl einzig und allein der schillernden und zugegebenermaßen umstrittenen Gestalt Wassili Panerositschs verdankt hatte, und heute noch, 24 Jahre nach dem Kampf um Trogotew und dem Tod Malitio Antrolis‘, in den Kopfen der Lotograder Bevölkerung perelengutales Freiheitsdenken vertrat. Wassili Panerositsch war ebenso von der Bildfläche verschwunden wie sein Awtimitow, hatte Platz gemacht für Persönlichkeiten wie Freter Julkatow und Singra Glestjenew, die vor allem durch ihr Werk, weniger durch ihr Äußeres, Bekanntheit erlangten. Ich war Julkatow begegnet, zwei Jahre nach den unfreulichen Ereignissen in Sildograd, und er redete noch immer feurig und entschlossen von Umbruch und Aufbruch, von Neugestaltung und Utiliviration, wie damals, als er mit seinem Roman „Vom ungebührlichen Betragen des Wlekodin Walitki“ die Beigeisterungsrufe zahlreicher linkssoziophiler Entropregatisten und den Zorn ebenso vieler Fretizianer auf sich zog. Hätte es Sildograd und Regolewa nicht gegeben, stünde er vermutlich heute an der Spitze der Entropregatisten, der Philohumaner, wie sie sich jetzt nennen, und hielte zornige Reden über die Untaten Zoloptischiks und die Verfehlungen der Regierung Baltokan.

Breschnik saß auf demselbenen eichenen Stuhl in der Ecke des Cafés wie wohl jeden Dienstag, hatte Schriften Feltatows und Renejewks vor sich ausgebreitet, ohne sie jedoch auch nur eines Blickes zu würdigen. Statt dessen starrte er durch die regenverdreckten Scheiben des „Awtimitows“ nach draußen und bewarf die wenigen Passanten, die sich bei diesem Wetter nach draußen wagten, mit verächtlichen Blicken. Ständig drang ein unflätiges Brummen aus dem Bartgeflecht hervor, das seit den Pastrowiner Tagen seinen Mund umkränzte, und zwischen den buschigen Augenbrauen hatte sich eine Zornesfurche tief in seine Stirn gegraben. „Breschnik, alter Freund. Sei gegrüßt!“, rief ich, zog einen Stuhl heran und setzte mich. Breschnik hasste es, wenn man ihn Breschnik nannte. Schließlich war „Breschnik“ die Verballhornung von „breschnowo knowojesk“, „Warzennase“, und er hasste diesen Spitznamen ebenso sehr, wie er alles andere zu hassen schien. Aber jeder nannte ihn nunmal Breschnik, auch wenn sein wahrer Name Anatol Krapatjew war, Anatol Krapatjew, Sohn des ursoletwischen Literaten Kwasor Krapatjew, dem unter anderem die Verbreitung ursoletwischer Ljegtowin-Prosa zu verdanken war und der mit seinen drei Bänden „Sukudow und Das Schicksal der Przeren“ gewissen Ruhm erlangte. In den wilden Baschnakjer-Jahren hatte Breschniks Freund Snetogor Filartschik, Enkel des bekannten Mäzens Rukodan Mesca, ein zwölfzeiliges Gedicht im Walokreder Ruttwa-Boten veröffentlicht, das zwar eigentlich die unzumutbaren Zustände in den Westvierteln Jetuviens anprangerte, aber eben auch den Spitznamen beinhaltete, mit dem sich Breschnik von nun an bestückt sah. Dieser Fehltritt Filartschiks bildete erstaunlicherweise keineswegs den Schlusspunkt der Freundschaft mit Breschnik, doch wird gemunkelt, dass in mit den umstrittenen zwölf Zeilen der Grundstein dafür gelegt wurde, was knapp zwei Jahrzehnte später, beim gemeinsamen Besuch des Hretjokin-Museums in Plarowosk, zu Hass und Bluttat eskalieren sollte. Dass Breschnik überlebte, war anschließend von den zuständigen Ärzten des Marjana-Hospitals in Nowojensk als wahres Wunder bezeichnet worden, doch war es kein Wunder, mit dem Breschnik jemals glücklich werden konnte. In „Flegel aller Dinge“, dem ersten Roman nach achtjährigem Schweigen, ließ Breschnik nicht umsonst Worotin, den tragischen Helden der Geschichte, anstelle seines Freundes Kliran in den Flammen der Optjawejser Bücherei vergehen, ein papiernes Opfer sozusagen und zugleich elegante Antwort auf das, was Putarkin, Ljodasenjew und Ragontschik in jenen Tagen publizierten.

Ich hatte keine Ahnung, ob sich Breschnik meiner entsann. Schließlich war es mehr als sechzehn Jahre her, dass wir zuletzt ein Wort gewechselt hatten. Minschka Palantowa, damals aufstrebende erste Violinistin im Sildograder Kammerorchester, heute Herausgeberin der neofeministischen „Wlaka-Woche“, hatte sich damals erdreistet, Breschniks Gedicht „Vom Beginn der Zanoten“ vor den Augen des Premierministers Hukolow und seiner Gattin zu zerreißen und zu behaupten, es sei nichts weiter als eine präpubertäre Kopie meines Werkes „Antrolawischer Sinnestanz“. Das war es gewiss nicht; vielmehr hatte ich mich eines Gedankens in Breschniks Fabel „Die unbeugsame Flatjana“ bedient und ihn zum Dreh- und Angelpunkt meines in der Fachpresse, insbesondere im „Zükischen Weltboten“, lobgepriesenen Gedichtes „Auch andere in Imiir“ werden lassen. Ich hatte Breschnik mit Entschuldigungen und Wertbekundungen überhäuft, doch Breschnik war – wie so viele Djelitische Kreative – ein Sturkopf und ließ weder mich noch meine wohlwollenden Worte an sich heran.

Ich bestellte einen Murlan-Tee und wartete auf ein Funkeln, ein Wiedererkennen, in den von den Brauen fast verdeckten Augen Breschniks, hoffte gar auf ein Lächeln, darauf, dass der alte Unmut längst vergessen und – wie ich ihn einschätzte – unter neuem begraben war. Vor zwei Jahren hatte ich die neunbändige Reihe „Memoiren eines Katschowniks“ veröffentlicht und sie Breschnik gewidmet, dessen frühes Werk, insbesondere „Die Altanischen Elysien“ und „Am Anfang aller Dinge – zwei Märchen für Rudkowa“, mich nicht nur beeinflusst, sondern gar zu dem gemacht hatten, was ich heute war: Ein Poet, der sich durchaus mit einem Ranrik, einem Hjaltow, einem Krasnitsch, gar mit dem Vermächtnis des altehrwürdigen Turgorows, messen konnte. Nur allzu gern hätte ich aus seinem, Breschniks, bittere Worte murmelnden Mund erfahren, ob er die „Memoiren eines Katschowniks“ gelesen, ob er die Andeutungen verstanden hatte, die ich mit Sorgfalt in das Geflecht des zweiten Kapitels „Kein Zimmer im Hotel Strowna“ eingebunden hatte, ob er gar schmunzelte, als er in der Figur des Teodrow Umniks seinen alten Freund Pjanir Kalanow wiedererkannte.

Doch Breschnik schwieg, hatte selbst sein unaufhörliches Brummen eingestellt, und starrte ins Leere. Ich wollte erzählen, wollte von Pranetan berichten, von Ljento und Breski, wollte von den Gebrüdern Charnaw reden und ihrer der ulsajischen Zensur zum Opfer gefallenenen Roman „Die Verherrlichung der phretischen Falatna“, wollte ausschweifen, ihn mit Worten überschütten, Worten der Verehrung, Worten des Dankes und, ja, noch immer, Worten der Entschuldigung, doch Breschnik schwieg, sah mich nicht an, saß reglos auf seinem Stuhl und schaute nach draußen.

Der Regen hatte sich gelegt, und mein Tee war längst kalt geworden, als ich mich erhob und ging.