Zwillinge

Aus der Ferne nahen die Lichter der Bahn, und wie von selbst setze ich mich in Bewegung. Gerade, als mich darüber wundere, zu solch früher Stunde bereits zu derartigen Laufgeschwindigkeiten fähig zu sein, schließt sich die Tür hinter mir und ich setze mich auf den erstbesten freien Platz. Mit gegenüber sitzt ein Mann, Anfang Vierzig, mit Strähnchen in den zurückgekämmten Haaren. Er liest in einem Brief, mehrseitig, Recyclingpapier.

Nach einer Weile steckt er ihn die seine Tasche zurück und holt einen zweiten, identisch aussehenden hervor. Er lacht traurig, öffnet ihn und sieht ihn an. Dann mich.

„Das sind Briefe vom Jugendheim. Ich soll zahlen. Ich hatte gestern Geburtstag, und jedes Jahr zu meinem Geburtstag bekomme ich diese Briefe. Tolles Geschenk.“
„Na denn. Herzlichen Glückwunsch.“, antworte ich halbironisch.
„Ich bin Amerikaner.“, erklärt er. „Meine Kinder sind 11. Zwillinge. Die Mutter ist gestorben, und ich darf die beiden nicht mehr sehen. Aber zahlen soll ich.“

Mosaikartig bricht sein Leben aus ihm heraus. Er lernte seeen Frau in den USA kennen, schwängerte sie, heiratete sie. Seine Kinder wurden an einem Schnapszahldatum geboren.
„Das sollte doch eigentlich Glück bringen.“, werfe ich ein, doch weiß, dass es das nicht tat.
Sie ließen sich scheiden, und weil die Frau Alkoholikerin war, verbrachten die Kinder viel Zeit im Heim. Vor fünf Jahren starb die Frau, vermutlich infolge ihrer Krankheit [Ihm wurde eine diesbezügliche Aussage verweigert.], und das Sorgerecht ging an das Jugendheim.
Nicht an ihn, den Vater. Weil er Amerikaner war. Ausländer.

Er hatte Besuchsrecht, durfte seine Kinder bis zu einem Tag pro Woche sehen. Die mütterlichen Großeltern hatten größere Befugnisse, doch das spielte keine Rolle. Eine Zeitlang machte er das mit, nahm Urlaubstage, fuhr Hunderte Kilometer durch Deutschland, um seine Kinder eine Stunde lang sehen zu können, kehrte dann zurück.

Er vermittelte seiner Tochter eine Brieffreundin, und ihm wurde vorgeworfen, dadurch einen Keil zwischen Heim und Kinder treiben zu wollen. Es gibt einen komplizierten Ausdruck dafür, doch ich habe ihn vergessen, sobald er ihn ausgesprochen hatte.

Nun besteht sein einziger Kontakt zu seinen Kindern in den Zahlungen, die er zu leisten hatte. Für sie ist er ein Fremder. Eine Geburtagskarte erhielt er nicht.

„Ich steige hier aus.“, sagt er und geht. Verstört bleibe ich zurück, bis ich bemerkt, dass auch ich aussteigen muss, und schlüpfe rasch durch die sich schließenden Türen hinaus ins Freie.