Stifte

„Ich heiße Mark, und ich knabbere gerne an Stiften.“
Nur zögerlich hatten die Worte seinen Mund verlassen, doch die Gruppe, der ‚Kreis‘, wie ihn Frau Käsekuchen nannte, begrüßte ihn lautstark und im Chor.
„Hallo Mark.“, tönte es aus sechzehn Mündern, und es war die Stimme von Frau Käsekuchen, die besonders gut zu hören war. Frau Käsekuchen war der Inbegriff der Sanftheit, und ihrer Stimme wohnte stets eine solche Zärtlichkeit bei , dass man sich wünschte, Kuscheldecken würden aus ihr hergestellt werden. Es war letztlich ihre Stimme gewesen, die eindringliche Sanftheit ihrer Worte, die ihn dazu bewegt hatte, sich am Kreis zu beteiligen. Sich ihm zu öffnen.
Was er jedoch verschwieg, war, dass er gar nicht Mark hieß. Er hieß Marko, und er liebte es, Dinge zu verschweigen. Er hasste es zu lügen, doch nur zu gerne ließ er die Hälfte der Wahrheit ungesagt. Aber auch das würde er niemandem erzählen.
„Hallo Mark.“, grüßten alle, und Marko nickte schüchtern.
„Hallo.“, sagte er. Ganz leise.
Frau Käsekuchen lächelte. Ihr Lächeln war wie ihre Stimme, warm und weich, und wenn es Kuscheldecken aus ihrem Lächeln gegeben hätte, dann hätte sich jeder liebend gerne in eine solche gehüllt.
„Viele Leute knabbern an Stiften…“, sagte Frau Käsekuchen langsam und begann somit das Gespräch. Die ‚Runde‘, wie sie es nannte, vermutlich weil es so gut zu ‚Kreis‘ passte.
„Oder an Fingernägeln.“, warf jemand ein, und Marko verzog angewidert das Gesicht. Fingernagelknabberei war ekelhaft. Unästhetisch, unhygienisch, unnütz.
Dann lieber Stifte.
„Es begann ganz harmlos.“, sagte er leise und fühlte sich, als wäre er in einem Klischee gefangen. Marko zählte dreizehn ihm aufmerksam zugewandte Köpfe. Dreizehn, inklusive Frau Käsekuchen.
„Ich liebte es schon immer, an Dingen zu knabbern. Meine Mutter weigerte sich frühzeitig, mich zu stillen, weil sie die Schmerzen meiner ersten Zähnchen nicht ertrug. Als ich täglich einen Nuckel zerkaute, kaufte man mir irgendwann keinen neuen mehr.
Dann entdeckte ich Stifte.“
Marko grinste traurig. Frau Käsekuchen nickte, als würde sie sich ganz genau erinnern.
„Ich liebte es zu zeichnen, doch noch mehr liebte ich es, an den Stiftenden zu kauen, sie mit Bisspuren zu übersäen. Mein Mund war ein Mahlwerk, und kein Stift verweilte lange in meiner Nähe.“
Dass Mutter ihm die Stifte immer wieder wegnahm, verschwieg Marko. Dass sein Vater eines Tages ausrastete, als er Bissspuren auf seinem heißgeliebten Platinfüller entdeckte, verschwieg er ebenfalls.
„Mit vier Jahren hatte ich zu schreiben gelernt. Meine Eltern hielten mich für ein Genie, doch alles, was ich wollte, war in steter Nähe zu Stiften sein zu dürfen. An ihnen zu saugen, meine Zähne in den Kunststoff rammen. Spuren zu hinterlassen.“
Frau Käsekuchen schüttelte traurig mit dem Kopf. Seufzte. Und kannte noch längst nicht die ganze Geschichte.
Marko fuhr fort, und vierzehn Ohrenpaare lauschten ihm gespannt. Vierzehn. Immerhin.
„Es war an einem siebten April, als ich meinen ersten Bleistift zerbiss. Ostern nahte, und ich hatte meinen Eltern ein Bild vom Osterhasen malen wollen.“
Dass er gar kein Bild hatte malen wollen, verschwieg Marko. Auch dass er nur malte, um Stifte benutzen zu dürfen, erzählte er nicht. Auch, dass mehr oder weniger seine gesamte Karriere auf dem Wunsch nach der Nähe zu Stiften beruhte, behielt er für sich.
„Es kam, wie es kommen musste: Das Ende des Bleistifts fand meine Lippen, fand meinen Mund, fand meine Zähne. Ich kaute, erst wenig, dann mehr, dann voller Inbrunst. Dann knackte es.“
Marko hielt inne. Der gesamte Kreis sah ihn aufmerksam an. Selbst Frau Käsekuchens Lächeln war verschwunden.
„Das Knacken war das schönste Geräusch, das ich jemals vernommen hatte. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken, und verzückt hielt ich inne. Saß da und genoss den Moment.“ Marko hatte die Augen geschlossen und lächelte sehnsüchtig. „Speichel lief über den Bleistift in meinem Mund, füllte den entstandenen Bruch und spülte den Geschmack von Holz und Graphit hinaus. Nach dem ersten, akustischen Höhepunkt folgte nun ein zweiter, geschmacklicher, wesentlich subtiler, doch umso verzückender. Als der Geschmack des Stiftes meine Zunge, meine Sinne, fand, war ich verloren.“
Marko öffnete die Augen. Blickte traurig in die Runde.
„Für immer verloren.“
Der Kreis schwieg. Verwirrt. Entsetzt. Fasziniert.
„Bis heute verbrauche ich täglich fünf bis neun Bleistifte. An schlechten Tagen bis zu zwanzig. Ich knacke sie, sauge kurz, dann genieße ich. Knacke wieder, lasse das Aroma auf mich wirken. Bis der ganze Stift verschwunden ist.“
Frau Käsekuchen sah blass aus. Sie stammelte ein paar Laute, doch niemand hörte ihr zu.
„Nehmt nicht irgendwelche Stifte. Nehmt Bleistifte, weiche am besten. B oder 2B. Staedtler ist gut, Faber-Castell ist besser. Vor allem die mit den Noppen.“
Er kramte in seiner Tasche. Holte eine Schachtel heraus. Als er begann, Bleistifte im Kreis zu verteilen, fand Frau Käsekuchen ihre Sprache wieder.
„Aber Mark!“, stotterte sie. „Das geht doch nicht!“
Doch Marko beachtete sie nicht. Schaute auf die Schachtel Bleistifte, die sich allmählich leerte.
Denn auch das hatte er verschwiegen: Seine Sucht war ansteckend. Schon hörte das erste, geliebte Knacken von Holz, ein genussvolles Seufzen, weiteres Knacken.
„Der ist für Sie, Frau Käsekuchen.“, sagte Marko und reichte ihr den letzten Stift. Den er extra für sie reserviert hatte. Der besonders verlockend aussah. Besonders knackig.
Frau Käsekuchen blickte auf Marko, blickte auf den Stift, zögerte, nickte dann und lächelte sanft.
„Leben Sie wohl.“, grinste Marko und entblößte die zahlreichen Holzsplitter zwischen seinen Zähnen.

Schachtelsatz

Am 25.02. wird laut Fredkalender stets der fetzige Tag der Schachtelsätze begangen.

Einst, und meine Erinnerung, die üblicherweise nicht nur recht selektiv, sondern auch zuweilen lückenhaft und sprunghaft ist, weigert sich, ein genaues Datum oder auch nur Jahr zu spezifieren, trug es sich in einem kleinen Dörfchen, dessen Bewohner, allesamt gutmütiger und froher Gesinnung, dazu neigten, Sauberkeit und Ordnung wertzuschätzen, und sich, unter anderem in jährlich abgehaltenen Wettkämpfen, deren Sieger mit einem kleineren Geldbetrag und einer prachtvollen Gans belohnt wurde, auch gerne gegenseitig darin maßen, wer von ihnen größere Reinlichkeit und Akkuratesse an den Tag legte, zu, dass sich in einer dunklen, jedoch perfekt sauberen und staubfreien Ecke eines Dachbodens, auf dessen blitzblanken Holzdielen man hätte zu Mittag und sogar zu Abend speisen können, eine Schachtel ein wenig bedrängt fühlte von all den ordentlich gestapelten Kisten, Werkzeugen, Möbeln und Gegenständen, die sie zu allen Seiten hin umgaben, ja einschlossen, und es kaum noch schaffte, genügend Luft von und Blick nach draußen zu erhaschen, um sich einigermaßen wohl zu fühlen, was sie, nachdem sie mehrere Wochen lang intensivst gegrübelt und sinniert hatte, zu der Entscheidung brachte, dass es so nicht weitergehen konnte, dass sie, die durchaus hübsch anzusehen war und deren Inhalt, obgleich man ihn auf dem Dachboden verstaut hatte, noch immer nutzvoll und funktionsfähig zu sein schien, sich nicht länger von all dem ordentlich gelagerten Krimskrams um sie herum bedrängen und verstecken, ersticken und belagern lassen wollte, sondern einen Weg finden musste, in die Freiheit, nach der sie sich so lang schon sehnte, zu entfliehen, auch wenn das für eine Schachtel, die natürlich für Immbolilität geschaffen worden war, ziemlich unmöglich zu sein schien, was sie, unsere kleine, liebe Schachtel, jedoch nicht davon abhielt, zu wackeln und zu wippen, zu zittern und zu ruckeln, als gelte es ein Erdbeben, und zwar eines von gewaltiger Intensität, zu imitieren und schließlich, als sie genug Kraft, genug Energie, angesammelt hatte, in einem gewaltigen, ja formidablen, Satz über ihre bedrängenden, erstickenden Nachbarn hinwegzuspringen, kurz zu poltern und schließlich auf den blitzblanken Holzdielen zu landen, die sie mit funkelndem Glanz und angenehmer Leere willkommen hießen, während hinter der mit solch gewaltigem, ja formidablem Satz in die Freiheit gesprungenen Schachtel die Masse der restlichen Gegenstände, die sie soeben noch bedrängt und erstickt hatten, zu jubeln und zu applaudieren begannen, was das denn für ein gewaltiger, ja formidabler, Schachtelsatz, denn genau darum hatte es sich letzlich gehandelt, gewesen war, wodurch jedoch die Dachbodenbesitzerin Frau Finkelfieps, der selbstverständlich, und das sollte nicht vernachlässigt werden, auch der Rest des Hauses gehörte, verwundert geweckt und letztlich dazu gebracht wurde, mitten in tiefster Nacht, während draußen Sterne am Himmel standen, die den Mond liebevoll bewunderten, und drinnen die Dachbodengegenstände noch immer vor Begeisterung über den Schachtelsatz, den sie soeben erblicken durften, tuschelten und raschelten, die Kisten und Werkzeuge und Möbel aufzuräumen, in ihre alte, akkurate Ordnung zurückzubringen, und alles, was sich während des Schachtelsatzes verschoben hatte, wieder in fast schon penibler Präzision an seine althergebrachte Position zurückzustellen, bis ihr Blick auf die vergnügt am Boden sitzende Schachtel, die gerade einen gewaltigen, ja formidablen, Satz hinter sich gebracht hatte und sich nun in ihrer neugewonnenen Freiheit, wie man an ihrem vergnügten Glimmern sehen konnte, äußerst wohl fühlte, fiel, sie die Schachtel öffnete und in ihr, unter einem recht locker sitzenden Deckel, lauter Spielzeuge aus fernster Kindheit wiederfand, die sie fast vergessen hatte und die nicht nur alte Erinnerungen zurückholten, sondern auch Frau Finkelfieps verschlafenem, und wegen des nächtlichen Aufräumens ein wenig missmutigem Gesicht eine Träne, die so warm und weich und sehnsüchtig war, wie es nur Tränen sein können, entlockte, so dass sie nicht anders konnte, als sich direkt neben die Schachtel, die so viel Schönes, Warmes, Vergessenes in sich barg, auf die Holzdielen zu setzen und bis zum Morgengrauen jedes einzelne Spielzeug anzufassen, zu betrachten, zu bewundern und, während Tränen in großer Zahl ihre rosigen Wangen übergossen, in längst verschüttet geglaubten Erinnerungen zu schwelgen, bis sie sich schließlich irgendwann, es waren bereits diverse Stunden vergangen, langsam und seufzend erhob und beschloss, der Schachtel, der längst vergessenen Schachtel, die vorhin noch einen gewaltigen, ja formidablen, Satz hingelegt hatte und die einen so wundervollen Schatz barg, einen besonderen Platz zu schenken, einen Schachtelschatzplatz, hier, direkt am Eingang des Dachbodens, wo die kleine Schachtel atmen und alles sehen konnte – und wo sie von allen gesehen wurde, die den Wunsch verspürten, in fernen Erinnerungen zu schwelgen.

Doof

„Doof!“ Der Rascheligel war sichtlich erzürnt. „Doof! Doof! Doof!“ Sein ohnehin quietschig grelles Stimmchen überschlug sich mehrfach und purzelte beinahe davon. Sämtliche Stacheln des Rascheligels hatten sich aufgerichtet und mehr denn je sah er aus wie ein niedlicher Kaktus. Wie ein zorniger, niedlicher Kaktus, um genau zu sein.
„Doof,“ wiederholte er ein weiteres Mal und pausierte dann trotzig. Irgendwo unter seinem Stachelkleid hatte er vermutlich seine Ärmchen verschränkt, aber so genau konnte man das nie wissen.

„Was genau ist denn so doof?“, fragte das Regenbogenkänguru mit einer Stimme, deren wohliges Dröhnen selbst einen Kolibri beruhigt hätte.
„Nicht was, sondern wer!“, quietschte der Rascheligel, dem heute offensichtlich keineswegs danach war, fröhlich durch Herbstlaub zu rascheln. Er hatte sich in eine Raserei hineingesteigert, aus dem es kein Entkommen zu geben schien. Einzig die butterweiche Stimme des Regenbogenkängurus hielt ihn davon ab, komplett durchzudrehen.

„Wer genau ist denn so doof?“, fragte das Regenbogenkänguru geduldig, und man musste es dafür bewundern, dass es nicht genervt mit den Augen rollte. Noch nicht einmal ein bisschen.
„Naja, diese Leute!“, ereiferte sich der Rascheligel, „Diese doofen Leute, die sich über andere aufregen!“
Das Regenbogenkänguru nickte wissend.
„Und die doofen Leute, die schlecht über andere reden!“, ergänzte der Rascheligel rasch. „Obwohl die anderen gar nicht anwesend sind und sich verteidigen können!“
„Hm.“, brummte das Regenbogenkänguru.
„Das sind die schlimmsten!“, rief der Rascheligel noch, dann verstummte er. Offensichtlich hatte er seinen gesamten Vorrat an Zorn aufgebraucht.

Eine Zeitlang geschah nichts. Ein dicker Käfer krabbelte verträumt durchs Geäst, und an den Baumwurzeln wogten saftige Grasbüschel zufrieden im sanften Frühlingswind. Zeit flog davon, als würde sie gerade nicht gebraucht.

Dann begann das Regenbogen zu sprechen. Zu dröhnen, um genau zu sein:
„Ich rede niemals über andere. Niemals. Weder gut noch schlecht.“
Neugierig hob der Rascheligel das Näschen, und seine Stacheln sanken langsam nieder.
„Immer wenn ich über jemanden rede, erscheint er plötzlich neben mir.“
Das Regenbogenkänguru redete langsam und ruhig. Seine Stirn lag in Falten und sein Blick war ernst. Nur in seinen Mundwinkeln saß noch immer das warme Lächeln, das die Waldbewohner so sehr mochten.
„Wenn ich über eine Maus redete, krabbelte sie mir zum Beispiel plötzlich über die Füße.“
Es ploppte leise, und eine sichtlich verwirrte Muffelmaus krabbelte über die riesigen Füße des Regenbogenkängurus.
„Wenn ich über Schokokuchen redete, tauchte er plötzlich irgendwo auf, als wäre er dort längst gewesen.“
Erneut ploppte es, und der Rascheligel sah verwirrt von dem Stück Schokokuchen auf, an dem er anscheinend die ganze Zeit geknabbert hatte.

„Und wenn du über alles redest?“, fragte der Rascheligel schließlich, nachdem er damit fertig war zu kauen und hinunterzuschlucken. Und dann nochmal abzubeißen, erneut zu kauen und erneut zu schlucken.
„Was passiert, wenn du über alles redest?“, fragte der Rascheligel noch einmal.
„Dann erscheint alles.“, sagte das Regenbogenkänguru.

Es ploppte kurz, und plötzlich war der Wald ziemlich voll.

Zorn

Schreie branden gegen meine zusammengepressten Lippen, zerbersten tonlos an den Mauern meines Mundes. Ich schlucke sie, presse sie nieder, zerknirsche sie mit stampfenden Zähnen. Drohend ragen mir Wangenknochen aus dem Anlitz, meine Sirn faltet sich in finstere Furchen. Rastlos tasten meine Hände über Tische, Stühle, zitterten begehrlich, erfüllt vom Wunsch nach Zerstörung. Meine Finger formen Fäuste, suchen Ziele, Mauern, Namen.

Mein Mund öffnet sich. Tiefer und tiefer ziehe ich Luft in meine Lungen, schwelle an, lasse sie gehen. Einmal, dreimal. Die wallenden Wogen sinken langsam nieder, meine Finger glätten sich zu sanfter Fläche. Ich halte inne, versuche, unter allen Stürmen mich zu finden, atme.

Eine Frage erreicht mich.

Schüchtern erklimmt ein Lächeln meine Mundwinkel, die Knochen ziehen sich in meinen Schädel zurück. Meine Worte sind ruhig, besonnen, doch nicht frei von Zittern, entschweben den Wirren, die noch immer in mir brodeln.
Langsam kehre ich zurück.
Zu mir.
Zur Welt.

Robbie Williams und ich

Robbie Williams und ich saßen auf einem Stein, der aus den fonflatter-Comics hatte stammen können. Robbie wirkte abwesend, und es scheute mich, ihn auch nur in Gedanken als „Robbie“ zu bezeichnen. Wir kannten uns ja gar nicht, und auch der Umstand, dass ich ihn interviewen wollte, brachte uns nur unwesentlich näher.

Als er zu sprechen begann, verflüchtigten sich meine Bedenken. Er war freundlich und offen, antwortete, ohne dass ich meine Stimme zu einem Fragezeichen erheben brauchte, und auch wenn seine Gedanken niemals völlig bei uns zu sein schienen, plauderten wir eher, als dass wir ein Interview führten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, viele Fragen gestellt zu haben, weiß nur, dass kein Zettel auf meinem Schoß lag, keine vorbereiten Stichworte irgendwo in meinem Kopf gespeichert waren, um im richtigen Augenblick auf meine Zunge zu springen. Ich hatte keine Ahnung von dem, was ich tat, war reichlich ungeeignet für meine Aufgabe. Fragen stellte ich generell ungern, mein Interesse für Robbie Williams war gering, und ohnehin erzählte ich viel lieber von mir selber, als dass ich andere aushorchte.

Also erzählte ich. Ich erzählte von meinem geringen Interesse an Popmusik im Allgemeinen, davon, dass ich Take That zwar ganz akzeptabel gefunden hatte, dass sie mich aber nie begeistert und ergriffen hatte und dass auch Robbies Ausstieg für mich frei von Dramatik war. Ich gestand auch freimütig, keine große Ahnung von ihm zu haben, nur eben die Songs kannte, die jeder kennt, und dass ich ihn und sie irgendwie auch mochte und respektierte, aber nicht als bedeutsamer Teil meines Lebens erachtete.

Doch weder er noch ich hielten das für wichtig. Wir redeten über andere Dinge. Ich bewunderte seinen sauber ausrasierten Bart, und er empfahl mir mit überzeugender Begeisterung seinen Rasierer, den Osram X72.

Wir befanden uns auf einem riesigen Platz, und an uns gingen Leute vorbei, die Robbie nicht zu erkennen schienen. Sie waren verschwommen, als fehlte ihnen an Tiefenschärfe, als hätte eine Kamera mit kleiner Blendenöffnung ausschließlich uns fokussiert.

Das Gespräch plätscherte dahin. Ich notierte nichts, lauschte Robbies Erzählungen, glaubte wachsende Verbundenheit zu erkennen und gab selbst ein paar unterhaltsame Belanglosigkeiten zum Besten.

Irgendwann verabschiedeten wir uns, wissend, dass dieses Gespräch nichts bedeutete, und ich wachte auf.

Stromausfall

‚Stromausfall!‘ Schlagartig war ich hellwach, sprang aus dem Bett und eilte zum Sicherungskasten.

Zumindest theoretisch. Die Wirklichkeit jedoch sah anders aus.
6.54 Uhr schaute ich auf das Telefon, das gleichzeitig mein Wecker war. Beziehungsweise hätte sein sollen, wenn ich nicht regelmäßig im Halbschlaf jedes Läuten und Klingeln deaktivieren und mich weiterem Schlummer übergeben würde. Eine Stunde hatte das selbst erwirkte Verschlafen diesmal gedauert, bevor ich die Augen öffnete, das Telefon betrachtete und die Informationen über die augenblickliche Uhrzeit langsam in mein Bewusstsein rieseln ließ. Der Stromausfall lauerte noch irgendwo in den Schatten und wartete hämisch darauf, dass ich ihn bemerkte.

Die Leuchtuhr auf dem Nachttisch schwieg. Keine Ziffer leuchtete verschwommen in meine unbebrillten Augen, nur dämmriges Dunkel hauste in diesem Raum.
‚Stromausfall!‘, dachte ich panisch und rannte zum Sicherungskasten. Zumindest theoretisch.

Die Wirklichkeit jedoch sah anders aus: Noch immer halb in Traumwelten wandelnd vermochte ich zwar, das Fehlen leuchtender Ziffern zu realsieren, doch Hektik in jeder Form lag mir fern. Statt dessen stöpselte ich träge den Stecker der Uhr aus und wieder ein, ohne jedoch eine Zustandsveränderung zu bemerken. Der Uhr fehlte es an willigen Leuchtsegmenten.

Mit mir erwachte allmählich der Forscherdrang. Drei Lichtschalter später, deren Betätigung nur plastenes Klacken, jedoch keinerlei Licht erwirkte, stand ich vor dem Sicherungskasten. Meine Panik schlummerte noch immer tief und fest.

Der fensterlose Korridor wob Dunkel um mich herum, und meine noch immer halbblinden Augen erahnten die Sicherungsschalter eher, als dass sie sie erkannten. Ich legte alle um. Hin und zurück. Schaltete das Licht an. Und stand noch immer im Dunkeln.

Auf dem Nachttisch lag meine Brille bereit, und als sie endlich den Weg in mein Gesicht gefunden hatte, warf ich einen Blick gen Außen. Der Tag näherte sich nur langsam, doch keine Nachbarwohnung schien Licht zu kennen. ‚Stromausfall!‘, nickte ich nun langsam in mich hinein und begab mich ins Bad.

‚Die Kontaktlinsen könnten ein Problem werden.‘, überlegte ich, und würde mir Mühe geben müssen, sie im allgemeinen Dunkel nicht versehentlich dem Boden zuzuführen.
‚Der Fön könnte ein Problem werden.‘, dachte ich, doch verwies mich selbst auf Handtuch und Mütze.
Der Stromausfall versagte darin, mich zu beeindrucken.

Das Wasser war heiß und angenehm. Mich in absoluter Finsternis zu duschen, kümmerte mich nicht. Ob ich nun wegen fehlenden Lichts oder fehlender Sehstärke nichts sah, spielte keine Rolle.
Und auch die Kleidungsstücke, die mir mein gestriges Ich bereitgelegt hatte, hüllten sich problemlos um meinen Leib.

‚Stromausfall.‘, dachte ich, schmunzelte abschätzig und zuckte mit den Schultern.

Im Wohnzimmer leuchtete etwas.
„Strom!“, rief ich überrascht aus. Doch es war nur mein Notebook, das zumindest vorübergehend stromfrei zu arbeiten vermochte. Also kein Strom.

‚Der Tiefkühlschrank könnte ein Problem werden.‘, dachte ich noch, dann erstrahlte das Licht im Korridor.

„Strom!“, rief ich noch einmal, diesmal begeistert. ‚Welchen Schalter sollte ich zuerst probieren?‘, fragte ich mich, aber keiner von ihnen schien große Bedeutung zu besitzen.
‚“Bis auf einen.‘, lächelte ich und kochte mir Tee.

Später, als ich versuchte, mir die Kontaktlinsen in die Augen zu legen, ging mir tatsächlich eine verloren. Für einen Augenblick bedauerte das Fehlen des Stromausfalls.
Er wäre immerhin ein guter Grund gewesen.

Fehmarn

„Hier riecht es nach Algen.“ Der stete Wind trägt die Worte einer älteren Frau zu mir, lenkt meine Blicke nach oben. Dort steht sie, zeigt auf die See hinaus, wo Wellen sich aneinanderschmiegen und die wenigen Sonnenstrahlen zu erhaschen versuchen, die sich zwischen den Wolken durchzwängten. Am Himmel türmen sich graue Berge, doch keiner von ihnen wagt es, Regen zu tragen. Nur Form und Spiel über dem endlosen Tanz der Wellen.

Ich sitze im Sand, hier, wo er allmählich zu Kies, zu Steinen, wird, inmitten der Mulde, die mein Anwesenheit erschuf, einem Abdruck meines Gesäßes, hier am Strand, wo sich irgendwo Bernsteine und vielleicht sogar Perlenmuscheln verbergen, hier, wo innezuhalten ich mir vor einer unschätzbaren Anzahl an Minuten einer Laune folgend gestattet hatte.

Als wolle es mein Wohlbefinden verraten, knistert geleerte Keksfolie in meiner Hosentasche, als ich mich ein wenig aufrichte. Ich schmunzle beim Gedanken, der Welt ein Negativ meines Gesäßes zu hinterlassen, schmunzle über die ungünstige Wahl meines Ruheplatzes unter rauschenden Bäumen, die jeden Sonnenkitzelversuch scheitern lassen, schmunzle beim Gedanken an das Wasser, dessen Kälte bisher nur meine Füße fand – und meine Feigheit, mich tiefer in die am Kiessand leckende Ostsee wagen zu wollen.

Neben mir liegt ein Buch, gerade zwei Tage alt und schon verbraucht, von meinen Augen vollkommen durchforstet, und belädt sich mit neugierigen Sandkörnern, die ich noch Wochen später in meinem Regal entdecken werde. Die mich erinnern lassen werden.

Mein Rücken lehnt an Stein und dankt dem Meer, das ihn jahrhundertelang geduldig von störenden Kanten befreite. Auch mein Fahrrad, zwei Euro pro Tag, beige und jenseits von Schönheit, lehnt an diesem Stein, wartet geduldig auf seinen weiteren Einsatz, auf die restlichen zehn oder fünfzehn Kilometer, die der Tag noch mit sich bringen wird. „Mops“ habe ich es genannt, weil es schwer und klobig ist und mich dennoch klaglos über schmale Feldpfade und windbetoste Landwege trug.

Doch im Augenblick brauche ich es nicht. Im Augenblick sitze ich hier und lausche dem Nachhall, den das Buch in mir hinterließ, lausche dem Rauschen der Wellen, lausche dem Wehen des Windes, lausche dem Knistern in meiner Hosentasche, lausche der Lautlosigkeit meines genießenden Schmunzelns.
Lausche der älteren Frau oben auf dem steinernen Plateau, oben im aufblitzenden Sonnenschein, oben, wo sie ohne konkretes Ziel auf die See hinausdeutet. Das grellrote Leuchten ihrer Allwetterjacke paart sich, lässt nun auch die ihres Mannes erscheinen, der die Worte stumm beantwortet.

„Natürlich riecht es nach Algen.“, sagt er nicht und weist nicht auf den Strand, an dem die Algen sich zu langgestreckten, grünbraunen Bändern sammelten. „Vielleicht ist es aber auch Tang.“, sagt er nicht und kichert auch nicht insgeheim beim Gedanken an Tang-Enten.

Ich kichere an seiner statt.

„Im Westen der Insel gab es das nicht.“, sagt die weibliche Allwetterjacke noch, dann schließe ich meine Augen und lasse den steten Wind meine Gedanken davonwehen.

Die Maus

Die Musik bewegte sich an den Grenzen dessen, was Normalsterbliche als Musik erachtet hätten, und krachte sich schwer und wuchtig durch das Wohnzimmer. Ich saß am Rechner, drückte Tasten und widmete mich zugleich entstehenden Buchstaben und raumbefüllendem Lärm.

Ein Missklang ertönte. In den Wulst aus Klangmonstren hatte sich Unbekanntes eingeschlichen, Fremdes, das mich aufhorchen ließ und die Musik einem raschen Schweigen entgegenwarf. Im Regal knabberte es.

„Eine Maus!“, wusste ich, denn die Vergangenheit war voll mit Augenblicken, in mich ihr rasches Huschen unweit meiner Terrasse erfreut hatte. Selbst das unübersehbare Mäuseloch, das den Boden unweit meiner Gemüsepflanzen zierte, hatte ich stets mit Wohlwollen bedacht. Eine Maus.

Das Knabbern verstummt nicht. Die Musik wartete darauf, wiederbelebt zu werden, doch meine Aufmerksamkeit galt dem vermeintlichen Nagetier, das sich irgendwo zu meiner Rechten niedergelassen hatte und Geräusche in seine Umgebung sandte.

Langsam näherte ich mich. Ordner, technisches Gerät und allerlei Unrat, der sich weigerte, als solcher klassifiziert zu werden, befüllten die einzelnen Regalböden und verhinderten jede Sicht auf das mögliche Pelztierchen.

Ich entfernte den ersten Ordner. Und kreischte.
Ich hatte eine Maus erwartet. Ich mochte Mäuse. Ich bin ein Mann.
Doch ich kreischte wie eine Dreizehnjährige. Nur lauter.

Die Maus lugte unter dem Regal hervor, rannte in Richtung Sofa, kehrte blitzschnell um und huschte erneut unter das Regal. Wo sie blieb. Und keinen Laut von sich gab.

Der Mann in mir fand seinen Weg zurück an die Oberfläche und brachte eine beruhigende Woge Vernunft mit: Die Maus befand sich unter dem Regal. Das Regal stand in der Zimmerecke unweit von Schreibtisch und Sofa. Wenn ich letzteren ihren Kontakt zur Wand stahl, gab es jenseits des Regals keinen naheliegenden Unterschlupf mehr, der attraktiv genug war, um dorthin zu flüchten. Dachte ich. Und schob Möbel durch die Gegend.

Meine bisherige Mäusefangerfahrung beschränkte sich auf fehlende Existenz, und so krallte ich mir zwei Schüsseln, die ich über das Tierchen stülpen wollte, sobald ich es erblickte. Dachte ich. Doch ich erblickte es nicht.

Ich räumte das Regal aus, Stück für Stück, bis ich dahinter sehen konnte, schob es gar von der Wand weg, doch fand keine Maus. Sie hatte hier verweilt, das war offensichtlich. Ein Schokoriegelpapier hatte umfangreiche Zahnbegegnungen erfahren und zierte nun den Teppichboden. Aber die Maus war verschwunden.

Die ermattete Batterie der Taschenlampe half der Suche keineswegs, und dennoch war ich mir alsbald sicher, dass sich die Maus weder im Regal noch darunter befinden konnte. Wo jedoch sie ihr Wesen oder gar Unwesen trieb, vermochte ich nicht zu ahnen.
Ich ließ die Wohnung, wie sie war, und kehrte zum Schreibtisch zurück. Tippte. Hörte Musik.
Sah die Maus.

Diesmal kreischte ich nicht. Die bereitgelegten Schüsseln waren fern, und als ich eine von ihnen in meiner Hand hatte, wusste ich nicht mehr, wo sich der Nager befand. Immerhin entdeckte ich eins: Kein Mäuseloch.
Das Gebäude war gerade einmal 15 Jahre alt, und die wenigen Wände, die ich beschauen konnte, wirkten lochfrei. Wahrscheinlich war mein felliger Mitbewohner neugierig über die Terrassenschwelle geklettert und hatte sich an meiner Anwesenheit erfreut. Und am Schokoladenriegelpapier.

Die untere Etage des Regals war nun leer, ihr Inhalt bevölkerte den Wohnzimmerboden. Die Maus blieb verschwunden.

Als ich die Maus das nächste Mal vernahm, hatte sie sich eine andere Zimmerecke ausgesucht und produzierte dort begeisterte Knabbergeräusche. Ihre Diät konnte ich nicht nachvollziehen, denn dort, neben dem wuchtigen Ikea-Bücherregal, standen nur ein paar Pappen.

Mittlerweile hatte ich die Taktik gewechselt. Die Einfangschüsseln waren Einfanghandtüchern gewichen. Damit wollte ich das Tierchen bewerfen und es mitsamt Handtuch ins Freie befördern. Ein guter Plan. Dachte ich.

Die Maus knabberte. Polystyrol, stellte ich fest. Warum ich auch immer dort eine Polystyrolplatte, „Quietschpappe“ hatten wir sie als Kinder genannt, lagerte. Ich räumte Bücher aus der unteren Etage des Regals und raubte heimtückisch mal wieder jegliche Rückzugsmöglichkeiten. Und nebenbei baute ich Mauern. Mauern aus Büchern. Lückenlos. Dachte ich.

Denn kaum hatte mich die Maus bemerkt, floh sie, schlüpfte durch eine winzige Lücke zwischen den Büchern, rannte am Regal entlang und verkroch sich an dessen anderem Ende.

Ich seufzte, schnappte mir mein Handtuch und begann erneut zu bauen. Höher, enger, präziser. Ein kleines Fort entstand auf dem grauen Teppichboden. Im Regal schloss ich Lücken mit schmalen Büchern. Auch hier war kein Durchkommen. Dachte ich.

Kaum hatte ich die Maus aufgescheut, war sie durch meine Mauern gedrungen und meinem improvisierten Käfig entkommen. Dann hielt sie inne, anscheinend ebenso verdutzt wie ich, aber bevor ich nur daran denken konnte, das Handtuch zum Einsatz bringen, war sie zu ihrem altbekannten Regal zurückgeeilt. Ich hatte keine Chance.

Tage vergingen. An einem sah ich sie, am nächsten nicht. Ich ertappte sie vor der Küchenzeile, deutlich sichtbar in braunem Pelz auf kalten weißen Fliesen. Ich war gerade von der Arbeit heimgekehrt, und sie saß dort, als wüsste sie nicht, dass hier noch jemand hauste. Fast schon gemächlich lief sie zu den Einbauschränken zwängte sich durch eine winzige Lücke und verschwand im Nirwana unter Kühlschrank und Spüle. Dass es mir nichts nützte, das Zierbrett zu entfernen und in die Dunkelheit zu starren, bedarf keiner Erwähnung.

Das Handtuch lag auf der Couch, wartete auf seinen Einsatz, doch ich hatte die Hoffnung aufgegeben, der Maus auf diese Weise beikommen zu können. Sie war nicht nur schnell, sondern passte in jede Lücke, kletterte schneller, als ich zu begreifen imstande war. Ich fühlte mich wie Tom auf seiner endlosen Jagd nach dem unfangbaren Jerry. Erbärmlich.

Am nächsten Morgen lief das Fass über. Ein Apfel war der Tropfen, einer von zweien, die ich in eine Plastiktüte gehüllt in meine Fahrradtasche gelegt hatte, um auf Arbeit Vitamine konsumieren zu können. Doch als ich aufstand und die mittlerweile stets verschlossene Wohnzimmertür öffnete, sah ich es bereits: Vor und in der Tasche klebten zahlreiche winzige Apfelraspelstücke, zu einem großflächigen Muster angeordnet, dessen künstlerischen Aspekt ich nicht abstreiten konnte. Angewidert entsorgte ich das Meisterwerk, entsorgte auch die eine angeknabberte Frucht und freute mich, dass wenigstens die zweite unversehrt geblieben war.

Am Nachmittag fuhr ich zum Baumarkt. Lebendfallen gab es nicht, dafür eine erstaunliche große Auswahl an Tötungsutensilien. Achselzuckend erwarb ich drei.

Falle Nummer 1 bestand aus einem länglichen Pappkarton, an dessen Enden ich Löcher freizustechen hatte. Entlang einer Wand positioniert sollte die Maus ins Innere gelangen, sich dort am Giftköder laben und irgendwo verenden. Keine gute Falle, wenn man es bedachte, denn wer wusste schon, welchen abgelegenen Unterschlupf sich das sterbende Tierchen für seine letzten Atemzüge auserwählte – und wie lange es brauchte, bis der Gestank das Finden des Kadavers erzwang?

Falle 2 und 3 kamen im Doppelpack, ähnelten der klassischen Drahtbügelfalle, doch bestanden aus Kunststoff und einer Feder, die tatsächlich gute Arbeit leistete. Nach zwei Probeversuchen hatte ich keine Lust mehr darauf, mir die Finger von der Falle zerquetschen zu lassen. Einen Köder brachten die Fallen ebenfalls mit. Man musste nur den Deckel entfernen, die Falle spannen, dorthin stellen, wo man die Maus vermutete, und schon würde sie ihren Dienst tun. Dachte ich.

Ich deponierte die Giftfalle hinter das Sofa, in die direkte Bahn zwischen Schreibtischregal und Küchenzeile, auf den kürzesten Weg zwischen zwei ihrer favorisierten Unterschlupfoptionen. Ich traute der Giftfalle nicht und war froh, nur eine einzige gekauft zu haben.

Federfalle 1 stellte ich unter die Küche, direkt neben den Einbaukühlschrank. Dort hatte ich die Maus hineinkriechen sehen, und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie der Falle begegnen und von Hunger oder Neugier getrieben am inkludierten Köder schnuppern würde. Dachte ich.

Die zweite Federfalle stellte ich an das Bücherregal, dorthin wo noch immer mein Bücherfort stand und meine Schmach besiegelte. Vielleicht würde die Maus hier erneut langlaufen. Dachte ich.

Keine der Fallen wirkte.
Meine Überraschung hielt sich in Grenzen. Tatsächlich war ich sogar ein bisschen stolz. Was für eine clevere Maus ich doch bei mir wohnen ließ!

Zwei Tage vergingen. Ich sah die Maus am anderen Ende des Schreibtischs, näherte mich ihr gar mit dem noch immer nicht aufgegebenen Handtuch, doch als sie davonrannte, mich streifte, lag erneut ein Schrei auf meiner Zunge.
Ich hielt ihn zurück.
Gerade noch.

Am Abend opferte ich ein Stück Schokolade. Die Federfallenköder waren offensichtlich nutzlos, doch an die Mechanik glaubte ich noch. Ich klebte kleine Mengen süßer Verlockung auf beide Federfallen und korrigierte sogar die Position der zweiten Falle. Nun stand sie am Schreibtischregal, dort, wo mir das flinke Wesen zum ersten Mal begegnet war.
Wahrscheinlich würde die Maus nur die Schokolade futtern. Dachte ich. Und ging zu Bett.

Der neue Tag erwachte und mit ihm auch meine Neugier. Die Giftfalle prüfte ich schon gar nicht mehr. Sie war nur Gift, keine Falle.

Federfalle 1 unter der Küche war unberührt. Der Köder sah aus wie am Abend, und ich zuckte mit den Schultern. Hätte ja sein können.

In der zweiten Falle lag die Maus. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was ich sah, doch als ich es erkannte, war es offensichtlich. Die Maus hatte am Köder genascht, die Falle hatte reagiert und ihr das Genick gebrochen. Der Kopf war verschlungen vom Kunststoffmonstrum, und der Rest des winzigen braunen Leibes hing steif und ohne Leben aus seinem Maul.

„Tut mir leid.“, flüsterte ich, ging nach draußen und warf die Falle mitsamt ihrem Opfer in die Mülltonne. „Tut mir leid.“

Kitzeln

Zwei klitzekleine Kapuzineräffchen saßen auf einem dicken Ast und kitzelten sich. Kein normales Kitzeln war das, sondern ein richtiges, großes Kitzeln, eines, das ganzen Körpereinsatz forderte, eines, das krabbelte und streichelte und zwickte und piekste – eben ein richtiges Kapuzineräffchenkitzeln.

Den ganzen Morgen lang kitzelten sich die beiden kleinen Kapuzineräffchen, bis sie irgendwann erschöpft innehielten.

„Weißt du.“, sagte das erste Kapuzineräffchen und war ein wenig außer Atem. „Das alles bringt gar nichts.“
Das zweite Kapuzineräffchen schaute verwundert.
„Ich bin überhaupt nicht kitzlig.“, erklärte das erste Kapuzineräffchen.

„Aber ich.“, rief da das zweite Kapuzineräffchen und stürzte sich erneut auf seinen Freund.
„Und zwar an den Fingerspitzen!“

Am Morgen

„Vielleicht ist es das.“, dachte ich. „Vielleicht ist es das.“

Mein Atem war schwer und stach, als gelte es mich tief und tiefer zu durchbohren. Schweißperlen warteten in den Poren darauf auszubrechen und mir zu entrinnen. In den Oberschenkeln schlummerte Erschöpfung und wuchs langsam zu warmer Blüte.

Doch mein Schritt war leicht, trug mich durch den morgendlichen Wald, in den erste Sonnenstrahlen glitten, um alles Schöne dieser Welt wachzukitzeln. Tropfen des nächtlichen Regens ließen sich tiefensüchtig auf mein Haupt fallen, kühlten meine erhitzte Stirn, während ich meinen Blick auf den steinigen Waldpfad klebte und mich meiner Atemlosigkeit entgegenkämpfte.

Ich lief, und dann stürmte ein Reh aus den Büschen, querte den Pfad und verschwand in weiterem Grün. Sekundenbruchteile später folgte ein zweites Reh, und ein Ruf des Erstaunens fand den Weg hinaus aus meinem Mund.

In den Ästen flatterte es wild, wenn ich mit welkenden Kräften vorübereilte, und das Geröll des Pfades war besät mit kleinen und großen Häuserschnecken, deren Fühler sich vor meinem geräuschvollen Nahen versteckten.

Der Wald war längst erwacht, nutzte mein Hiersein, um sich in atemberaubender Pracht darzubieten, seine Pfade vor meinen stampfenden Schuhen zu öffnen und mich zu umarmen mit sich selbst. Ich wollte lächeln, doch bedurfte nun jedes Atemzuges, jedes Quentchens Morgenluft, dessen ich habhaft werden konnte.

„Vielleicht ist es das.“, dachte ich und erinnerte mich, dass ich noch vor einer Stunde im Bett gelegen und den dezibelreichen Dialogen der schwerhörigen Nachbarin gelauscht hatte. Der Wecker verweilte längst noch in tiefstem Schlummerschlaf, und der Tag sollte erst in später Ferne beginnen. Doch ich war wach, vermochte nicht, das Träumen wiederzufinden, verlor mich im unidentifizierbaren Geräusch nachbarlichen Redens, als wäre mein noch träges Denken imstande, das Fehlende mit Sinn zu füllen.

Und dann war ich einfach aufgestanden, hatte mich mit Musik und Schuhen, mit Stoff und Zuversicht bekleidet und war in die Stille des Außens aufgebrochen, um meinen Atem zu verlieren und salzige Feuchte auf meine Stirn zu laden.

„Vielleicht ist es das.“, dachte ich. „Nicht zwischen Gram und Trägheit zu versinken, sondern Gelegenheiten zu erkennen, zu ergreifen und ihnen Schönheit zu entdecken. Den Schädelschalter umzulegen und die Perspektive zu ändern.“

„Vielleicht ist es das.“, dachte ich erneut, während mich meine zäher werdenden Schritte in Richtung heute trugen.