Projekt*.txt zauberte ein zweites Wort aus dem Zylinder und war somit Inspiration für die nun folgende Geschichte.
Das Wort heißt „unendlich“, und es nur konsequent, dass die Geschichte nicht nur ziemlich lang geworden ist, sondern – soviel sei bereits verraten – dass auch ihr Ende recht offen bleibt…
Frühlingsfest
11.02.2018
Das Mühlenberger Frühlingsfest galt als kleine Sensation.
Die Älteren behaupteten steif und fest, dass einst sogar Frank Sinatra hier aufgetreten war. Es gab keine Fotos, die das beweisen konnten, doch ich war bereit, es zu glauben. Auf dem Frühlingsfest konnte alles passieren. Das Frühlingsfest war magisch.
Jedes Jahr am ersten Wochenende im Mai füllte sich der Stadtpark innerhalb weniger Tage mit kleinen, farbenfrohen Ständen, mit fröhlichen Flaggen und Wimpeln, mit Luftballons und handgemalten Wegweisern. Allein die Vorbereitungen waren eine kleine Feier. All das Wimmeln und Werkeln, all die Vorfreude.
Und dann, am Freitag Nachmittag, wenn der Bürgermeister mit übergroßer Schere und übergroßem Lächeln ein rotes Band durchtrennt hatte, strömten die Mühlenberger auf die Große Wiese, tummelten sich zwischen den Ständen, kauften, aßen, lachten, trafen sich, mieden sich, zogen sich zwischen die Bäume und auf das frische Gras zurück, nur um sich Momente später für eine weitere leckere Kleinigkeit, einen weiteren neugierigen Blick, erneut in die pulsierende Menge zu werfen.
Das Frühlingsfest war ein Ort der Begegnung. Verwandte aus anderen Städten wurden eingeladen, Weggezogene kehrten heim, aus den Nachbarorten kamen Bekannte und Freunde. Selbst ein paar Neugierige aus Ulmenhain und Martinshausen nutzten das milde Wetter für einen Abstecher auf’s Land.
“Frank Sinatra war ja leider verhindert.”, scherzte Frau Ginz, als die beste und einzige Band Mühenbergs begleitet von freundlichem Applaus die Bühne verließ. Ihre weißhaarigen Freundinnen lachten. Die Bandmitglieder änderten sich, doch der Scherz war in jedem Jahr der gleiche.
Die Bühne blieb nicht lange leer. Ein blauer Mantel betrat die Bühne, bestickt mit gelben Sternen. Über ihm ein riesiger Spitzhut in gleichem Design. Und dazwischen: Das Gesicht eines jungen Mannes, 17 Jahre vielleicht, unsichere Blicke über die vergnügte Menge werfend.
Seine Lippen, eben noch zusammengepresst, öffneten sich: “Abrakadabra!” Seine erstaunlich volle Stimme glitt über die Große Wiese, und unzählige Köpfe drehten sich neugierig zu ihm hin.
“Ein Zauberer!”, flüsterte Lila neben mir fasziniert und stellte sich auf die Zehenspitzen. “Ein Zauberer, Mami!”, rief sie und zerrte begeistert an meinem Arm.
Ich mochte Zauberer, liebte die kleinen und großen Tricks, mochte es, auf freundliche Weise an der Nase herumgeführt zu werden. Und ich gruselte mich vor ihnen, vielleicht, weil sie mir zeigten, wie leicht ich getäuscht werden konnte, wie fragil alles war, was ich für sicher hielt.
Lila liebte Zauberer über alles! Sie war ganz vernarrt in die Idee, selber eine Zauberin werden zu wollen, hatte sämtliche Bände von Harry Potter gelesen, obwohl es ihr Vater nicht erlaubt hatte. Ich hatte es gestattet, hatte mit ihr an regnerischen Nachmittagen im Wohnzimmer gesessen und alle Filme gesehen, auch die düsteren. Meine Tochter liebte Magie.
Der Zauberer lächelte, bewegte umständlich die Hände und hielt plötzlich einen Zauberstab in den Fingern. “Ah!”, raunte die Menge. Ich grinste. Lila zerrte an meinem Arm und zog mich durch die Menschenmasse nach vorn. Zur Bühne.
Aus der Nähe sah der Zauberer noch jünger aus. Wie ein Schulkind, das gerade seine neuesten Übungen aus dem Zauberkasten präsentierte.
Entsprechend simpel waren seine ersten Tricks. Er verwandelte den Zauberstab in eine Rose und zurück. Er griff einen Löffel aus der leeren Luft, zerkrümelte ihn zu Sand und ließ diesen dann verschwinden. Und natürlich zog er ein Kaninchen aus seinem übergroßen Spitzhut. Das Kaninchen entpuppte sich allerdings als Frau Leutners übergewichtige Katze Puschel, und zum ersten Mal hatte ich Zweifel an meinem Zweifel.
Meine Tochter hingegen war begeistert. Jeder Geste, jedem Schritt, folgte sie aufmerksam, jeder Trick wurde mit Klatschen und Jubel belohnt. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund stand weit offen.
Und so war es nicht verwunderlich, dass der namenlose Zauberer, ohne ein einziges richtiges Wort gesprochen zu haben, die Bühne verließ und zu uns kam. Er schaute mich kurz an, als holte er sich meine Erlaubnis, und ich nickte. Dann griff er Lila ans Ohr und zauberte eine schwere, glänzende Goldmünze dahinter hervor. Eine weitere zog er ihr aus der Nase.
“Iih!”, rief er angewidert, denn ein dicker Batzen blassgrünen Schleims klebte an der Münze. Theatralisch versuchte er, ihn abzuschütteln. Seine Schauspielleistung war mittelmäßig, doch die Kinder johlten angesichts des Schleims, den der Zauberer tollpatschig zu langen Fäden zog. Je mehr er ihn abzuwischen versuchte, desto mehr Schleim schien es zu geben.
“Hast du ein Taschentuch?”, fragte er meine Tochter mit flehendem Blick. Lila schüttelte den Kopf, doch ich hatte die Frage schon erwartet, hielt ihm mein Taschentuch entgegen. Kein Papiertuch, das man nach der Benutzung einfach wegwarf, sondern ein richtiges Taschentuch aus Baumwolle, eines, das sich bereits seit meiner Kindheit in meinem Besitz befand, das ich wusch und bügelte, das ich mit mir herumtrug, ohne es jemals zu benutzen. Schließlich waren Papiertaschentücher einfach praktischer.
Der Zauberer nahm das Tuch, ohne mich anzuschauen, grinste Lila an und wischte sich in übertriebenen Gesten die Hände und schließlich sogar die Münze ab. Wie durch Magie war sämtlicher Schleim verschwunden. Triumphierend hielt der Zauberer die glänzende Münze in die Luft. Beifall ertönte.
Der Zauberer verneigte sich lächelnd und stopfte das Taschentuch in seinen Ärmel. MEIN Taschentuch! Ich wollte etwas sagen, doch Lila hatte aufgepasst und sprang nach vorn.
“Ey!”, rief sie. “Das ist nicht dein Taschentuch!”
Das Publikum lachte. Der Zauberer versuchte, verdutzt auszusehen, doch wirkte nur traurig.
Er zuckte mit den Schultern und griff in den Ärmel seines Mantels, kramte ein wenig und zog schließlich das Taschentuch heraus. Mit freundlichem Lächeln trat er zu meiner Tochter.
Doch Lila wäre nicht Lila, wenn sie nicht aufmerksam gewesen wäre.
“Das ist das falsche!”, rief sie empört. Und tatsächlich: Statt gelber Blüten zierten das Taschentuch blaue Streifen.
“Oh!”, schauspielerte der Zauberer. Dann zog er am blaugestreiften Tuch und förderte ein weiteres zutage. Ein fester Knoten verband die beiden Tücher, und der altbekannte Tücher-aus-Ärmel-Trick begann. Ich seufzte lautlos und wartete ab.
Der Zauberer zog und zog. Zauberte Tuch für Tuch aus dem Ärmel, ein jedes kunstvoll mit seinem Vorgänger verknotet. Jedes der Taschentücher sah anders aus. Und keins davon war meines.
Geduldig stand Lila vor ihm, beäugte jedes Tuch und schüttelte mit dem Kopf. Wieder und wieder.
Vor dem Zauberer bildete sich ein Berg aus Stoff, eine lange Reihe aus Tüchern, die stetig weiterwuchs. Der Zauberer zog und zog.
“Ist gut jetzt!”, rief jemand hinter mir. Herr Schumann vielleicht.
“Irgendwo hier muss es doch sein!”, rief der Zauberer ins Publikum und grinste schief. Er zog weiter.
Der Tücherberg wuchs. Der Zauberer stieg hinauf, holte Taschentuch für Taschentuch aus seinem Ärmel, Knoten für Knoten.
Da, ein Blütentaschentuch! Ich atmetete auf, doch Lila schüttelte den Kopf. Es war das falsche.
Der Zauberer zog weiter. Stieg weiter empor. Weitere Taschentücher folgten. In allen Farben, mit allen Mustern. Ohne Muster. Aus Baumwolle, aus Seide. Kariert, gepunktet, gelb, blau, weiß. Alles.
Die ersten Gäste gingen. Der Zauberer wirkte verzweifelt.
“Irgendwo hier muss es doch sein!”, schnaufte er. Seine Wangen hatten sich vor Anstrengung rot gefärbt. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob er noch immer schauspielerte.
“Irgendwo hier!”.
Er zog weiter. Zog und zog.
Tuch. Knoten. Tuch. Knoten.
“Buuh!”, schrie jemand, vielleicht wieder Herr Schumann. Doch der Zauber hörte es nicht, zog weiter, ließ mehr und mehr Wiesengrün unter farbigen Stoffen verschwinden.
“Ist doch egal!”, sagte ich schließlich. Der schrille Klang meiner Stimme überraschte mich. “Behalt doch das blöde Tuch!”, rief ich. Hör endlich auf!, rief ich nicht.
Der Zauberer schüttelte nur den Kopf und zog weiter.
“Komm, wir gehen!”, sagte ich zu Lila, doch sie schaute nur gebannt auf die Tücher, die nach und nach zum Vorschein kamen.
Ich griff nach der Tücherkette, zerrte an ihr, wollte, dass es schneller ging, dass es endlich vorüber war. Doch es endete nicht.
Farben und Stoffe flogen vorbei. Die Taschentücher waren längst egal geworden. Es sollte nur noch enden.
Bei einem besonders dünnen Taschentuch hielt ich inne. Zerrte daran. Wollte es zerreißen. Wollte die endlose Kette unterbrechen.
“Nicht das!”, rief Frau Ginz. “Das ist mein Taschentuch!”
Ich seufzte. Griff ein anderes Tuch. Riss erneut.
“Halt!”, rief jemand. Felix. Der Sohn der Wilhelmsens. “Das ist meins!”
Das Taschentuch war mit kunterbunten Ballons bedruckt und sah aus, als hätte Felix schon oft darauf herumgekaut.
Ohne zu zögern griff ich das nächste Taschentuch. Wahllos.
Dieses war weiß. Mit gelben Blumen.
Meins!
“Hier ist es!”, rief ich erleichtert. “Hier ist mein Taschentuch!”
Ich wollte es hochhalten, wollte es allen zeigen, wollte zeigen, dass der Alptraum ein Ende hatte, dass wir endlich nach Hause gehen konnten. Dann entglitt es mir.
“Mist!”, fluchte ich und griff in den Tücherberg zu meinen Füßen.
Wie besessen begann ich zu suchen, doch ich fand es nicht. Fand Hunderte Tücher, doch nicht meins. Frau Ginz half mir, andere halfen mir. Selbst Felix hatte sich hingekniet um zu helfen.
Doch wir fanden es nicht.
“Egal!”, rief ich und begann, wieder an irgendeinem Taschentuch zu reißen, zu zerren. Diesmal erntete ich keine Proteste.
Doch ich schaffte es nicht.
Herr Schumann kam herbei, zog von der anderen Seite.
Doch auch gemeinsam schafften wir es nicht. Das Taschentuch schien unzerstörbar zu sein.
Ein anderes!
Wir zogen und zerrten, rissen und rupften, doch keines der Taschentücher gab nach oder zeigte nur einen schmalen Riss.
Wer noch geblieben war, riss nun an Taschentüchern. Alle machten mit.
Die Taschentücher waren gnadenlos.
“Knoten!”, rief Herr Schumann, und wir widmeten uns den Knoten, friemelten an ihnen herum, versuchten, sie zu lockern. Ich hatte noch nie so kunstvolle, so feste, so unnachgiebige Knoten gesehen.
Wir rissen und kauten, zerbrachen unsere Fingernägel, doch gewannen keinen Millimeter. Kamen nicht voran.
Das konnte doch gar nicht sein! All das konnte doch überhaupt nicht sein!
Ich blickte auf. Der Zauberer war verschwunden.
Lila war verschwunden!
“Lila!”, rief ich und ließ die Kette aus Tüchern fallen.
“Lila!”, rief ich, stapfte durch unzähliche Taschentücher, umrundete den Berg aus Stoff, der vor mir lag, stieg auf einen weiteren bunten Hügel.
“Lila!”
Sie war weg, spurlos verschwunden, antwortete nicht!
Panisch rannte ich zur Bühne, sah mich um. Links, rechts, überall.
Der Zauberer war verschwunden. Lila war verschwunden.
Überall lagen Taschentücher, kunstvoll miteinander verknotet. Sie bedeckten den gesamten Boden, das Gras. Eine endlose Kette aus Stoffen, Mustern und Farben. Und mittendrin eine Handvoll Leute, die noch immer versuchten, die Tücher zu zerreißen, zu entknoten.
Doch nirgends war Lila. Nirgends war der Zauberer.
“Lila!”, rief ich erneut, kreischte. “Lila!”
Ich kletterte auf die Bühne.
“Lila!”
Meine Stimme brach.
“Lila!”
Andere nahmen meine Rufe auf.
Keine Antwort.
Lila!
Weg!
Tränen verdeckten meine Sicht. Ich wischte sie ab, sah mich weiter um.
Weitere Tränen.
Ich griff ein Taschentuch vom Boden und wischte erneut.
Hielt das Taschentuch in der zitternden Hand und sah mich um.
Der Zauberer war verschwunden, doch hatte eine Spur hinterlassen.
Ich lief los und folgte der Kette aus Tüchern.
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Meine bisherigen Werke für Projekt*.txt:
Das Meer