Unterwegs I

Prachtvoll und schwer hing die Silbersichel des Mondes in meinem Außenspiegel, klebte imposant im erwachenden Himmel und mahnte mich zum Innehalten. Ich schüttelte den Kopf, keine Zeit!, und gab Gas. Die Straße dröhnte unter meinem Fahrzeug dahin, bog sich sanft dem Mond entgegen. Mein Blick glitt nach oben, hielt in Erstaunen inne. Wie schön er war, der Mond, wie wahrlich wunderschön. Und über ihm, als wäre er seiner Umarmung entflohen, glomm ein weiterer Lichtfleck, zu groß für einen Stern, zu starr für ein Flugzeug.

Ich schaute, nach oben, zum Mond, zum Licht, nach unten, zur Straße, nach links, rechts, in alle Spiegel, wieder nach oben. Bist du die Venus?, fragte ich das Leuchten, doch mein Blick sprang wieder nach unten, zur Straße, die sich wieder wand, mich lenkte, ablenkte, zu den Leitlinien, die zu überqueren ich gerade im Begriff war.

Ein letzter Blick nach oben, auf das Doppelgestirn. Ein letztes Kosten astraler Pracht.

Danke, flüsterte ich im Geiste und donnerte davon.

Raus

Als ich aus der Haustür trat, schaute Frau Kantner aus dem Fenster, Ellenbogen auf ein schmales Kissen gebettet, den Kopf weit aus dem Rahmen gestreckt.
So wie sie es immer tat.
Misstrauen hatte sich jahrzehntelang in ihr Gesicht gegraben, hatte tiefe Furchen in ihrer Stirn hinterlassen, unter der nun kritische Blicke jede meiner Bewegungen argwöhnisch verfolgten.
Doch ich hatte meinen Müll sorgsam getrennt, hatte die Hausordnung pünktlich ausgeführt, hatte sogar darauf geachtet, die Haustür langsam hinter mir zuzuziehen, um keinen störenden Lärm entstehen zu lassen. Ich hatte mich ordnungsgemäß verhalten.
So wie ich es immer tat.

Durch meine Gedanken tollten Formeln und Regeln, mathematische Gesetze, physikalische Prinzipien, komplexe Probleme, mit denen ich mich nun tagelang auseinandergesetzt hatte, ohne der Lösung näher gekommen zu sein. Ich hatte analysiert, hatte vierunddreißig Seiten voller Notizen erstellt und Blatt für Blatt dem Aktenvernichter übergeben, hatte mich mehr als sechs Stunden lang durch das Internet gekämpft, war jeder noch so schwachen Spur in jede mögliche Sackgasse gefolgt, hatte mich durch insgesamt vierzehn unnütze Bibliotheksbücher gewälzt, hatte zwei Bleistifte und einen Kugelschreiber mit den Abdrücken meiner Zähne übersät, hatte selbst die Kartons der beiden gelieferten Pizze Funghi mit neuen Ansätzen und Lösungsmöglichkeiten bekritzelt und anschließend der korrekten Mülltonne übergeben. Es gab zwölf neue Dateien auf meinem Rechner, ich hatte neun Emails und zweiundvierzig Textnachrichten geschrieben und empfangen, doch keine von ihnen hatte mich vorangebracht. Ich hatte sogar mit meinem Vater telefoniert und ihn um neue Ideen gefragt, aber seine Gedanken steckten irgendwo in den prächtigen Blüten seines Rosengartens, und der einzige Rat, den er mir geben konnte, war: „Geh mal raus.“
Also ging ich raus.

Ich hatte meinen Rechner zugeklappt, Mantel und Schuhe angezogen und war rausgegangen. Ich hatte den Schlüssel doppelt im Schloss gedreht, so wie ich es immer tat, war fünf Stufen gelaufen, umgedreht, wieder in die Wohnung gestürzt, hatte den Rechner aufgeklappt und einen weiteren, neuen Gedanken verfolgen und kurz darauf mit Ernüchterung abwürgen müssen, hatte gerade erneut die Wohnungstür erreicht, als mir eine weitere Idee kam, hatte eine halbe Seite im Notizbuch mit Skizzen und Stichpunkten befüllt und schließlich kopfschüttelnd durchgestrichen, war wieder aufgestanden und hatte die Wohnung verlassen, war die Treppen nach unten gegangen, den Kopf tief in Denkwelten getaucht, aus denen es kein Entkommen zu geben schien, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, als könnten sie dort eine Lösung für mein Problem finden, als gäbe es dort einen Ansatz, den ich bisher nicht verfolgt hatte.

Ich hatte die Haustür langsam hinter mir zugezogen, so wie ich es immer tat, hatte zu Frau Kantner hinaufgenickt, ohne zu wissen, ob sie wirklich dort saß und alles beobachtete, was vor ihrem Hauseingang geschah.
Doch sie saß dort, beobachtete den unrasierten Mittvierziger, dessen weichendes Haar heute noch keinen Kamm gesehen hatte und dessen Augen Schlaf vermissten, beobachtete ihn, wie er sich noch tiefer in sich zusammenfaltete und von den eigenen Schritten die Straße entlang tragen ließ, ohne dass er ein Ziel zu haben schien.

Meine Füße kannten den Weg. Ich spürte Frau Kantners bohrenden Blick im Nacken, aber kümmerte mich nicht. Ich hatte nichts falsch gemacht, hatte mich ordnungsgemäß verhalten, hatte sogar beim Überqueren der Straße nach links, rechts und wieder nach links geschaut, obwohl hier durchschnittlich nur achtzehn Autos pro Tag vorbeifuhren.

„Die Frage ist …“, murmelte ich vor mich hin, erzeugte weitere Schritte, legte Entfernung zurück, ohne zu wissen, wohin ich unterwegs war.
„Das Problem ist…“, dachte ich laut, und ließ das Asphalt unter meinen Blicken vorbeistreichen.
„Die Sache ist die…“, begann ich, mir selbst meine Probleme zu erklären. Nur gab es nicht nur eine Sache, ein Ding, das einer Lösung bedurfte. Ich hing an einem Konstrukt aus ineinander verschachtelten Unmöglichkeiten, und irgendwo zwischendrin wartete eine Lösung darauf, von mir entdeckt zu werden.
Ich seufzte, schüttelte mit dem Kopf, seufzte erneut.
Vielleicht gab es ja gar keine Lösung. Vielleicht war ich längst festgerannt, steckte in gedanklichen Sackgassen fest, irgendwo, wo keine Formel, keine Gleichung der Welt, einen Ausweg bot.

Ich blickte auf, sah mich um.
„Wo bin ich hier?“
Meine Füße standen auf steinernem Boden, meine Hände lagen auf dem Rest einer Mauer. Wind hob mein Haar zu einer absurden Krone, und meine Blicke ragten weit über die gesamte Stadt.
„Ach, hier bin ich.“, sagte ich und lächelte fast.
Ein alter Aussichtspunkt, eine gesicherte Ruine, Innehaltepunkt für spezierende Fußgänger, abendlicher Treffpunkt für unbescholten trinkende und rauchende Jugendliche, hatte mich eingefangen und bot mir nun ein atemberaubend schönes Panorama über den Talkessel, in den sich die Innenstadt schmiegte. Irgendwo dort lag auch meine Wohnung, lag auch mein Notizbuch, lag vielleicht die Lösung, die sich mir die ganze Zeit verwehrte.

Ich seufzte, wandte den Blick ab, sah nach oben.
Drei Wolken, zwei klein und unscheinbar, eine groß, grau und gewaltig, thronten über dem Kessel, ließen sich von mindestens sieben Vögeln verschiedener Art umkreisen. Nein, nicht ‚umkreisen‘, korrigierte ich mich. Die Vögel zogen keine perfekten Kreise mit immerwährend identischem Radius. Vielmehr waren es Schleifen, einfache und zugleich faszinierend komplexe Muster, die die kleinen Flügelpaare in den Himmel schrieben.

Mein halbes Lächeln wuchs zu einem ganzen, als ich dem Treiben der Flatterkreaturen folgte, als ich ihren luftenen Pfaden hinterhereilte, als könnte ich bei ihnen verweilen, könnte ihnen folgen, mit ihnen über Stadt und Bergkranz gleiten, Schleifen in das Oben zeichnen, als könnte ich mich kurz von meinem Körper, meinem prall gefüllten Schädel, lösen, einfach die Flügel ausbreiten und den lauen Winden folgend allen Berechnungen, allen Methoden und Lösungsansätzen, Lebewohl sagen.

„Über den Wolken…“, dachte ich laut und fühlte mich leicht, leichter als ich mich fühlen sollte, fühlte mich, als zöge die Gravitation, die Erde mit ihrer gewaltigen Masse, nicht länger an meinem Leib, als hätte das Unten keine Macht mehr über mich.

Mein Lachen war ein Zwitschern, und ich hob meine Füße näher an meinen Körper. Meine Schwingen drückten mich nach oben, weiter und weiter, funkelnd im Sonnenweiß, leicht und doch kraftvoll. Formen verschoben sich, und das Wesen der Straßen und Häuser, der Kanten und Geraden, verlor sich in meinen Kreisen und Spiralen, entwand sich der kargen Zweidimensionalität, entließ mich aus mir selbst.

„Geh doch mal raus“, hatte Vater gesagt, doch ich ging nicht. Ich flog. Raus und weiter hinaus, hoch und höher, hinab, hinauf, ins Freie, ins Leere, ins Blau des Himmels.

Und dann durchquerte ich die Wolken, die kleinen, streichelnd sanften, dann die große, tumbe, graue, die mich mit kühler Feuchte benetzte, Tropfen auf meinem Leib hinterließ wie Küsse, durchquerte die Winde, durchquerte alle Himmel.

Als ich die Augen öffnete, stand ich noch immer hier, Schuhe auf grauem Stein, Hände auf den Resten der Mauer, das Gesicht in ein breites Lächeln gehüllt. Meine Füße trugen mich zurück, heimwärts, nach unten, doch mein Kopf verweilte noch immer dort oben, inmitten der gleitenden Vögel, zwischen Wolkennass und Sonnenglitzern.

„Hat es geregnet?“, fragte Frau Kantner neugierig, als ich schließlich die Haustür öffnete.
„Nein.“, sagte ich, doch in meinem Haar kicherten die Tropfen.

Martas Nase

In aller Regelmäßigkeit nehme ich am Literaturwettbewerb des mdr Figaro teil. Dieses Jahr schaffte ich es leider nicht in die Bestenauswahl, was ich zum Anlass nehme, die eingesandte Geschichte einfach hier zu veröffentlichen.
Sie heißt

Martas Nase

Für jede Nase kommt die Zeit, in der sie laufen muss, und für Martas Nase war genau heute der richtige Tag, um einfach loszulaufen. Einfach so. Irgendwohin.

„Ich möchte etwas sehen!“, sagte sie, löste sich von Martas Gesicht und hüpfte ins weiche Gras des Stadtparks. Hier duftete es immer aufregend gut, und sowohl Marta als auch ihre Nase mochten es, zwischen den Bäumen und Büschen, zwischen den Hunden und Kinderwagen, spazierenzugehen. Manchmal kaufte Martas Mami ihr ein Eis, und auch das roch lecker. „Erdbeereis.“, erinnerte sich Martas Nase und landete sanft im Gras. Heute wollte sie laufen.

Martas Nase lief. Sie ging ein paar Schritte vor, ein paar zurück, ein paar nach links, ein paar nach rechts. Doch irgendwie war sie nicht begeistert.
„Ich möchte etwas sehen!“, dachte sie laut, doch egal, wohin sie trat, fand sie nur Gras. Grünes Gras, das grün war und nach Gras roch. Das war zu wenig.
Martas Nase lief herum, raschelte sich zwischen grünen Grashalmen hindurch, roch den Erdboden unter ihr, in dem es Regenwürmer gab, entdeckte die verblasste Spur einer Schnecke, die sich einst ebenso wie Martas Nase ihren Weg durchs grüne Gras gebahnt hatte.

Doch auch das war zu wenig.
„Ich möchte etwas sehen!“, sagte sie und stieß auf Leder. Das Leder war schwarz und roch stark nach dem besten Schuhputzmittel, das sich Lederschuhe wünschen konnten. Und es roch nach Zuhause. Irgendwie.

Martas Nase hielt inne.
„Das sind doch Martas Schuhe!“, freute sie sich. Die Schuhe machten einen großen Schritt, und Martas Nase lief hinterher. Nasen können gut laufen, und Martas Nase war da keine Ausnahme. Sie lief hinterher und rief erneut: „Das sind doch Martas Schuhe! Und Martas Socken!“
Marta liebte es, Socken zu tragen, die nicht zueinander passten. Notfalls trug sie die linke Socke drei Tage hintereinander und wechselte nur die rechte.
In Martas Socken steckten Martas Füße. Das überraschte niemanden, schon gar nicht Martas Nase, die genau wusste, wie Martas Füße riechen konnten. Vor allem nach dem Sport.

Martas Füße machten einen weiteren Schritt, zusammen mit Martas käsigen Socken und Martas ledernen Schuhen.
„Halt!“, rief Martas Nase und lief hinterher. Grashalme stellten sich ihr in den Weg, versperrten ihr die Sicht, aber schon bald hatte Martas Nase die Füße eingeholt.
„Ich möchte etwas sehen!“, rief Martas Nase.
Martas Füße antworteten mit einem doppelten „Mmpf !“. Martas Füße trugen Socken und Schuhe, und wenn sie irgendetwas sagten, so konnte man sie kaum verstehen.
Alles, was sie sagten, klang ein bisschen nach „Mmpf !“.
„Wie bitte?“, fragte Martas Nase höflich, aber Martas Füße hmpften erneut:
„Hmpf !“. Es klang ein bisschen wie „Nach oben.“
„Nach oben?“, fragte Martas Nase vorsichtshalber, aber bekam nur ein weiteres „Hmpf !“ als Antwort.
„Das heißt vermutlich ,Ja.’“, sagte sie, hüpfte elegant auf Martas Schuhe und kletterte vorbei an Martas Socken Martas linkes Bein hinauf.

Ein wenig außer Atem pausierte sie in Martas linker Kniekehle. Martas Beine bewegten sich, machten wieder ein paar Schritte, und Martas Nase musste sich gut festhalten, um nicht sofort wieder nach unten zu fallen.
„Ganz schön wacklig hier.“, sagte Martas Nase unsicher. Dennoch sah sie sich um.
Vor ihr befand sich Martas linkes Knie. Über ihr setzte sich Martas Bein fort. Und unter ihr? Grün. Grünes Gras.

Tatsächlich konnte Martas Nase nun sehen, dass die Wiese aus mehr bestand als nur aus Gras. Hier und dort entdeckte sie ein paar Kleeblätter, und für ein paar Augenblicke war sie versucht, ein vierblättriges finden zu wollen. Zwischen all dem Grün schimmerten ein paar vereinzelte Blüten durch. Martas Nase konzentrierte sich und glaubte, sie riechen zu können, eine milde Süße, die sich hauchzart mit dem lauem Frühlingswind mischte.

„Hach.“, seufzte Martas Nase zufrieden. Dann bewegten sich Martas Beine erneut.
„Ganz schön wacklig hier.“, dachte Martas Nase. Ein weiteres Mal blickte sie sich um.
Kniekehle, Bein, Grün. Mehr nicht.
„Ich möchte etwas sehen!“, grinste Martas Nase und kletterte weiter nach oben.
An Martas Po hielt sie gar nicht erst inne. Hier stank es zuweilen ganz fürchterlich, wusste sie. Also lief sie weiter.

Martas Rücken war angenehm.
„Hier ließe es sich aushalten.“, sagte Martas Nase zu sich selbst. Dann rutschte sie ein Stück nach unten.
„Huch!“
Martas Nase kletterte wieder ein wenig nach oben. Sie versuchte, sich diesmal besser festzuhalten, doch schon kurz darauf war sie wieder ein Stück nach unten abgerutscht.
„Ich versuche es noch einmal!“, sagte Martas Nase tapfer, kämpfte sich nach oben und klammerte sich mit aller Kraft fest. Diesmal blieb sie. Sie roch Martas frisch gewaschene Kleidung, roch die grüne Wiese unter Martas Füßen, roch die warme Frühlingsluft.
Dann rutschte sie erneut.
„Mist.“, fluchte Martas Nase leise. Nasen fluchen nicht sehr oft, und Martas Nase
fluchte noch seltener als andere Nasen. Wenn sie also fluchte, hatte sie allen Grund dazu.

Mühsam kletterte sie wieder nach oben. Diesmal versuchte sie gar nicht erst, sich an Martas Rücken festzuhalten, sondern arbeitete sich weiter bis zur Schulter. Hier hielt sie schnaufend inne, saß auf Martas linker Schulter und atmete laut.
„Ich möchte … doch nur … etwas sehen!“, sagte sie kraftlos und sah sich um.

Der Ausblick war fantastisch.
Hatte Martas Nase vorher nur die Wiese erblickt, sah sie nun alles. Durch die Wiese schlängelte sich ein Pfad aus hellgrauem Kies, der sanft knirschte, wenn sich Füße darauf bewegten. Am Ende des Pfades gab es einen Spielplatz. Warm und weich schien der Sand dort zu sein, bunt und abenteuerlich die Klettergerüste. Dort wollte Marta hin, wusste Martas Nase plötzlich und spürte die Bewegung von Martas Körper unter ihr: Martas Schritte führten zum Spielplatz, wo Kinder tobten und Eltern sorgsam wachten, wo eine Schaukel quietschte und mittendrin ein kleiner, weißer Hund tollte.

Martas Nase saß auf Martas linker Schulter und freute sich. Hier konnte sie etwas sehen.
Und die Gerüche erst! Die Welt war voll von ihnen!
Jemand grillte im Park. Die Bäume trugen noch einen Rest Feuchtigkeit vom nächtlichen Regen und dufteten wundervoll. Ein Eismann ließ eine Glocke ertönen, Kinderscharen rannten vergnügt zu ihm hin, und fast schon konnte Martas Nase den Geruch von Erdbeereis in sich spüren.
„Hier bleibe ich!“, dachte Martas Nase vergnügt und ließ sich ein wenig durch die Gegend tragen.
Dann hörte sie den Pups. Augenblicke später roch sie ihn bereits.

„Iieh!“, rief Martas Nase. „Wer war das?“
Sie drehte sich nach rechts. Von dort war der Pups gekommen, so viel stand fest. Aber Martas Nase sah nur Martas Hals.
Irgendjemand lief dort, rechts neben Marta, doch Martas Nase konnte sich drehen und wenden, wie sie wollte: Immer sah sie nur Martas Hals.
„Ich möchte etwas sehen!“, beschloss Martas Nase und kletterte weiter nach oben, über Martas Kinn bis hin zu Martas Mund.

„Hallo.“, sagte der Mund, kaum hatte Martas Nase die Lippen berührt.
„Hallo.“, sagte Martas Nase freundlich.
Nasen waren freundliche Wesen, und Martas Nase war stets besonders freundlich gewesen.
„Ich möchte etwas sehen.“, erklärte Martas Nase dem Mund.
„Dann musst du ganz nach oben.“, sagte Martas Mund.
Martas Mund sagte immer schlaue Sachen, und auch diesmal klang er ziemlich klug.
„Also werde ich weiter nach oben laufen.“, sagte Martas Nase und verabschiedete sich. „Bis bald.“
„Bis bald.“ sagte der Mund und lächelte breit und liebevoll.

Marta lief weiter nach oben, wie es der Mund gesagt hatte. Sie lief über Martas Wangen, die sich manchmal wunderschön rot verfärbten, an Martas Augen vorbei, die ihr schelmisch zublinzelten, bis ganz nach oben auf Martas Kopf.
Hier konnte sie die ganze Welt sehen!
Der Himmel war groß und blau und wunderschön. Wolken zogen dahin und versuchten, verrückteste Formen zu bilden. Ein Haus mit zwölf Schornsteinen, ein Adler mit einem Nashornkopf, ein Fuß, der Löcher hatte wie ein Käse.
Martas Nase kicherte.
Unter ihr befand sich die Welt, unter ihr befand sich Marta, unter ihr befand sich die Wiese. Unter ihr war alles.

„Ha-Tschi!“, rief Martas Nase plötzlich.
Martas Haare hatten sie gekitzelt und lösten sogleich einen zweiten Nieser aus.
„Ha-Tschi!“
Martas Haare waren wunderschön. Schwarz waren sie, dufteten nach Mandelshampoo und wippten stets fröhlich auf und ab, sobald Marta sich bewegte.
Und sie mochten es, Nasen zu kitzeln. So viel stand fest.
Ein dritter Nieser kündigte sich an.

„Hier kann ich nicht bleiben.“, dachte Martas Nase und sah sich um.
Wo sollte sie hin? Sie war ganz oben, auf Martas Kopf, hatte den besten Blick der Welt. Wären Martas Kitzelhaare nicht, könnte es keinen besseren Ort für eine Nase geben.
„Komm zu uns!“
Martas Augen riefen fröhlich von unten zu ihr herauf.
„Komm zu uns, hübsche Nase!“

Martas Augen waren nett. Sie funkelten stets, vor Neugier, vor Begeisterung, vor Freude. Es schien, als würden Martas Augen immer lächeln.
Eigentlich wollte sie ihren neu gefundenen Patz nicht schon wieder aufgeben, aber noch immer fühlte sie sich, als müsste sie erneut niesen. Überall waren Haare, die sie kitzeln und krabbeln wollten.
Martas Nase seufzte leise und lief ein Stückchen nach unten. Hinab, über Martas Stirn bis hin zu Martas Augen.
Martas Augen blinzelten sie einladend an.
„Hallo, liebe Nase.“
Warmes, weiches Braun sah sie an, und sofort fühlte sich Martas Nase willkommen.
„Setz dich doch zwischen uns.“ sagte Martas rechtes Auge, und das linke ergänzte:
„Hier ist es hübsch.“

Martas Nase zögerte. Sie war weit gelaufen, vom grünen Gras zu Martas Füßen, über Martas linke Kniekehle zu Martas Po, über Martas Rücken zu Martas Schulter, über Martas Mund bis hin zu Martas Haar. Und nun war sie hier.
„Setz dich.“, sagten beide Augen und blinzelten wieder. „Setz dich doch.“
„Ich möchte etwas sehen.“, sagte Martas Nase.
Die Augen kicherten freundlich.
„Nasen sind immer so neugierig.“, sagte das linke Auge und das rechte bestätigte:
„Immer so neugierig.“
„Ich möchte etwas sehen.“, sagte Martas Nase erneut. Mehr fiel ihr nicht mehr ein.
„Hier kannst du alles sehen.“, sagten Martas Augen.

Martas Nase sah sich um.
Dort war der Spielplatz, sie konnte das Holz der Klettergerüste schon riechen. Ein kleiner Junge hatte seine Füße eingegraben und lachte laut. Die Schaukel war frei, und Martas Beine bewegten sich nun schneller. Die Schaukel näherte sich, doch eine allzu bekannte Stimme rief: „Marta! Vergiss dein Eis nicht!“

Martas Hände griffen nach dem Eis, das so wundervoll nach Erdbeeren roch, und plötzlich spielte die Schaukel keine Rolle mehr. Marta führte das Eis zur ihrem Mund, hielt es direkt unter ihre Nase.

„Hier kannst du alles riechen“, sagten Martas Augen, und Martas Nase seufzte vor Glück.

Ende.

Bahnsteig

Er wartete.
Musik tanzte durch seine Ohren, und seine Geduld war groß. Vielleicht hätte sie größer sein können, vielleicht war sie mittlerweile ein wenig geschrumpft, doch noch immer spürte er ihre Ruhe, die warm und sanft jede innere Aufregung verhüllte.
Sein Buch hatte er bereits ausgelesen. Es war ohnehin nicht sehr gut, doch nun war er fertig, und sein Kopf, seine Augen, brauchten eine neue Beschäftigung.
Sein Blick fiel auf die Digitalanzeige. Noch sechs Minuten.
Er atmete langsam ein und aus.

Vor zehn Minuten hatte die Anzeige behauptet, die U-Bahn würde in sieben Minuten eintreffen. Pro Minute zehn Minuten. In sechzig Minuten wäre sie hier. Zuzüglich 23 Minuten Fahrt und fünf Minuten Fußweg. Dann wäre es 16.19 Uhr, und er wäre immer noch in einem akzeptablen Maße pünktlich.
Er rechnete.
Wenn er nervös war, rechnete er. Die nüchterne Klarheit der Zahlen half ihm, ruhig zu bleiben. Besonnen zu bleiben. Sich keine Sorgen zu machen.
Er hatte noch immer Zeit, mochte es, früher anzukommen, pünktlich zu sein, meistens sogar mehr als pünktlich.
Warum bin ich nicht ein paar Minuten früher losgegangen?, ärgerte er sich. Er hatte die letzte U-Bahn noch abfahren gesehen, ihre roten Hecklichter, wie sie vom Tunnel verschluckt wurden. Hatte sich hingesetzt und auf die nächste Bahn gewartet.
Die längst da sein sollte. Die gleich kommen würde. In sechs Minuten. Oder sechzig.

Fünf.
Die Anzeige hatte gewechselt. Der Zehn-Minuten-Rhythmus war gebrochen. Er schöpfte neue Hoffnung. Die Bahn würde gleich kommen. Vielleicht schon in 12 oder 15 Minuten. Vielleicht sogar eher.
23 Minuten Fahrt, fünf Minuten Fußweg. Das Ziel lag nahe.
Die Musik in seinem Ohr war plötzlich viel zu laut. Er pegelte sie runter und fragte sich kurz, wieviele Lautsprecherdurchsagen er wohl verpasst hatte.
Egal.
Die Bahn war unterwegs, würde in fünf Minuten ankommen. Vielleicht auch in fünfzehn. Oder fünfzig.
Bald.

Er wartete.
Der Bahnsteig war leer, merkte er jetzt. Niemand war hier, um mit ihm zu warten. Um die fünf Minuten auszuharren, einzusteigen und irgendeinem festgelegten Ziel entgegengetragen zu werden. Niemand. Dabei waren es nur noch fünf Minuten.

Vier.
Vier!
Er konnte sein Glück kaum fassen. Zwischen den letzten beiden Änderungen der Anzeige hatte jeweils nur eine Minute gelegen.
Die Bahn war zu spät, das war klar, viel zu spät. Aber jetzt würde sie kommen, konnte jeden Moment eintreffen, hatte ihren alten Schwung, ihren alten Rhythmus, wiedergefunden und näherte sich.

Die Anzeige fiel aus.
Plötzlich war alles schwarz. Kein Ziel war zu erkennen, keine U-Bahn-Nummer, keine Minutenzahl. Noch nicht einmal die unnötige Warnung vor Glatteis an den Bahnsteigen erschien noch. Er hatte sie bereits zwölf Mal gelesen, und war ein bisschen froh darüber, dass ihm ein weiteres Mal erspart blieb.
Er stand auf. Sah auf seine Uhr. Sah auf den beleuchteten Schaukasten, hinter dessen Scheibe der papierne Fahrplan klebte.
Er nützte nichts, das wusste er. Doch es half zu wissen, dass die Bahn hätte längst hier sein müssen. Dass sie gleich kam. In vier Minuten. Oder mittlerweile vielleicht sogar drei.
Drei Minuten, 23 Minuten Fahrt, fünf Minuten Fußweg. Alles war in bester Ordnung.
Und notfalls gab es noch die nächste Bahn.
Die natürlich auch längst hier sein sollte.
Die ebenfalls Verspätung hatte.
Die noch kommen würde.
Die sicherlich ebenfalls noch kommen würde.

Es rauschte im Tunnel.
Die Bahn kam!
Wie gebannt starrte er in das undurchdringliche Schwarz, in dem jeden Augenblick zwei grelle Lichtpunkte erscheinen würden. Die Haltestelle lag hinter einer Kurve, und er wusste, dass er erst wenige Momente vor der Ankunft der Bahn überhaupt fähig wäre, irgendwas zu sehen. Doch er schaute. Und wartete.
Das Rauschen wurde stärker. Die Lampen am Bahnsteig flackerten kurz, einmal, zweimal, fingen sich wieder.
Er vermisste die Lautsprecheransage, vermisste ihren Hinweis, vom Bahnsteig zurückzubleiben und die Aussteigenden zuerst passieren zu lassen. Doch vielleicht hatte er sie überhört, unter den sanft in seinen Ohren dahindudelnden Klängen begraben.

Da! Die Lichter!
Die Bahn kam, hielt, wie sie immer hielt, undramatisch, ohne quietschende Bremsen, ohne Lärm und Radau, öffnete ihre metallenen Pforten und ließ ihre Kurzzeitbewohner aus- und einsteigen.
Alles war gut.
Niemand stieg aus. Er wartete einen Augenblick, sah sich um, doch niemand stieg aus.
Die Bahn war leer.
Zögerlich musterte er den monströsen Schlauch, der die U-Bahn war.
„U1 – Friedrichsplatz“.
Richtige Bahn, richtiger Endbahnhof.
Alles war gut.

Er stieg ein. Setzte sich.
Er mochte es, am Fenster zu sitzen, selbst wenn die meisten Leute das in einer unterirdisch fahrenden Bahn für unnötig hielten. Doch dort draußen gab es nicht nur Finsternis. Dort wanden sich Kabel und Schläuche, flimmerten Notfallbeleuchtungen und warteten stählerne Hebel auf Benutzung. Dort draußen in den Tunneln verbarg sich eine fremde Welt.
Die Türen schlossen sich. Piepsten zwei Mal, dann schlossen sie sich.
So wie sie es immer taten.

Dann sah er den Mann.
Er kam von ganz vorne, hatte die U-Bahn verlassen und eilte nun schnellen Schrittes zur Treppe. Nach draußen.
Der Fahrer!, dachte er verdutzt. Das ist doch der U-Bahn-Fahrer!
Deutlich war seine Uniform zu erkennen, deutlich seine Aktentasche, aus der sogar ein paar Papiere herausragten, als hätte er sie hastig gepackt.
Hey!, rief er und klopfte gegen die Scheibe.
Das ist doch die U1 zum Friedrichsplatz, oder?, rief er, doch der Bahnfahrer war bereits verschwunden.

Er blickte auf seine Uhr.
23 Minuten Fahrt, 5 Minuten Fußweg.
Würde die Bahn jetzt losfahren, wäre alles perfekt. Er wäre nicht zu früh, nicht zu spät, sondern käme genau zum richtigen Zeitpunkt an.
Der Motor lief noch. Er mochte das leichte Vibrieren der Sitze, der Wände, der Fenster.
Die Türen waren zu, der Motor lief, alles war gut.
Nur der Fahrer fehlte.
Wahrscheinlich kommt gleich der nächste, dachte er.
Dann ging das Licht aus.

Von draußen dämmerte Bahnsteigbeleuchtung matt durch die Scheiben, erhellte ein wenig das Innere der Bahn. Doch nicht genug. Überall waren Schatten. Überall war Dunkel. Und der Tunnel wartete begierig darauf, das metallene Gefährt zu verschlingen.
Er zuckte mit den Schultern. Er brauchte kein Licht. Sein Buch hatte er fertig gelesen, war ohnehin nicht sehr gut.
Er drehte die Musik wieder lauter.
Wartete.
23 Minuten Fahrt. Fünf Minuten Fußweg.
Er brauchte nur noch ein wenig Geduld. Bis der Fahrer zurückkam. Bis die Bahn losfuhr.
Und Geduld hatte er. Viel Geduld.

Er schaute noch einmal auf die Uhr.
Alles war gut. Er würde pünktlich sein.

Die Bahn fuhr los.

Gelbe Elefanten

Eines Tages hatten die beiden gelben Elefanten keine Lust mehr, gelb zu sein. Das passierte gelben Elefanten relativ selten, aber nun war es geschehen, und die Elefanten konnten es auch nicht mehr ändern.

„Ich möchte nicht länger gelb sein.“, sagte Claus, der gelbere der beiden Elefanten.
„Ich auch nicht.“, sagte Mupf und war ein bisschen froh, nicht so gelb wie Claus zu sein.

„Wir könnten uns betrinken.“, sagte Claus nachdenklich. „Dann wären wir blau.“ Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, blau wollte er auch nicht sein.
„Wir könnten uns ärgern!“, sagte Mupf und hüpfte vergnügt in die Höhe, wie er es immer tat, wenn er eine Idee hatte. „Dann wären wir rot!“
Claus schüttelte seinen schweren, gelben Elefantenkopf. „Wir sind zu fröhlich, um uns zu ärgern.“ Mupf nickte.
Die beiden setzten sich hin und seufzten. Ganz kurz nur, denn eigentlich waren sie viel zu fröhlich um zu seufzen.

„Ich habe eine Idee!“, sagte Claus plötzlich und trompetete fröhlich ein kleines gelbes Lied. „Wir rufen einen Maler an! Er soll uns streichen!“
Jetzt war Mupf an der Reihe, seinen schweren, nicht ganz so gelben Elefantenkopf zu schütteln. „Das geht nicht.“
Claus horchte auf. „Warum denn nicht?“
„Weil er uns nicht finden wird!“, erklärte Mupf. Sein Rüssel schaukelte ganz erregt.
„Wir befinden uns hier mitten im Dschungel. Zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen! Niemals wird er uns hier finden!“

Claus nickte. Mupf hatte recht. Sie befanden sich wirklich mitten im Dschungel. Zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen. Dort lebten gelbe Elefanten nunmal.
Der Maler würde sie niemals finden.

Die beiden setzten sich erneut hin und seufzten. Ganz kurz nur, denn noch immer waren sie viel zu fröhlich um zu seufzen.

„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden.“, sagte Claus nach einer Weile leise.
Mupf horchte auf. Das klang so, als hätte Claus einen schlauen Gedanken gehabt. Claus dachte viel; sein schwerer, gelber Elefantenkopf war immer voller Ideen und Gedanken.
„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden.“, sagte Claus ein zweites Mal, diesmal ein bisschen lauter.
„Wieso?“, fragte Mupf nun, neugierig geworden.
„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden!“, rief Claus nun und trompetete so laut, dass die Bäume und Büsche vor Vergnügen raschelten.
„Dann könnte uns der Maler finden. Dann würden wir leuchten. Zwischen all dem Grün der Bäume und Pflanzen und Büsche und Blätter und noch mehr Bäume würden wir leuchten, und der Maler würde uns leuchten sehen.“ Claus grinste. „Und er würde uns finden!“
„Tolle Idee!“, rief Mupf verblüfft und blickte seinen gelben Freund begeistert an. „Vor allem, weil wir schon gelb sind!“
„Was?“, fragte Claus, wie aus tiefsten Gedanken gerissen.
„Weil wir schon gelb sind! Weil wir längst zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen hindurchleuchten!“, rief Mupf begeistert. „Jeder kann uns finden!“

Claus dachte kurz nach und nickte dann. „Jeder kann uns finden.“, sagte er, kratzte sich mit seinem Rüssel am Kopf und nickte. „Jeder kann uns finden.“
Er senkte den schweren, gelben Elefantenkopf ein wenig und blickte Mupf tief in seine Elefantenaugen.
Atmete ein. Atmete aus.
„Vielleicht wäre es gut, gelb zu bleiben.“, sagte er dann, lächelte von einem Stoßzahn zum anderen und begann dann, laut zu lachen.
„Tolle Idee!“, rief Mupf verblüfft und lachte ebenfalls.

Das Lachen gelber Elefanten ist besonders fröhlich, und so war es kein Wunder, dass der gesamte Dschungel, die vielen Bäume und Pflanzen und Büsche und Blätter und noch mehr Bäume, noch eine ganze Weile vor Gelächter wackelte und wankte.

Hellblau

Ich hob den Kopf, und hellstem Blau galt mein Blick. Frei von Wolken war der Himmel, frei von Denken mein Geist, und ich starrte nach draußen, nach oben, ins Blau, als gäbe es dort irgendetwas, das mich fesseln, faszinieren, würde.

Und plötzlich gab es das. Ein Funkeln, ein Glänzen, ein Stern, ein Komet, zog seine Bahn quer durch das Blau, von rechts nach links, malte einen mattweißen Strich in das Unberührte, in das Unberührbare, verbarg sich kurz hinter dem Fensterrahmen und tauchte dann wieder auf, um einen Moment noch weiterzufunkeln, Stern zu sein, und sich dann in ein Flugzeug zu verwandeln, dessen weiße Hülle nicht länger das Sonnenlicht reflektierte.

Ich starrte dem Flieger hinterher, sah ihn hinter dem Vorhang verschwinden und überlegte, wer dort oben wohl wohin reiste, wer von dannen flog. Und für einen Moment war ich in der Luft, flog ebenfalls, flog davon, durch das helle Blau, sonnenbeschienen in die Ferne.

Eine dicke Fliege prallte gegen die Scheibe. Wieder und wieder stürmte sie dem blauen Himmel entgegen, dessen helle Weite uns so verlockend schien, und wieder und wieder stieß sie gegen schmutziges Glas, gegen unsichtbare Mauern, die uns hier hielten, hier drinnen, im Inneren, fernab vom Oben, fernab vom Fernen.

„Das bedeutet etwas.“, dachte ich und arbeitete weiter.

Anderthalb

Die beiden Elefanten, die eigentlich nach Hause gehen wollten, entschlossen sich spontan, noch irgendwo anderthalb Bananen zu besorgen. Leider gab es nirgends halbe Bananen.

Frustriert setzten die beiden sich nach langer Suche in ein Café und bestellten Eis.
„Wie wär’s mit einem Bananensplit?“, fragte die freundliche Kellnerin.
„Oh ja.“, riefen beide Elefanten erfreut, denn die Lust auf Bananen war ihnen noch immer nicht vergangen.

Als dann das Eis auf ihrem Tisch stand, rechneten sie die Bananenstücke zusammen.
Erstaunlicherweise ergaben alle Stücke, wenn man sie wieder zusammenbaute und sogar die hervorkramte, die tief unter Schokoeis verborgen waren, exakt anderthalb Bananen.
Die freundliche Kellnerin, die die Elefanten beobachtet hatte, entschuldigte sich zähneknrischend: „Wir hatten nur noch zwei Bananen. Und eine davon war schon etwas weich, so dass wir nur die Hälfte nehmen konnten.“

Doch die Elefanten hörten sie gar nicht mehr. Sie hüpften und tanzten und jubelten, hoben die freundliche Kellnerin hoch und trompeteten, dass die Wände des Cafés wackelten.
Dies war eindeutig ein schöner Tag.

Flucht

Alles in mir strebte nach Flucht. Ich wollte fliehen, wegrennen, wollte alles Hiesige hinter mir lassen. Doch ich weigerte mich.
‚Diesmal nicht!‘, dachte ich störrisch. ‚Diesmal werde ich nicht nachgeben. Diesmal werde ich ausharren.‘ Ich schob die Unterlippe vor und verschränkte die Arme. ‚Diesmal bleibe ich.‘
Mein Herz jedoch sprach eine andere Sprache. Wild geworden pumpte es in meiner Brust, schwellte mir die Adern. Meine Muskeln waren angespannt, bereit zum Lauf, bereit zur Flucht. Meine Backenzähne rieben sich knirschend aneinander. Ich wollte hier weg.
Doch ich blieb.
Zu oft war ich geflohen, hatte mich den Umständen gebeugt, hatte innere Stärke gesucht und nicht gefunden, hatte mich heimlich aus dem Jetzt entfernt, um irgendwann in einem anderen wieder aufzutauchen. Viel zu oft war ich gerannt, viel zu oft hatte ich die Welt hinter mir gelassen, hatte allen Sorgen den Rücken zugekehrt und war geflohen, irgendwohin, wo ich einen Moment lang Ruhe und Einkehr finden konnte.
Doch diesmal nicht.
Viel zu oft hatte ich die Augen verschlossen, hatte verdrängt, was mich belastete, hatte mich klammheimlich aus meinen Sorgen gestohlen, war geflohen, wenn ich in innerem Chaos zu versinken drohte.
Doch diesmal nicht.
Ich würde bleiben, mich den Problemen stellen, die in vielfacher Form auf mich zukamen, deren wildes Äußeres selbst den Mutigsten vertrieben hätte. Ich würde bleiben. Hier. Jetzt. Mit beiden Füßen innehalten. Mich allem stellen, was kommen würde. Egal, was es kostete.
Mein Puls raste. Schweißperlen glitzerten auf meiner Stirn. Meine Zehenspitzen zeigten in die Ferne, und sehnsüchtig folgten ihnen meine Blicke.
Doch ich blieb. Verharrte. Würde nicht länger fliehen. Nicht länger aufgeben.
Ich blieb.
Binnen weniger Sekundenbruchteile hatten mich die Wölfe eingeholt. Plötzlich schien der ganze Wald nur aus grauen Leibern zu bestehen.
Doch ich floh nicht.
Blieb.
Die Welt wurde zu Krallen und Zähnen.

Dose

Bereits als Kind wusste ich, dass aus mir eines Tages etwas Großes werden würde. Deswegen ging ich jeden Tag einkaufen. Ich kaufte nicht viel, mal ein Brötchen, mal gar nichts, und manchmal brachte ich sogar etwas zurück.
Es war an einem Donnerstag, als ich die Dose Bohnen zum Supermarkt zurückbrachte. Ich hatte sie am selben Tag gekauft, geöffnet, geleert und dann auf das Etikett geschaut. Das Verfallsdatum war 23 Jahre überschritten. Sofort begann mein Magen zu rumoren.
Der Weg zum Supermarkt war nicht weit. Sobald ich bei meinen Eltern ausgezogen war, hatte ich dafür gesorgt, unweit des Supermarktes zu wohnen. Herr Wadensumpf, der Inhaber, kannte mich gut, und bis zu der Sache mit seinem Hund hat er mich auf regelmäßig zum Grillen eingeladen. Ich mochte ihn nicht, doch ich mochte seinen Laden.
Ich lief zum Supermarkt. Meine Beine fühlten sich komisch an, meine Arme fühlten sich komisch an, und es sah aus, als würde sich der graue Asphaltboden mit jedem Schritt weiter von mir entfernen.
„Guten Morgen.“, grüßte ich Herrn Wadensumpf und winkte mit der leeren Bohnendose. Wenn ich mit Gegenständen winkte, wusste Herr Wadensumpf stets, dass eine Reklamation bevorstand, und sein ohnehin mürrisches Gesicht verzog sich noch ein wenig mehr.
Herr Wadensumpf wirkte kleiner als sonst, und zum ersten Mal bemerkte ich, dass ihm die Haare ausgingen. Und dass er mit jeder vergehenden Sekunde zu schrumpfen schien.
Ich reichte ihm die Dose. „Das Verfallsdatum ist 23 Jahre überschritten.“, sagte ich, und meine Stimme klang ungewohnt tief.
Herr Wadensumpf betrachtete das Etikett. Dann betrachtete er mich. Dann noch einmal das Etikett.
„Das kann nicht sein!“, rief er und fuchtelte mit den Armen. Er war wirklich sehr klein.
„Das hast du manipuliert!“, rief er. Wütend warf er mir die leere Dose an das Knie. Höher konnte er offensichtlich nicht werfen.
„Ich werde diese Dose nicht umtauschen!“, rief Herr Wadensumpf schließlich und stürmte zu seinem Laden zurück.
„Aber…“, begann ich und machte einen Schritt vorwärts. Es knirschte kurz unter meinem Fuß.

Die Wirkung der Bohnen ließ ein paar Stunden später nach. Der Richter sprach mich frei, und der Supermarkt brauchte einen neuen Besitzer. Freudestrahlend begann ich meinen neuen Job.
Vor der Ladentür würde noch lange ein dunkler Fleck an Herrn Wadensumpf erinnern, und immer wieder würde ich den Kunden die Geschichte der mysteriösen Dose Bohnen erzählen. Und jedesmal würde ich lächeln, weil es etwas gab, das nur ich wusste:
Tief im Keller wartete eine große Kiste voller Dosen darauf, 23 Jahre alt zu werden.

Knusel war kein gewöhnliches Meerschweinchen. Knusel war ein Meerschweinchen mit modischem Kurzhaarschnitt.
Außerdem mochte er alkoholische Getränke. Selbstverständlich trank Knusel sie nicht; schließlich war er noch immer ein Meerschweinchen. Aber er liebte es, wie sich das Licht in Rotwein brach, er liebte das Anis-Aroma von Ouzo, und vor allem liebte er das Spiel der Perlen in frisch gezapftem Bier. Insbesondere, wenn das Bier auf einem hölzernen Tresen stand.
„So ein Barbier.“, sagte er oft zu seiner Freundin Robert. „So ein Barbier ist schon etwas Tolles.“
Robert kicherte dann immer leise und blickte auf Knusels modischen Kurzhaarschnitt.