Drei Elefanten

Diese kleine Geschichte entstand als Gute-Nacht-Geschichte. Ich kann mir durchaus vorstellen, sie eines Tages um kinderbuchige Illustrationen zu bereichern.

Eines Tages beschlossen drei Elefanten, spazieren zu gehen: 

Ein großer Elefant, groß wie ein Baum.

Ein mittelgroßer Elefant, so mittelgroß wie ein Busch.

Und ein kleiner Elefant, kleiner noch als ein kleines Blatt. 

Die drei Elefanten gingen spazieren. Da begegneten sie einem Fuchs. Der kleine Elefant versteckte sich ängstlich hinter dem großen Elefanten.

“Aha.”, sagte der Fuchs. “Zwei Elefanten gehen spazieren.”

“Wir sind aber drei Elefanten!”, sagte der große Elefant verärgert. Sofort spazierten die drei Elefanten weiter.

Da begegneten sie einem Tiger. Der kleine Elefant versteckte sich ängstlich hinter dem mittelgroßen Elefanten.

“Aha.”, sagte der Tiger. “Zwei Elefanten gehen spazieren.”

“Wir sind aber drei Elefanten!”, verbesserte der mittelgroße Elefant verärgert. Sofort spazierten die drei Elefanten weiter.

Da begegneten sie einem Bären. 

Der kleine Elefant sprang nach vorn, und biss dem Bären in den Po. 

“Aha.”, sagte der Bär. “Drei Elefanten gehen spazieren.”

Und alle freuten sich. 

Der Bär freute sich, weil er so gut gezählt hatte.

Der große Elefant freute sich, weil der Bär so gut gezählt hatte.

Der mittelgroße Elefant freute sich, weil der Bär so gut gezählt hatte.

Und der kleine Elefant freute sich, weil er dem Bären in den Po gebissen hatte.

Frühaufsteher

Es war noch früh am Morgen, da befand ich mich bereits auf dem Weg zur Arbeit. 

Die Sonne reckte noch zögerlich ein paar ihrer Strahlen über den Horizont. Ich genoss sie, dennoch, lief zielgerichtet meinen üblichen Weg. Früher Vogel fängt den Wurm, dachte ich amüsiert. 

Wie jeden Morgen.

Ich mochte die Ruhe vor dem Tagesanbruch, das stille, gespannte Warten auf die Dinge, die da kommen würden – und mittendrin das dumpfe Stakkato meiner eiligen Schritte. 

Um diese Uhrzeit konnte alles passieren. 

An der Haltestelle begegnete ich dem Ei. 

Es lag ganz einfach da, auf der Sitzbank, und starrte mich an. Wie verletzlich es aussah, wie perfekt in seiner Rundung, wie wunderschön in seiner matten Weiße. Ich blieb stehen, neben ihm, betrachtete es. Starrte zurück.

Ein Ei. 

Einfach so. 

Es war nicht groß, stammte vielleicht von einem Huhn oder einem hühnerartigen Vogel. Ihm fehlte es an Maserung, an besonderen Farbtönen, an jeglicher Art auffälliger Merkmale.

Und doch, für mich, für mein zartes Gemüt, war es wunderschön. Hier lag Perfektion. Hier lag – Leben!

Der Bus kam. Bremsen quietschten, die Tür öffnete sich zischend. Der Fahrer sah uns an: das Ei; mich; grinste dann: 

„Wer von euch beiden war zuerst da?“, fragte er. 

„Ich.“, sagte ich rasch, bevor das Ei sich vordrängeln konnte.

„Ich.“, sagte ich noch einmal, bekräftigend, pickte nach ein paar Halmen auf dem Boden, scharrte kurz mit dem linken Fuß – und flatterte dann in den Bus.

In Eile

Ich verließ die Wohnung in Eile. Die Arbeit rief lauthals, und mir klingelten bereits die Ohren.
Die Nachbarstür stand einen Spalt offen. Ein Hund, genauer: ein Belgischer Kringelterrier mit flauschigem Schnauzbart, huschte heraus und stolperte niedlich die vier Stufen zum Ausgang hinunter.
‘Irgendwoher kommt mir der Hund bekannt vor.’, dachte ich noch, doch meine Beine hatten mich schon ins Freie getragen, beförderten Arbeitsrechner, Arbeitshemd, Arbeitsgesicht und den gesamten mürrischen Rest in Richtung Busbahnhof.

Der Belgische Kringelterrier lief neben mir her, fiel immer wieder ein Stück hinter meinen riesigen, hastigen Schritten zurück und holte im gleichen Atemzug fröhlich hopsend die verlorene Distanz wieder auf.

“Hallo.”, grüßte ich, um nicht unhöflich zu sein.
Der Belgische Kringelterrier schwieg, begleitete mich und streckte freudig seine Zunge in die kühle Morgenluft.
Ich betrieb Smalltalk.
Ich redete über das Wetter, das Wochenende und sogar über das Spiel vom Vorabend, das ich nicht gesehen hatte.

Irgendwann sagte ich gerade
“… und deswegen versuche ich, ein besserer Mensch zu sein.“, als der Belgische Kringelterrier schnaubte.
Nach all den Monologen und Themenwechseln war das die erste Reaktion, die er von sich gab.
Der Terrier schnaubte, und wer – wie ich – sich mit Belgischen Kringelterriern auskannte, wusste, was dieses Schnauben bedeutete:
Der Belgische Kringelterrier lachte. Genauer: Er lachte mich aus.

“Ich will ein besserer Mensch sein!”, wiederholte ich mit Nachdruck.
Der Terrier lachte erneut.
Dann begann er zu sprechen:
“Ein besserer Mensch sein?
Das ist, als ob man hungrig ist und nur an der Speisekarte RIECHT.
Das ist als ob ein Astronaut nur bis zur nächsten BAUMSPITZE fliegt.
Das ist, als ob …”
“Jaja, schon gut. Ich hab’s verstanden.”, unterbrach ich ihn genervt.
“Was schlägst du denn vor?”

Der Belgische Kringelterrier schaute mich an. Sein Schnauzbart wackelte süß im Takt seiner winzigen Schritte, und aus seinen schwarzen Augen funkelte ein breites Grinsen:
“Sei kein besserer Mensch!”, antwortete er. “Sei ein Hund!”
“Und das hilft?”, fragte ich zweifelnd.
“Auf jeden Fall.”, sagt der Belgische Kringelterrier.
“Bei mir hat es auch geklappt!”, bellte er noch und rannte davon.
Und plötzlich wusste ich, woher mir der Terrier so bekannt vorkam.
“Herr Hoffmann?”, rief ich ihm hinterher. “Nachbar Hoffmann?”, doch der Hund war längst verschwunden

Das Geheimnis

Projekt*.txt präsentierte uns ein viertes Wort. Das Wort heißt „mischen“. Ich nahm es, verquirlte es mit einer kleinen, neulichen Alltagsbeobachtung und kreierte somit die folgende Geschichte:

Das Geheimnis
18.04.2018

Ihr Atem war schwer. Ihre Taschen waren schwer. Alles war schwer.

Sie keuchte. Spürte, wie sich zwischen ihren dünnen Haaren Schweißtropfen bildeten. Lief ein paar Schritte, rannte fast. Setzte dann die Taschen ab. Keuchte erneut.
Was für eine blöde Idee. Der Laden war nur ein paar Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, und normalerweise kaufte sie dort immer ein. Kaufte ein und trug ihre Einkäufe nach Hause. Seit Jahren. Jahrzehnten.

Doch heute hatte sie sich übernommen. Hatte schlecht geschlafen, nur zwei oder drei Stunden, hatte sich nicht gut gefühlt, sich trotzdem dennoch nach draußen gezwungen. Hatte nicht nur die üblichen Sachen besorgt, Brot, Käse, Wurst, was man so braucht, sondern mehr. Obst für den Kuchen. Milch. Sogar ein Fläschchen Sekt. Was für eine blöde Idee.

Nun stand sie hier, mit vier Taschen anstelle von einer, an jeder Hand zwei, erst wenige Meter vom Laden entfernt. Sie schwitzte, keuchte. Nahm sich zusammen. Hob die Taschen an. Mühlensteinschwer kamen sie ihr mittlerweile vor. Lief ein paar Schritte. Trippelte. Fünf Meter. Sieben Meter. Pause. Setzte die Taschen ab.

Leute gingen vorüber. Das konnten Leute gut: Vorübergehen, nicht innehalten, wegsehen. Sie war 76 Jahre alt, ihr Rücken war krumm, ihre Haare glommen in hellem Grau. Alles an ihr schrie förmlich: Ich bin alt. Selbst ihre Kleidung, wenn sie ehrlich war.
Doch niemand blieb stehen. Hielt an und fragte, ob er helfen könne. Sie wollte keine Hilfe, aber trotzdem. Fragen wäre nett.

Herr Ludwig, der Hausmeister, schob das auf die Handys. Auf die vermaledeiten Smartphones. Doch sie wusste es besser: Menschen waren nun einmal so. Waren immer so gewesen. Die Handys halfen nicht. Doch wenn ihre Blicke nicht auf den Bildschirmen klebten, fanden Menschen eben andere Gründe wegzusehen. Sich nicht noch zusätzliche Probleme aufzuladen. Man hatte schon genug eigene.

Also lief sie. Rannte fast. In winzigen Etappen. Graue Maus in grauer Kleidung. Hob vier pralle Taschen wenige Zentimeter über den Boden und rannte los. Bis sie nicht mehr konnte. Bis die erste Tasche auf dem Boden schliff. Bis die Arme zu schwer wurden, die Griffe sich zu tief in die Hand pressten. Bis sie wieder innehielt. Ihren Atem suchte.

Für solche Situationen gab es eigentlich Enkel. Oder Nachbarskinder. Doch ihr Enkel wohnte vierhundert Kilometer entfernt, war Mittelpunkt eines eigenen Universums mit eigenen Problemen. Ein Anruf pro Woche. Vier Besuche im Jahr. Das musste reichen.
Und die Kinder der Nachbarn waren schon vor Jahrzehnten ausgezogen. Hatten selber Kinder. Kindeskinder teilweise. Und Schmerzen. Natürlich.

Anheben. Trippeln. Vier Meter. Fünf Meter. Los, noch zwei Schritte! Abstellen. Atmen.

Es war nicht mehr weit. Sie hatte allerdings ohnehin nichts vor. Wollte Kuchen backen. Wollte Mehl und Eier und Zucker zusammenmischen. Butter und Backpulver dazu. Vanillepulver. Vielleicht ein wenig Zimt.
Die Äpfel würde sie schälen und in kleine Stücke schneiden. Halbmonde, hatte ihre Tochter immer gesagt. Und sich einen in den Mund gestopft.

Diesmal brauchte sie länger, um zu Atem zu kommen. Stand, an die Hauswand gelehnt, da. Mit Armen, die entkräftet an ihr herabhingen. Mit Händen, die acht Schlaufen hielten. Vier Taschen. Schwere Taschen. Die immer schwerer wurden.

Das Geheimnis, hatte sie zu ihrer Tochter geflüstert, ist das Apfelmus. Denn Apfelstücke allein waren trocken und langweilig. Wenn man sie jedoch in Apfelmus warf, wenn man die Mischung ordentlich rührte und liebevoll auf dem Teig verteilte – dann wurde es perfekt.

Das Geheimnis war kein Geheimnis. War nie eins gewesen. Stammte aus irgendeinem alten Kochbuch. Aber nur so durfte ihr Apfelkuchen gebacken werden. Mit Apfelmus.
Ihre Tochter hatte immer gerührt. Hatte die Halbmonde in die Schüssel geworfen und in das süße Mus gerührt. “Du musst das gut vermischen.”, hatte sie gesagt. “Dann wird der Kuchen besonders lecker.” Und ihre Tochter hatte gerührt, untergehoben, gekleckert, gemischt. Und verschwörerisch gegrinst: Unser Geheimnis.

Der Hauseingang war in Sichtweite. Natürlich lag noch eine Ampel dazwischen. Eine kleine Allee mit Kastanienbäumen, die bereits erste Blüten trugen. Und eine Nebenstraße, die es ebenfalls zu überqueren galt. Doch der Hauseingang, das Ziel, war sichtbar.

Anschließend würde es leichter gehen. Vor ein paar Jahren hatte die Hausverwaltung einen Fahrstuhl eingebaut. Er war winzig, doch er half, das Hindernis zu überwinden, das die zwei Etagen bis zu ihrer Wohnung mittlerweile für sie darstellten.

Danach: Küche. Auspacken. Schürze. Backen.
Doch vorerst: Losgehen. Die acht Schlaufen greifen und losgehen. Die Arme heben, die Einkäufe vom Boden lösen und losgehen. Nur ein paar Schritte. Kein Problem.

Diesmal waren es nur zwei Schritte. Drei, wenn man den ersten, halben, mitzählte. Dann war es vorbei. Sie setzte die Taschen wieder ab. Ließ sie fast fallen.

Der Kuchen sollte wundervoll werden. Sollte die Wohnung, ihre viel zu große, viel zu leere Wohnung, mit warmen Düften füllen, ihr Herz streicheln.
Alles Gute, würde sie sagen, vielleicht zum Kuchen, vielleicht in das leere Wohnzimmer, und an ihre Tochter denken. Die sich bestimmt gefreut hätte. Die sich über Apfelkuchen immer gefreut hatte.

Nicht jetzt, ermahnte sie sich. Hielt die Träne zurück. Griff verzweifelt nach den Taschen. Lief los. Vier, sieben, zwanzig Schritte. Biss die Zähne zusammen. Lief. Dachte nicht. Bannte die Blicke auf den Boden und lief. Bis zur Ampel.
Keuchte. Schwitzte. Weinte.

“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte eine Stimme. Fragte Herr Ludwig.
Sie sah auf. Nickte matt.

Herr Ludwig mochte Apfelkuchen.

Herr Konrad

Projekt*.txt ließ ein drittes Wort auf uns niederregnen und war somit Inspiration für die nun folgende Geschichte.
Das Wort heißt „Lichtblick“. Und während das Wort im gesamten Text nicht ein einziges Mal vorkommt, mag ich doch, welche Geschichte es in mir erwirkte.

Herr Konrad
29.03.2018

Der Wecker klingelte. Mit übereifriger Betriebsamkeit riss Herr Konrad die Decke beiseite, griff nach dem läutenden Gerät, schaltete es ab – und warf sich erneut ins Kissen, die Arme im kurzen Flug wie Flügel ausgebreitet. Herr Konrad seufzte, die Augen fest geschlossen. Heute war wieder einer dieser Tage.
Zeit verging. Irgendwo hinter den dicken, grauen Vorhängen gab es eine Welt, doch Herr Konrad bewegte sich nicht. Schlief nicht. Stand nicht auf.

Was, dachte er, wenn ich nicht zur Arbeit ginge? Wenn ich einfach liegenbliebe?

Die Vernunft in ihm schüttelte träge seinen schweren Kopf. Dann müsste ich Bescheid geben, müsste anrufen, müsste mir vielleicht eine Begründung ausdenken, müsste am nächsten Tag, in zwei Tagen, dieselbe Begründung wiederholen, vor Kollegen, müsste sie auskleiden, zu einer Geschichte erweitern, drei, vier Mal wiederholen, bis allgemeines Verständnisnicken die Neugierde aller ablöste.

Was, dachte er, wenn ich zur Arbeit ginge? Wenn ich einfach aufstünde und losginge?
Doch Herr Konrad ging nicht, blieb liegen.

Was, wenn ich losginge, und es draußen regnete? In Strömen regnete, Wasserfäden vom Himmel stürzten, kaum Atemuft zwischen sich ließen?
Dann müsste ich den Schirm mitnehmen, antwortete Herr Konrad sich selbst.

Was, wenn ich in eine Pfütze träte?

Pfützen gab es immer viele auf dem Weg zur U-Bahn. Egal, ob es geregnet hatte oder nicht.
Dann müsste ich zwischen den Pfützen hindurchtänzeln, den Schirm über mir balancierend.

Was, wenn ich auf den Stufen ausrutschte?
Mit geschlossenen Augen nickte Herr Konrad, tief in sein Kissen gesunken. Die Stufen waren immer rutschig. Er würde vorsichtig sein müssen. Sehr vorsichtig.

Was, fragte er sich, wenn die Bahn nicht kam? Wenn der Regen ein Sturm war und einen Baum auf die Gleise geworfen hatte? Wenn eine wachsende Menge ratloser Wartender allmählich zu einer wütenden Menge ratloser Wartender wurde?
Was, überlegte er, wenn die Bahn dann kam? Wenn sich regennasse Eilende mit Schirmen und Rucksäcken bewaffnet in die Metallröhre warfen, rücksichtslos, animalisch?

Was, wenn mein Schirm in der Tür stecken blieb, wenn sich die Tür meinetwegen nicht schloss, wenn die ohnehin verspätete Bahn nicht abfuhr, wenn die ohnehin verärgerte Meute nun ihre Wut in seine Richtung bündelte?
Herr Konrad presste sich tiefer in sein Kissen.

Was, wenn man mich dann einfach aus der Bahn warf? Zurück auf den Bahnsteig, auf den feuchtdreckigen Beton?

Herr Konrad schüttelte den Kopf. Das ging zu weit. So etwas würde nicht passieren.
Auf keinen Fall.

Ich würde mit tropfendem Schirm am Bahnsteig stehen, dachte er, die Bahn würde einfahren, regulär, vielleicht zwei Minuten, vielleicht drei Minuten, zu spät sein, ich würde einen Platz finden, vielleicht nahe der Tür, vielleicht neben einer älteren Dame, die in ihr Sudoku-Heft versunken war.

Herr Konrad lächelte. Kurz.

Vielleicht wäre die ältere Dame aber nicht alt, sondern jung, sympathisch, mit einem Buch in der Hand, oder einem Telefon, würde aufblicken, mich ansehen, vielleicht einen Moment zu lang. Vielleicht. Und vielleicht würde ich neben ihr sitzen, während ihr Blick zurück ins Buch, auf das Handy fiel, würde meinen plötzlich leeren Kopf nach den richtigen Wörtern, nach unaufringlichen, freundlich-neutralen Ansprechsätzen durchwühlen, würde nichts finden außer Platitüden, würde nichts über sie wissen außer diesem ersten, einen Blick, würde mir wünschen, kurz, für einen Moment, meinen Kopf zu ihr zu drehen, ihr Gesicht, ihre Haare, ihre Kleidung betrachten, bewerten, zu können, doch ich würde es nicht wagen, würde statt dessen da sitzen, wortlos, mit dem feuchten Schirm im Schoß, der unbemerkt einen Fleck erzeugte, ein wuchernde Quelle potentieller Lächerlichkeit kreierte, während meine Gedanken noch immer nach rechts flohen, meine Blicke kurz in die U-Bahn-Scheibe sprangen, hoffend, dort eine Spiegelung von ihr erhaschen zu können, während meine Hose, mein Schritt, allmählich durchnässt wurde und ich es plötzlich bemerkte, aufsprang, den Schirm fallen ließ, fast wegwarf, ihr Handy, Buch, mit sich riss, fluchte, zurückwich, gegen stehende Mitfahrer stieß, wieder nach vorne drängte, Schirm, Handy, Buch, aufheben wollte, gegen sie stieß, vielleicht mit dem Ellenbogen gegen ihre Nase, wie auch immer das passieren konnte, und sie aufschrie, vor Schock, vor Schmerz, sich die Nase hielt, und ich nur perplex, starr, zusehen konnte, wie das Blut unter ihrer Hand hervorrann, und ich mich selber reden hörte, eine Weile brauchte, bis ich das eine, wiederholte Wort erkannte, sorrysorrysorry!, mir dann zu Sinnen kommend die Taschen abklopfte nach einem Taschentuch, nach irgendwas, das ihr helfen würde, während sie sich die beschmierte Hand vor die Augen hielt, Scheiße! rief, den Kopf in den Nacken legte, das Blut hochzog, erneut Scheiße! rief, während ich nichts fand, kein Taschentuch, kein Wort, keine sinnvolle Tat, nur im Weg stand, nutzlos, sinnlos, der tropffeuchte Schirm unbeachtet zu meinen Füßen, bis dann die U-Bahn bremste und ich den Halt verlor, mich fing, irgendwo, an irgendwem, mühsam hochzog, die Blicke und kommenden Worte spürte, mich unter ihnen hinwegduckte, die sich öffnenden Türen als Ausweg erkannte und floh, lächerlich, mit eingezogenem Schwanz, meinen bescheuerten Schirm zurücklassend, eine freundlich aussehende Dame zurücklassend, ein verdammtes Blutbad zurücklassend, nicht wagend, durch die Scheibe zurückzublicken, den Bahnsteig entlangrennend, blind, dumm, allen Denkens beraubt, hinauf, hinaus, in den Regen, der immer noch nicht aufgehört hatte, der immer noch weitermachte, immer noch Pfützen generierte und Schirme durchweichte, hinaus in den Regen, in den beschissenen, elenden Scheißregen.

Herr Konrad stöhnte. Tief. Richtete sich auf. Zog den Vorhang beiseite.
Draußen schien die Sonne.

Immerhin.

Frühlingsfest

Projekt*.txt zauberte ein zweites Wort aus dem Zylinder und war somit Inspiration für die nun folgende Geschichte.
Das Wort heißt „unendlich“, und es nur konsequent, dass die Geschichte nicht nur ziemlich lang geworden ist, sondern – soviel sei bereits verraten – dass auch ihr Ende recht offen bleibt…

Frühlingsfest
11.02.2018

Das Mühlenberger Frühlingsfest galt als kleine Sensation.
Die Älteren behaupteten steif und fest, dass einst sogar Frank Sinatra hier aufgetreten war. Es gab keine Fotos, die das beweisen konnten, doch ich war bereit, es zu glauben. Auf dem Frühlingsfest konnte alles passieren. Das Frühlingsfest war magisch.

Jedes Jahr am ersten Wochenende im Mai füllte sich der Stadtpark innerhalb weniger Tage mit kleinen, farbenfrohen Ständen, mit fröhlichen Flaggen und Wimpeln, mit Luftballons und handgemalten Wegweisern. Allein die Vorbereitungen waren eine kleine Feier. All das Wimmeln und Werkeln, all die Vorfreude.

Und dann, am Freitag Nachmittag, wenn der Bürgermeister mit übergroßer Schere und übergroßem Lächeln ein rotes Band durchtrennt hatte, strömten die Mühlenberger auf die Große Wiese, tummelten sich zwischen den Ständen, kauften, aßen, lachten, trafen sich, mieden sich, zogen sich zwischen die Bäume und auf das frische Gras zurück, nur um sich Momente später für eine weitere leckere Kleinigkeit, einen weiteren neugierigen Blick, erneut in die pulsierende Menge zu werfen.

Das Frühlingsfest war ein Ort der Begegnung. Verwandte aus anderen Städten wurden eingeladen, Weggezogene kehrten heim, aus den Nachbarorten kamen Bekannte und Freunde. Selbst ein paar Neugierige aus Ulmenhain und Martinshausen nutzten das milde Wetter für einen Abstecher auf’s Land.

“Frank Sinatra war ja leider verhindert.”, scherzte Frau Ginz, als die beste und einzige Band Mühenbergs begleitet von freundlichem Applaus die Bühne verließ. Ihre weißhaarigen Freundinnen lachten. Die Bandmitglieder änderten sich, doch der Scherz war in jedem Jahr der gleiche.

Die Bühne blieb nicht lange leer. Ein blauer Mantel betrat die Bühne, bestickt mit gelben Sternen. Über ihm ein riesiger Spitzhut in gleichem Design. Und dazwischen: Das Gesicht eines jungen Mannes, 17 Jahre vielleicht, unsichere Blicke über die vergnügte Menge werfend.
Seine Lippen, eben noch zusammengepresst, öffneten sich: “Abrakadabra!” Seine erstaunlich volle Stimme glitt über die Große Wiese, und unzählige Köpfe drehten sich neugierig zu ihm hin.

“Ein Zauberer!”, flüsterte Lila neben mir fasziniert und stellte sich auf die Zehenspitzen. “Ein Zauberer, Mami!”, rief sie und zerrte begeistert an meinem Arm.

Ich mochte Zauberer, liebte die kleinen und großen Tricks, mochte es, auf freundliche Weise an der Nase herumgeführt zu werden. Und ich gruselte mich vor ihnen, vielleicht, weil sie mir zeigten, wie leicht ich getäuscht werden konnte, wie fragil alles war, was ich für sicher hielt.

Lila liebte Zauberer über alles! Sie war ganz vernarrt in die Idee, selber eine Zauberin werden zu wollen, hatte sämtliche Bände von Harry Potter gelesen, obwohl es ihr Vater nicht erlaubt hatte. Ich hatte es gestattet, hatte mit ihr an regnerischen Nachmittagen im Wohnzimmer gesessen und alle Filme gesehen, auch die düsteren. Meine Tochter liebte Magie.

Der Zauberer lächelte, bewegte umständlich die Hände und hielt plötzlich einen Zauberstab in den Fingern. “Ah!”, raunte die Menge. Ich grinste. Lila zerrte an meinem Arm und zog mich durch die Menschenmasse nach vorn. Zur Bühne.

Aus der Nähe sah der Zauberer noch jünger aus. Wie ein Schulkind, das gerade seine neuesten Übungen aus dem Zauberkasten präsentierte.

Entsprechend simpel waren seine ersten Tricks. Er verwandelte den Zauberstab in eine Rose und zurück. Er griff einen Löffel aus der leeren Luft, zerkrümelte ihn zu Sand und ließ diesen dann verschwinden. Und natürlich zog er ein Kaninchen aus seinem übergroßen Spitzhut. Das Kaninchen entpuppte sich allerdings als Frau Leutners übergewichtige Katze Puschel, und zum ersten Mal hatte ich Zweifel an meinem Zweifel.

Meine Tochter hingegen war begeistert. Jeder Geste, jedem Schritt, folgte sie aufmerksam, jeder Trick wurde mit Klatschen und Jubel belohnt. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund stand weit offen.
Und so war es nicht verwunderlich, dass der namenlose Zauberer, ohne ein einziges richtiges Wort gesprochen zu haben, die Bühne verließ und zu uns kam. Er schaute mich kurz an, als holte er sich meine Erlaubnis, und ich nickte. Dann griff er Lila ans Ohr und zauberte eine schwere, glänzende Goldmünze dahinter hervor. Eine weitere zog er ihr aus der Nase.

“Iih!”, rief er angewidert, denn ein dicker Batzen blassgrünen Schleims klebte an der Münze. Theatralisch versuchte er, ihn abzuschütteln. Seine Schauspielleistung war mittelmäßig, doch die Kinder johlten angesichts des Schleims, den der Zauberer tollpatschig zu langen Fäden zog. Je mehr er ihn abzuwischen versuchte, desto mehr Schleim schien es zu geben.

“Hast du ein Taschentuch?”, fragte er meine Tochter mit flehendem Blick. Lila schüttelte den Kopf, doch ich hatte die Frage schon erwartet, hielt ihm mein Taschentuch entgegen. Kein Papiertuch, das man nach der Benutzung einfach wegwarf, sondern ein richtiges Taschentuch aus Baumwolle, eines, das sich bereits seit meiner Kindheit in meinem Besitz befand, das ich wusch und bügelte, das ich mit mir herumtrug, ohne es jemals zu benutzen. Schließlich waren Papiertaschentücher einfach praktischer.

Der Zauberer nahm das Tuch, ohne mich anzuschauen, grinste Lila an und wischte sich in übertriebenen Gesten die Hände und schließlich sogar die Münze ab. Wie durch Magie war sämtlicher Schleim verschwunden. Triumphierend hielt der Zauberer die glänzende Münze in die Luft. Beifall ertönte.

Der Zauberer verneigte sich lächelnd und stopfte das Taschentuch in seinen Ärmel. MEIN Taschentuch! Ich wollte etwas sagen, doch Lila hatte aufgepasst und sprang nach vorn.
“Ey!”, rief sie. “Das ist nicht dein Taschentuch!”

Das Publikum lachte. Der Zauberer versuchte, verdutzt auszusehen, doch wirkte nur traurig.
Er zuckte mit den Schultern und griff in den Ärmel seines Mantels, kramte ein wenig und zog schließlich das Taschentuch heraus. Mit freundlichem Lächeln trat er zu meiner Tochter.

Doch Lila wäre nicht Lila, wenn sie nicht aufmerksam gewesen wäre.
“Das ist das falsche!”, rief sie empört. Und tatsächlich: Statt gelber Blüten zierten das Taschentuch blaue Streifen.
“Oh!”, schauspielerte der Zauberer. Dann zog er am blaugestreiften Tuch und förderte ein weiteres zutage. Ein fester Knoten verband die beiden Tücher, und der altbekannte Tücher-aus-Ärmel-Trick begann. Ich seufzte lautlos und wartete ab.

Der Zauberer zog und zog. Zauberte Tuch für Tuch aus dem Ärmel, ein jedes kunstvoll mit seinem Vorgänger verknotet. Jedes der Taschentücher sah anders aus. Und keins davon war meines.
Geduldig stand Lila vor ihm, beäugte jedes Tuch und schüttelte mit dem Kopf. Wieder und wieder.

Vor dem Zauberer bildete sich ein Berg aus Stoff, eine lange Reihe aus Tüchern, die stetig weiterwuchs. Der Zauberer zog und zog.

“Ist gut jetzt!”, rief jemand hinter mir. Herr Schumann vielleicht.
“Irgendwo hier muss es doch sein!”, rief der Zauberer ins Publikum und grinste schief. Er zog weiter.
Der Tücherberg wuchs. Der Zauberer stieg hinauf, holte Taschentuch für Taschentuch aus seinem Ärmel, Knoten für Knoten.
Da, ein Blütentaschentuch! Ich atmetete auf, doch Lila schüttelte den Kopf. Es war das falsche.

Der Zauberer zog weiter. Stieg weiter empor. Weitere Taschentücher folgten. In allen Farben, mit allen Mustern. Ohne Muster. Aus Baumwolle, aus Seide. Kariert, gepunktet, gelb, blau, weiß. Alles.
Die ersten Gäste gingen. Der Zauberer wirkte verzweifelt.
“Irgendwo hier muss es doch sein!”, schnaufte er. Seine Wangen hatten sich vor Anstrengung rot gefärbt. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob er noch immer schauspielerte.
“Irgendwo hier!”.
Er zog weiter. Zog und zog.
Tuch. Knoten. Tuch. Knoten.

“Buuh!”, schrie jemand, vielleicht wieder Herr Schumann. Doch der Zauber hörte es nicht, zog weiter, ließ mehr und mehr Wiesengrün unter farbigen Stoffen verschwinden.

“Ist doch egal!”, sagte ich schließlich. Der schrille Klang meiner Stimme überraschte mich. “Behalt doch das blöde Tuch!”, rief ich. Hör endlich auf!, rief ich nicht.
Der Zauberer schüttelte nur den Kopf und zog weiter.
“Komm, wir gehen!”, sagte ich zu Lila, doch sie schaute nur gebannt auf die Tücher, die nach und nach zum Vorschein kamen.

Ich griff nach der Tücherkette, zerrte an ihr, wollte, dass es schneller ging, dass es endlich vorüber war. Doch es endete nicht.
Farben und Stoffe flogen vorbei. Die Taschentücher waren längst egal geworden. Es sollte nur noch enden.

Bei einem besonders dünnen Taschentuch hielt ich inne. Zerrte daran. Wollte es zerreißen. Wollte die endlose Kette unterbrechen.
“Nicht das!”, rief Frau Ginz. “Das ist mein Taschentuch!”
Ich seufzte. Griff ein anderes Tuch. Riss erneut.
“Halt!”, rief jemand. Felix. Der Sohn der Wilhelmsens. “Das ist meins!”
Das Taschentuch war mit kunterbunten Ballons bedruckt und sah aus, als hätte Felix schon oft darauf herumgekaut.

Ohne zu zögern griff ich das nächste Taschentuch. Wahllos.
Dieses war weiß. Mit gelben Blumen.
Meins!

“Hier ist es!”, rief ich erleichtert. “Hier ist mein Taschentuch!”
Ich wollte es hochhalten, wollte es allen zeigen, wollte zeigen, dass der Alptraum ein Ende hatte, dass wir endlich nach Hause gehen konnten. Dann entglitt es mir.

“Mist!”, fluchte ich und griff in den Tücherberg zu meinen Füßen.
Wie besessen begann ich zu suchen, doch ich fand es nicht. Fand Hunderte Tücher, doch nicht meins. Frau Ginz half mir, andere halfen mir. Selbst Felix hatte sich hingekniet um zu helfen.
Doch wir fanden es nicht.

“Egal!”, rief ich und begann, wieder an irgendeinem Taschentuch zu reißen, zu zerren. Diesmal erntete ich keine Proteste.
Doch ich schaffte es nicht.

Herr Schumann kam herbei, zog von der anderen Seite.
Doch auch gemeinsam schafften wir es nicht. Das Taschentuch schien unzerstörbar zu sein.
Ein anderes!
Wir zogen und zerrten, rissen und rupften, doch keines der Taschentücher gab nach oder zeigte nur einen schmalen Riss.

Wer noch geblieben war, riss nun an Taschentüchern. Alle machten mit.
Die Taschentücher waren gnadenlos.

“Knoten!”, rief Herr Schumann, und wir widmeten uns den Knoten, friemelten an ihnen herum, versuchten, sie zu lockern. Ich hatte noch nie so kunstvolle, so feste, so unnachgiebige Knoten gesehen.
Wir rissen und kauten, zerbrachen unsere Fingernägel, doch gewannen keinen Millimeter. Kamen nicht voran.

Das konnte doch gar nicht sein! All das konnte doch überhaupt nicht sein!

Ich blickte auf. Der Zauberer war verschwunden.
Lila war verschwunden!
“Lila!”, rief ich und ließ die Kette aus Tüchern fallen.
“Lila!”, rief ich, stapfte durch unzähliche Taschentücher, umrundete den Berg aus Stoff, der vor mir lag, stieg auf einen weiteren bunten Hügel.
“Lila!”

Sie war weg, spurlos verschwunden, antwortete nicht!
Panisch rannte ich zur Bühne, sah mich um. Links, rechts, überall.
Der Zauberer war verschwunden. Lila war verschwunden.

Überall lagen Taschentücher, kunstvoll miteinander verknotet. Sie bedeckten den gesamten Boden, das Gras. Eine endlose Kette aus Stoffen, Mustern und Farben. Und mittendrin eine Handvoll Leute, die noch immer versuchten, die Tücher zu zerreißen, zu entknoten.
Doch nirgends war Lila. Nirgends war der Zauberer.

“Lila!”, rief ich erneut, kreischte. “Lila!”
Ich kletterte auf die Bühne.
“Lila!”
Meine Stimme brach.
“Lila!”
Andere nahmen meine Rufe auf.
Keine Antwort.
Lila!
Weg!

Tränen verdeckten meine Sicht. Ich wischte sie ab, sah mich weiter um.
Weitere Tränen.
Ich griff ein Taschentuch vom Boden und wischte erneut.
Hielt das Taschentuch in der zitternden Hand und sah mich um.
Der Zauberer war verschwunden, doch hatte eine Spur hinterlassen.

Ich lief los und folgte der Kette aus Tüchern.



Meine bisherigen Werke für Projekt*.txt:
Das Meer

Das Meer

Ich habe beschlossen, mich in diesem Jahr wieder ein wenig mehr dem Schreiben zu widmen. Daher mochte ich die Idee von Projekt*.txt, die jeden Monat ein Inspirierwort hervorzaubern, aus dem ich wiederum einen Text kreiere.
Das erste Wort heißt „Anfang“ und erzeugte folgendes Werk:

Das Meer
28.01.2018

Hier beginnt das Meer.

Mein Onkel stand neben mir, blickte in die Ferne und schwenkte seinen riesigen Arm wie einen Kran in Richtung Sonnenuntergang.
„Hier beginnt das Meer.“, dröhnte er, und ich glaubte, einen dicken Kloß aus Stolz in seiner Stimme zu hören. Als wäre es nicht DAS Meer, sondern SEIN Meer.
„Hier beginnt das Meer.“

Doch das Meer begann nicht. In matten, warmen Lachen lag es da, warf weiches Licht in unsere Augen, spiegelte müde das sinkende Himmelsrot. Es rührte sich nicht, hielt inne und wartete auf die Zeit. Schwach sah es aus, zerbrechlich fast. Jeder Schritt konnte den zarten Spiegel verletzen. Ein bisschen Sand, ein kleiner Stein, und es wäre verschwunden.

„Ebbe.“, sagte mein Onkel. Sein Bart bebte zufrieden, filterte jedes Wort, jeden Atemzug, filterte sein ganzes Gesicht, glättete die Falten, die Furchen, an denen man erkannte, dass hinter dem Berg aus Haaren ein Berg aus zahlreiche Damalsen hauste.

“Damals.”, so begannen seine Geschichten, und wenn seine Augen schelmisch zu glitzern begannen, so war es eine Meeresgeschichte, ein Damals auf dem Fischerboot, ein Damals in der Hafenbucht, ein Damals inmitten des Sturmes.

Mein Onkel lebte das Meer, liebte alles, was das Meer hergab, alles, was es ihn kostete. Er liebte Ebbe und Flut, Segel- und Motorenboote, Angeln und Naturschutzgebiete. Er liebte sogar Meerkatzen, obwohl er Katzen sonst nicht mochte. “Katzen haben auf einem Boot nichts zu suchen!”, schimpfte er, wannimmer er einer Katze begegnete. “Bringt Unglück!”, tönte er und hob den haarigen Kranarm zu scheuchender Geste.

Affen mochte er auch nicht, doch den Grund dafür kannte ich nicht. Wahrscheinlich lag er in einem Damals verborgen, in irgendeiner seiner Geschichten, die wahr oder falsch waren, die er bereits vergessen hatte oder sich für einen besonderen Anlass aufhob.
Der Bart meines Onkels war ein unerschöpflicher Quell.

Ich liebte meinen Onkel, und wie er so neben mir stand, auf das schmale, zerbrechliche Meer hinausschauend, sehnsuchtswarm und mit feuchtem Funkeln im Blick, liebte ich ihn noch mehr, wollte mich am liebsten an ihn drücken, das Haar an seinen Bauch pressen, mich mit seinen Armen bedecken, darauf warten, dass der Kopf sich senkte, die Blicke mich fanden und der Bart sich zu einem weichen Lächeln verbog.

Ich liebte meinen Onkel, abgöttisch, doch hasste ihn, wenn seine Stirnesfalten sich plötzlich verdunkelten, sich die Augen verengten, wenn seine Stimme dröhnte, als müsse sie gegen einen inneren Sturm ankämpfen, wenn Zorn seinen Bart erbeben, fast zittern, ließ. Wenn sein Gesicht eine wütende Wolke war.
Wie dann seine Worte tosten, wie sie über mich hinweg-, durch mich hindurchfegten, mir jeden Halt raubten! Wie sein weicher Körperberg sich plötzlich zu ballen schien, ein steinharter Fels aus Wucht und Wut! Aus dem herzenswarmen Dinosaurier wurde dann ein rastloses Ungetüm, ein Godzilla mit Rauschebart.

Aus dem Nichts brach es hervor, aus heiterem Himmel, und genauso schnell flaute es wieder ab, rundeten sich die Linien seines Gesichtes, schmolzen die Kanten seiner Wörter.
Der Bart gewann an Flausch, mein starres Herz wagte wieder zu pochen.

Und so standen wir hier, wo das Meer begann, beziehungsweise: wo es nicht begann, wo es in trägen Lachen vor uns lag und das Licht der untergehenden Sonne in sich baden ließ. In den Augen meines Onkels glitzerte Liebe und etwas, das aussah wie Sehnsucht, und sein Bart verbarg ein sanftes Lächeln.

Ich sah das Lächeln nicht, doch je länger wir hier standen, in Richtung Horizont starrten, desto sicherer war ich mir: Mein Onkel lächelte. Selbst der nimmermüde Wind vermochte nicht, Onkels Bart ausreichend stark zu zerzausen, um sein Lächeln zu entblößen. Doch ich spürte es, fühlte seine Wärme neben mir, fühlte das Lächeln, das ihn, meinen Onkel, umgab, das durch seine warmen riesigen Finger in meine strahlte, merkte, dass auch ich infiziert war, dass auch ich zu lächeln begonnen hatte.

Und noch etwas spürte ich: Mein Onkel hatte recht.

Vor uns lagen matte Pfützen, still und träge. Ihr Flüstern war leise, und man musste sich anstrengen, um ihre Geschichten auch nur zu erahnen. Ihre Wörter waren voller Morgen, voller Irgendwann, voller Hoffnung.

Irgendwann würde das Meer zurückkehren, irgendwann würden hier Wellen brausen, würde wilde Gischt weiße Werke kreieren und wieder zerstören, würden Wellen Sand und Steine, Treibholz und Muscheln, von sich werfen, an sich ziehen – und die öden, stummen Pfützen verschlingen, in sich aufgehen lassen. Das Meer würde kommen, und es würde brausen und zischen, gleiten und fließen, den Strand mit salziger Zunge küssen.

Vielleicht würde es tosen und toben, vielleicht wäre es Sturm und Wolke, vielleicht wäre es Wellengang und Donnerschlag. Vielleicht.

“Hier beginnt das Meer.”, sagte ich, und mein Onkel nickte.
Sein Bart war eine lächelnde Wolke.

Das Zimmer – Teil 3

Zettel. Überall Zettel.

Der Bezug des Zimmers löste in mir eine Kette von Erinnerungen aus: Schließlich hatte ich diverse Jahre lang in WGs gelebt, wusste, wie man sich mit vier weiteren eine Toilette teilte und sich dennoch Privatsphäre bewahrte. Nun jedoch musste ich feststellen, dass es einen immensen Unterschied zwischen einer Wohngemeinschaft und der euphemistisch „Pension“ genannten Behausung, die mir derzeit zweite Heimat war, gab:
Zettel.

Zettel waren zweidimensionale Stellvertreter für Regeln. Und Regeln gab es anscheinend überall und für alles. Hätten diese Zettel sich in einer WG befunden, hätte ihre Lebenszeit keine zwei Tage betragen. Nur allzu rasch hätten aufsässige Gemüter die Wände von mahnenden Zwängen befreit und – im Idealfall – den Papiermüllcontainerinhalt um mehrere Handvoll fröhlicher Schnipsel erweitert.
Doch hier in der Pension hingen die Zettel offensichtlich seit Jahren und blichen langsam vor sich hin.

Manche der Zettel, manche der Regeln, waren in ihrer Lebenszeit korrigiert worden, Zeilen waren mit Korrekturflüssigkeit übertüncht, andere nachträglich, handschriftlich, ergänzt.

Überhaupt: Handschrift. Während einige der Zettel durchaus den Innereien eines Farbdruckers entsprangen und dann mittels Schere zu klebbarem Format zurechtgestutzt worden waren, überwogen doch die handbeschriebenen. Mit Buchstaben, die an Sütterlin erinnernd das Alter der Regelsetzenden verrieten und sich der letzten Neuerungen deutscher Rechtschreibregularien verweigerten, gemahnte nahezu jede Wand der Pensionsetage der Dinge, die befolgt werden mussten:

Essensreste durften keineswegs im gelben Sack landen, die Dusche war nach Benutzung zu reinigen, der Duschvorhang so zu justieren, dass Wassertropfen keine Chance hatten, den Kachelboden zu benetzen. Flaschen gehörten in den Eimer, Abwaschreste nicht ins Waschbecken.

Manche der Regeln entsprangen reinem Menschenverstand. Doch allein ihre Niederschrift erweckte in mir Widerspenst: Ich wollte faulige Pflaumen in den Gelben Sack werfen, wollte die Haustür bei Anbruch der Dunkelheit aufreißen, wollte einen Kärcher mieten und beide Bäder mit Wut und Wasser fluten.

Mein Zimmer war ein Heiligtum. Hierhin hatte sich kein Zettel, keine Regel, verirrt. Hier war ich sicher.

Als ich jedoch eines Tages nach langem Tagewerk heimkehrte, mit lächerlich grobem Schlüssel meine lächerlich dünne Zimmertür öffnete und die wenigen Quadratmeter betrat, die mir vorübergehend Unterschlupf boten, bot sich mir ein Anblick des Grauens.
Auf grauem, grauenvollem Teppichboden lag ein Stück linierten Papiers, fünf Zeilen handgeschriebenen Mahnens.
Eine Anrede gab es nicht, keinen Abschiedsgruß, nur eine Unterschrift der Vermieterin.
Und einen Hinweis, der weniger Hinweis als viel mehr Drohung war:

Bei Toilettentätigkeiten, die größeren Papierbedarf hatten, wurde mir geraten, das Papier im beistehenden Mülleimer zu entsorgen, nicht in der Toilette selbst. Diese neigte anscheinend zu Verstopfung.

Zahlreiche Fragen sprangen in meinen Kopf.
Wieviel war zuviel?
Hatte jeder Bewohner einen solchen Zettel erhalten?
Oder nur ich?
Hatte man mich als Schuldigen ausgemacht?
Wenn ja, wie?
Wurden meine Badezimmeraktivitäten überwacht?
War die Toilette tatsächlich verstopft gewesen?
Oder war das eine Warnung?
Hatte ich in den letzten Tagen überhaupt papierintensive Tätigkeiten ausgeübt…?

Antworten brauchte ich nicht.

Ich schloss die Tür mit mehr Inbrunst als nötig, griff mir einen Apfel und vertilgte wütend sein Fruchtfleisch.
Nur kerngefüllte Innereien blieben übrig.
Ich warf einen letzten Blick auf den Zettel, wickelte den Apfelrest ein und warf ihn in den Gelben Sack.

Unterwegs II

Rot, alles Rot. Das Navigationsgerät sprach mit deutlichen Bildern. Stau nahte, massiver Stau, und es gab nur wenige Optionen. Bleiben, stehen und schimpfen – oder abfahren, auf’s Land, ins Unbekannte.
Abenteuer!, dachte ich grinsend und fuhr ab.

Ich war nicht der einzige Abenteurer, und kraftlose Tentakel des Autobahnstaus erfassten auch die Landstraßen. Mein Auto schlich dahin, wackelte durch Kopfsteinpflasterdörfer, Baustellenampeln und enge Kreisverkehre, kämpfte sich frei und warf mich schließlich, endlich!, in höhere Gänge, aufs Land, zwischen Felder und Wälder. Das Gefährt raste dahin, trieb nach vorn. Doch kaum waren die Drehzahlen ausreichend angewachsen, warf sich Schönheit vor meine Augen, und in mir drängte es nach wieder Stillstand, nach Innehalten und Einatmen:

Nebelschwaden wälzten sich wohlig auf den Äckern, schlängelten sich zwischen Stämmen hindurch, verspeisten genießerisch Büsche und Getreide, Gepflanz und Getier gleichermaßen. Hinter mir erhob sich gülden die Sonne aus tiefem Schlaf, lenkte ihr Licht auf die samtgrauen Bodenwolken, entlockte ihnen schwammige Silhouetten von Bäumen und Gebäuden. Links und rechts der Straße wogte weich das Nebelmeer, gebar mich aus seiner Mitte, eine Insel dröhnender Eile.

Halt inne!, rief der Moment, verweile!. Doch ich schüttelte den Kopf, preschte voran, hinein in die Schwaden, durch unbekanntes Land, den Sonnenaufgang im Rücken, der wärmend die Fahrtrichtung bestätigte.

Unterwegs I

Prachtvoll und schwer hing die Silbersichel des Mondes in meinem Außenspiegel, klebte imposant im erwachenden Himmel und mahnte mich zum Innehalten. Ich schüttelte den Kopf, keine Zeit!, und gab Gas. Die Straße dröhnte unter meinem Fahrzeug dahin, bog sich sanft dem Mond entgegen. Mein Blick glitt nach oben, hielt in Erstaunen inne. Wie schön er war, der Mond, wie wahrlich wunderschön. Und über ihm, als wäre er seiner Umarmung entflohen, glomm ein weiterer Lichtfleck, zu groß für einen Stern, zu starr für ein Flugzeug.

Ich schaute, nach oben, zum Mond, zum Licht, nach unten, zur Straße, nach links, rechts, in alle Spiegel, wieder nach oben. Bist du die Venus?, fragte ich das Leuchten, doch mein Blick sprang wieder nach unten, zur Straße, die sich wieder wand, mich lenkte, ablenkte, zu den Leitlinien, die zu überqueren ich gerade im Begriff war.

Ein letzter Blick nach oben, auf das Doppelgestirn. Ein letztes Kosten astraler Pracht.

Danke, flüsterte ich im Geiste und donnerte davon.