Plötzlich ging es recht schnell. In dem Moment, als M die Verabredung mit mir absagte, fehlte plötzlich ein wichtiger Grund, um einen weiteren Tag in meiner Heimatstadt Halle zu verweilen. Mein vor 20 Minuten gebuchtes Zugticket war innerhalb weniger Sekunden storniert, und nur wenig länger brauchte ich, um ein neues Ticket zu erwerben, eines, das mir anderthalb Stunden Zeit ließ, um meine Habseligkeiten und Ostergeschenke in meinen treuen Reiserucksack zu stopfen und zum Bahnhof zu gelangen. Anderthalb Stunden, die fast schon zuviel Zeit waren für jemanden wie mich, dem es gefiel, jederzeit aufbruchsbereit sein zu können.
Die Zeit reichte noch, um mich beim Bahnhofsbäcker um Latte Macchiato und Berliner zu bereichern und mich darüber zu ärgern, dass ich tatsächlich „Berliner“ statt dem hier üblichen „Pfannkuchen“ gesagt hatte. Die Zeit reichte außerdem, um auf dem Bahnsteig zu frieren.
Die kurzfristige Platzreservierung war von Erfolg gekrönt gewesen. Neben einem großgewachsenen, freundlich aussehenden Mann wartete mein Sitz – derzeit noch von Taschen bedeckt. Ich entriss meinem Gepäck Ticket und Notebook und drängte mich an meinem zukünftigen Sitznachbar vorbei auf jene Position, die ich die kommenden anderthalb Stunden einnehmen würde.
Der einzige Kleiderhaken, der dem Doppelsitz zur Verfügung stand, war vom Innenarchitekten freundlicherweise genau so geplant worden, dass ich die Wahl hatte, entweder meine Jacke aufzuhängen oder mein Notebook zu benutzen. Ich entschied mich für letzteres und erhielt von meinem Sitznachbarn die Information, dass diese Art der Haken eine Neuerung dieses ICE-Typs war. Er kannte sich aus, war früher wöchentlich von Amsterdam nach Halle gefahren.
Und nicht nur das. Er war in Berlin aufgewachsen, zwischenzeitlich nach Amsterdam ausgewandert, wo ihm wohl Frau und Haus vergönnt gewesen waren, die beide jedoch der Vergangenheit angehörten. Er hatte in der libyschen Wüste nach Erdöl gesucht, war in Afrika unterwegs gewesen und bis an die Antarktik vorgedrungen.
Und noch mehr gab es zu hören. Selbst seine Wohnung war berühmt, war doch einst aus ihr ein Mädchen gefallen, das ein russischer Soldat heldenhaft und denkmalswert aufgefangen hatte.
Und noch mehr erzählte er, doch nicht in einem Schwall, der geschichtenartig aus ihm herauspreschte, sondern eher nebenbei, in einem seichten Gespräch, das fröhlich dahinplätscherte und immer wieder ein Lächeln erzeugte, während ich mich nebenbei mit halbem Auge dem Layout des Fredbuchs widmete und auch dem Notebookfilm des vor mir Sitzenden Aufmerksamkeit zu schenken gezwungen war.
„Transformers 3.“, erklärte mein Sitznachbar und begründete seine Meinung rasch mit der ersetzten Megan Fox. Ach ja, da war ja was, dachte ich.
Wir redeten über Fußball, ohne über Fußball zu reden, beschwerten uns einhellig über den fahrplanmäßigen, aber für uns überflüssigen Halt in Köthen, erklärten das Ossi-Wessi-Denken für unsinnig, ließen Hochwasser und Zugunglücke entlang der Bahnstrecke Revue passieren. Ich warb für meinen Webcomic, ohne große Resonanz zu ernten. Doch irgendwie war das egal.
Dann stieg er aus, mit vier Taschen beladen, verabschiedete sich lächelnd und überließ mich meinem Gestaltungswerk.
Ich jedoch saß auf meinem reservierten Platz, sah ihm nach und wunderte mich darüber, wie viele Geschichten in einem einzelnen Menschen doch stecken konnten.
Da muss ich an Rushdie denken: „To understand just one life you have to swallow the world.“
„warum?“ frage ich mich bei solchen situationen immer.
„warum jetzt? warum gerade ich? haben solche leute sonst keinen zum reden? was interessietrt mich seine lebensgeschichte?
und vor allem: was geht sie mich an?“
in diesen momenten bin ich immer froh, mit einem blick gesegnet zu sein,
der andere dazu bringt, schweigend in eine andere richtung zu schauen.