Der Regenwurm

Der Weg zur Arbeit kam mir eines Tages besonders lang vor. Meine Blicke schweiften durch die Gegend und blieben plötzlich an einem Regenwurm hängen, der sich just in diesem Augenblick vor meinen Schuhen befand und nichtsahnend vor sich hin kroch.
„Hallo Regenwurm.“, grüßte ich fröhlich, denn ich war glücklich, neben all den gestressten, zur Arbeit eilenden Menschen ein sympathisch wirkendes Kriechwesen entdeckt zu haben.
„Hallo.“, rief der Regenwurm zu mir nach oben und winkte mit sämtlichen Armen.
„Äh…“, sagte ich unsicher. „Du hast gar keine Arme zum Winken.“
Der Regenwurm hielt kurz inne, dann winkte er weiter.
„Macht nichts.“, lachte er. „Ich winke trotzdem.“
„Gut so.“, sagte ich und freute mich darüber, wie der Regenwurm winkte und lachte, lachte und winkte.
Plötzlich hörte er auf. Besorgt sah er nach oben. Über uns türmten sich graue Wolken am Himmel, und es sah aus, als würde es bald regnen.
„Ich muss aufpassen.“, flüsterte mir der Regenwurm so leise zu, dass ich ihn kaum verstand.
„Wieso?“, flüsterte ich ebenso leise zurück.
„Wenn ich zu viel mit den Armen winke, dann winken die Wolken zurück.“, erklärte der Regenwurm, und seine Stimme hatte einen verschwörerischen Tonfall angenommen. „Und wenn Wolken winken, dann regnet es sofort.“
Abschätzend schaute ich nach oben. Die Wolkenberge waren gewachsen, so viel stand fest.
„Frag mich nicht, warum das so ist, aber ich find’s toll.“, sagte der Regenwurm und begann erneut zu lachen.
„Habe ich das richtig verstanden? Wenn du winkst, regnet es?“, fragte ich verwundert. „Und das, obwohl du keine Arme hast?“
Der Regenwurm nickte und winkte und lachte. ich hatte noch nie einen derart fröhlichen Regenwurm gesehen.
„Übrigens klappt das auch, wenn ich lache.“, sagte er und lachte noch ein wenig mehr.
Er sah noch einmal nach oben, wo die grauen Wolken mittlerweile eine schwarze Färbung angenommen hatten und ein großes Unwetter versprachen.
„Ich muss jetzt gehen.“, sagte der Regenwurm.
„Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“, verabschiedete ich ihn, doch er war bereits mehrere Meter weit davongeeilt.
„Bis zum nächsten Mal!“, rief ich ihm hinterher, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören würde. Aber er drehte sich um, grinste mich an und winkte so intensiv, wie nur ein armloser Regenwurm winken kann.
„Bis zum nächsten Mal.“, rief er zurück und begann erneut zu lachen.
Plötzlich stürzte Regen auf mich hernieder, und in wenigen Augenblicklen war ich durchnässt. Doch ich blieb stehen und sah dem lachenen Regenwurm nach, bis er hinter einer Ecke verschwand.

Ende

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