Straßenmusikant

Es war Samstag. In der Fußgängerzone drängten sich die Menschen aneinander vorbei, suchten Wege durch wimmelnde Massen fort vom letzten Geschäft hin zum nächsten. Überdimensional große Einkaufstaschen stießen grüßend zusammen, bevor sie hinter Mänteln und Hosen und weiteren Taschen verschwanden.

Alle paar Meter hatte sich ein Straßenmusiker positioniert, versuchte, mit Wohlklang oder anderen Attraktionen den Vorbeilaufenden ein wenig Neugier einzuflößen und ein paar glänzende Münzen zu entlocken. Virtuos spielte eine zierliche Dame auf einem monströsen Akkordeon und entlockte ihm die erstaunlichsten Klänge. Musik war das nicht, aber dennoch beeindruckend. Ein Querflöter spielte Bach und gleichzeitig Fußball, präsentierte musikalische Klangkunst und beeindruckende Ballbeherrschung. Irgendwo vernahm ich ein Fagott, nicht schön, aber laut, und ein paar Schritte weiter spielte ein einziger Mann gleichzeitig Schlagzeug, Xylophon und verschieden gefüllte Glasgefäße, während sein Mund in grellem Falsett Melodien auf die Vorbeilaufenden warf.

Ich hielt nicht inne, um zuzuhören, betrachtete nicht die Gruppe mit Lendenschurzen bekleideter Akrobaten, ignorierte das nervige Hupen der gut besuchten Clownsvorstellung inmitten eines Springbrunnens und wich auch dem Pantomimen und seiner unsichtbaren Glasscheibe aus.

Ich schlängelte mich durch die Menschenmassen, suchte ein Geschäft nach dem nächsten auf, um wieder und wieder einen Punkt auf meiner Einkaufsliste abzuhaken. Heute war ich besonders schnell, stellte ich fest, und nach nur 45 Minuten hatte ich fast alle Erledigungen hinter mich gebracht. Nur eine Sache fehlte noch, und schon wollte ich mich auf den Weg begeben, als ich eine Gitarre vernahm. Zwei Töne waren es nur, die ich hörte, zwei zaghaft angezupfte Saiten, und dann nichts mehr.

Ich sah mich um, drehte mich im Kreis, ignorierte Personenmeere und Einkaufstüten, ignorierte Futterstände und Schnellportratierer, ließ meinen Blick schweifen – und fand ihn.

Er war ein Riese, ein monströser Berg Mensch, der sich in einem schlecht beleuchteten Durchgang aufgestellt hatte. Er hielt eine Gitarre in seinen riesigen Pranken, deren beste Zeiten schon vor diversen Dekaden vorbei gewesen waren. Die G-Saite fehlte, doch das schien den Riesen nicht zu stören. Liebevoll, fast streichelnd, berührte er mal diese, mal jene Saite, entlockte ihr einen einzigen Ton, und hielt dann inne, als gäbe er sich mit allen Intensität diesem einen kurzen Klang und seinem kaum vernehmbaren Nachhall hin.

Fast zufällig wirkten Rhythmus und Melodie, und es hatte den Anschein, als spielte er nicht für Geld, nicht für die ignorant vorbeieilende Stadtbevölkerung, sondern für sich selbst, einzig für sich selbst – und vielleicht für die wenigen, die genug Aufmerksamkeit übrig hatten, ihn überhaupt wahrzunehmen.

Denn trotz seiner massigen Gestalt, trotz seiner physischen Imposanz fiel es leicht, ihn zu übersehen. Fast schüchtern hatte er sich an die Wand gepresst, ließ seine ausgewaschenen Klamotten mit ihrem Grau verschmelzen, und hätte sein Instrument nicht hin und wieder einen Ton in die Welt gehaucht, so hätte niemand ihn überhaupt wahrgenommen.

Ein abgegriffener Hut verhüllte sein Haupt, und ein wilder, buschiger Bart ließ von seinem Gesicht nichts erkennen. Sein Mund war irgendwo inmitten des haarigen Gebüschs verschwunden, und ich hatte Mühe, irgendwo auch nur ein Stück Haut wahrnehmen zu können. Alles war Hut und Bart. Und mittendrin gab es zwei smaragdgrüne Augen, die listig funkelten.

Ich trat ein paar Schritte näher an den Riesen heran, versuchte, die Welt und ihr Getöse hinter mir zu ignorieren und ihm zu lauschen, mich seinem Spiel hinzugeben.
Sekundenlang geschah nichts. Dann, ein Ton, fast zitternd in die Luft gemalt, ein einziger Klang, der anmutig meine Ohren streichelte, bevor er verblasste und entschwand. Dann folgte ein weiterer ein dritter, die Ahnung einer Melodie kitzelte meine Sinne, und ich schloss die Lider, presste sie zusammen, um mich mit aller Konzentration der Akustik zu widmen.

Da! Ein weiterer zarter Gitarrensaitenzupfer, ein weiterer Ton, der sich zusammen mit seinen Vorgängern zu einem fragilen Klanggebilde zu formen schien.

Und dann hörte ich den Gesang, ein Gesang, wie ich ihn noch nie zuvor vernommen hatte, ein Gesang, der keine Worte beinhaltete, nur gezwitscherte Töne, hin und wieder ein Trillern, dessen Lieblichkeit so gar nicht zu dem riesigen Menschen mit seiner schäbigen Gitarre passte. Das Zwitschern war leise, leiser noch als das Gitarrenspiel, und ich trat vorsichtig zwei, drei weitere Schritte an den Musikanten heran.

Der Gesang setzte aus, ließ Platz für ein paar mit der Gitarre in den Äther gehauchte Klangtupfer, und begann dann von neuem.

Längst hatte ich meine Augen wieder geöffnet, fast so, als könnte ich die Musik besser wahrnehmen, wenn ich sie auch sähe, wenn ich mich ihr mit sämtlichen Sinnen verschrieb.
Der Mund des Riesen blieb still. Verborgen unter bärtigem Dschungel erkannte ich keine Regung, keine Bewegung – und doch hörte ich die Laute, das liebliche Tirilieren und Zwitschern, das fast vogelartig anmutete, fast so, als befände sich inmitten seines Bartes ein Nest, eine Behausung für winzige Schnabelwesen, die zum Klang der uralten Gitarre ihre Melodien preisgaben.

Das war albern!, dachte ich, doch beobachtete den Kopf des Riesen genau. Hatte da nicht eben etwas im Bartgewäschs geraschelt, sich bewegt? Ich wusste es nicht, konnte es nicht genau sagen. Und fast war es mir egal, war doch diese Musik, dieser Gesang, dieses Gitarrenspiel, vielleicht das Schönste, was ich jemals gehört hatte. Es ergriff mich und trug mich fort, ließ ein Lächeln auf meinen Lippen blühen und legte sich auf meine Sinne, liebkoste sie, als wäre es gehauchter Honig, als wäre es Kuss und Sehnsucht, als wäre es Frühlingssonnenstrahl und das Rascheln herbstiger Blätter, als wäre es Ewigkeit und Anfang.

Ich weiß nicht, wie lang ich dort stand vor dem Gitarre spielenden Riesen, wie lang ich dem Gezwitscher aus seinem Bartgeflecht lauschte, wie lange ich mich in den Bildern verlor, die seine Melodien in mir erweckten, wie lange ich lächelte und genoss, wie lange Freudentränen meine Wangen hinabperlten, wie lange ich innehielt, erstarrt im Angesicht solcher grenzenloser Schönheit, wie lange ich dastand und einfach nur lauschte, zuhörte, die Klänge in mich sinken ließ und wiederum in ihnen versank.

Ich weiß es nicht, doch als ich zurückkehrte, als ich wieder zu Bewusstsein kam, als ich zurückfand in die lärmende, hektische Welt, packte der Riese gerade zusammen, verstaute seine Gitarre in einem schmutzigen, löchrigen Sack und verschnürte ihn. Ich holte einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn sanft auf den Pappteller am Boden, auf dem sich bisher nur ein paar Kupfermünzen tummelten. Der Riese nickte mir zu, und seine Augen funkelten fröhlich.

Ich wollte ihm ein Lächeln schenken, doch bemerkte, dass ich längst lächelte, dass ich die ganze Zeit gelächelt hatte. Also nickte ich zurück und drehte mich um.

„Lebewohl.“, sagte der Riese hinter mir, und seine Stimmte dröhnte tief. Ich hörte ein Rascheln, das aus seinem Bart zu kommen schien, ein Flattern wie von winzigen Federflügeln, und dann hatte mich die Masse umherirrender Menschen bereits verschlungen.

,Lebewohl.‘, dachte ich und lächelte noch immer.