Morgendlicher Ohrwurm 46: Zug und Strand

Verschlafen. Ein großes Wort für eine Sache, deren Bedeutung für mich kaum existiert. Schließlich bedarf es keines präzisen Zeitpunkts, zu dem ich meiner Arbeit nachzugehen habe. Ich habe freie Auswahl, und solange ich die erforderlichen Stunden erbringe, ist sogar mittägliches Auftauchen akzeptabel.

Wenn das Erwachen eine Stunde nach dem Weckerklingeln erfolgt, ist es also nicht Panik, die mich erfüllt. Nur ein Seufzen verlässt meine Lippen, bevor ich in derselben Geschwindigkeit wie jeden Morgen den Weg zum Bad suche, um mich dort der Reinheit und allmählichem Entmüden hinzugeben.

Allmählich spüle ich schläfrige Trägheit von meinem Leib. Ein Ohrwurm meldet sich plötzlich zu Wort, singt „Runaway Train“ in meinem Kopf. „Runaway Train“?, wundere ich mich, und mein noch dämmriges Denken braucht eine Weile, um nicht nur Melodie und Refrainfragmente, sondern auch den Interpreten hervorzukramen. Soul Asylum.

Mit der Erinnerung kommt auch die Erinnerung daran zurück, dass das Video damals lauter vermisste Kinder zeigte – und wohl erfolgreich ein paar von ihnen zurückbrachte. Und daran, dass ich den Song eigentlich nie mochte.

Als ich ein paar Minuten später Müsli in mein Antlitz schiebe, ist es plötzlich „Fjara“, das durch meinen Schädel wurmt. Sólstafir also. Schon wieder. Ich schmunzle zufrieden, und ein paar Haferflocken fallen mir aus dem Mund.

Begegnungen 55: Kreuzung

Ich wollte gerade die Strecke überqueren, als ich die Schnecke sah.
Sie kam von rechts, hatte also Vorfahrt. Ich hielt an und stieg vom Rad. Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich wartete. Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich wartete noch ein bisschen. Die Schnecke hatte eindeutig Vorfahrt. Sie kam schließlich von rechts.
Sie bewegte sich nicht.
‚Wahrscheinlich ist sie nur sehr langsam.‘, dachte ich.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
‚Sehr sehr langsam.‘, korrigierte ich mich in Gedanken.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
‚Andererseits‘, überlegte ich, ‚besteht die Schnecke hauptsächlich aus einem Haus. Und Häuser haben üblicherweise keine Vorfahrt.‘
Ich schaute die Schnecke an. Sie schien sich ein paar Millimeter vorwärts bewegt zu haben. Aber ich war mir nicht sicher.
‚Ich fahr jetzt einfach.‘, dachte ich und stieg auf mein Rad.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
„Ich fahr jetzt einfach.“, sagte ich vorsichtshalber, falls es sich die Schnecke noch einmal überlegen sollte.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich radelte über die Kreuzung, an der Schnecke vorbei – und wich im letzten Moment einem Frosch aus,
„Ey.“, quakte der Frosch. „Ich hatte Grün!“
Ich nickte einsichtig und wartete, bis der Frosch vorbeigehüpft war.