Arbeiten in Deutschland

Eigentlich ist es erstaunlich, wohin das Arbeiten in Deutschland gekommen ist. Anstatt untertage in kinderhohen, lichtlosen Schächten zwölf Stunden lang unter extremer Luftverknappung nach Millionen Jahre alten Pflanzenresten zu buddeln, sitzen wir bequem am eigenen Bürorechner, spielen im klimaanlagenbelüfteten Räumen an ergonomisch eingerichteten Plätzen Nonsensspiele, gehen ins Internet, wo wir Weblogs lesen und Podcasts hören und jede andere Möglichkeit, die Zeit zu vertreiben, gierig aufsaugen.

Ich enthalte mich natürlich solch dubioser Arbeitgeberausbeutungen. Schließlich bin ich Student, arbeite nicht und habe genug Zeit, jeden Tag so viel zu surfen, wie ich will. Mein Büro ist zu Hause und wenig ergonomisch eingerichtet. Auch beschränkt sich die Klimaanlage auf Fenster und Heizung. Letztere wird allerdings nach Mitternacht abgestellt, was nicht immer erfreulich ist. Leider konnte ich nicht herausfinden, wann sie wieder angestellt wird, da ich um diese Zeit vermutlich weder wach noch fähig bin, irgendetwas zu realisieren, was nicht bettartig aussieht.

Natürlich werde ich nicht bezahlt, noch nicht einmal vom Bafög-Amt, das noch immer auf meine versprochenen, ausgefüllten Anträge wartet. Ich bin aber auch ein Idiot.

Geld brauche ich trotzdem. Die Flatrate will ja irgendwie bezahlt werden. Und ab und zu Nahrung aufzunehmen, kann auch nützlich sein. Also arbeite ich. Naja, nicht wirklich. Denn wenn ich arbeite, mutiere ich zu einem von diesen ewigen Eigentlich-Typen.
„Ich mache das hier ja nur nebenbei. Eigentlich bin ich Student/Künstler/wasBesseres…“

Ich arbeite im Supermarkt und sortiere Wurst ein. Lecker. Ich vermute, ich habe noch nicht erwähnt, daß ich Wurst – abgesehen von magerem Schinken und diversen Salamisorten – verabscheue. In „meinem“ Regal gibt es eine Buäx-Ecke, angefüllt mit Dingen, die ekliger sind als das, was ich heute – bereits gärwarm und fruchtfliegenüberwuchert – in den Biomüll warf. Die Ecke umfaßt übrigens mindestens ein Drittel des gesamten Wurstbereiches.

Oder ich arbeite in einer Firma, die für das Land Sachsen-Anhalt Verkehrserhebungen durchführt und Studenten in Busse stopft, auf daß sie die Ein- und Aussteigenden, die Kinderwagen und Rollstühle [zuzüglich ihrer Benutzer], die Hunde [nicht, wenn sie in Korb oder Tasche verstaut sind] und Busfahrer [nur in der Straßenbahn] zählen und mit albernen Fragen über Wegziel und Fahrtbeginn beglücken mögen. Daß mir früher bei längeren Busfahrten immer schlecht wurde, hatte ich verdrängt/vergessen. Allerdings ging es mir am ersten Arbeitstag nach etwa zwei Stunden befragender Busfahrt wieder durch den Kopf – zusammen mit dem Frühstück und etwa zehn Litern Magensäure. Glücklicherweise außerhalb des Busses. Eine weitere Tapferkeitsstunde später erlöste ich mich und brauchte zwei Tage, um mich wieder so ähnlich zu fühlen wie ich selbst.

Derzeit arbeite ich als Hörbuchhörer. Eigentlich als Hörbuchkorrekturhörer. Aber das Wort ist so lang, daß es sich niemand richtig durchliest. Deswegen beschränke ich mich zumeist auf die erste Variante. Klingt auch besser. Bisher arbeitete ich nur einmal, dafür aber fünf Stunden hintereinander. Das ist viel für jemanden, der sich beim heimischen Arbeiten gerne mal ein Päuschen gönnt, sobald das befriedigende Ich-habe-was-geschafft-Gefühl sich blicken läßt – also zuweilen auch schon nach zehn Minuten.

Ich hatte fünf Stunden lang nichts anderes zu tun, als einem alten Mann zuzuhören, der über seine Erlebnisse in den Jahren 1941 bis 1945 berichtete, und meiner naturgegebenen Pingeligkeit folgend irgendwelche Fehler zu notieren. Ich fand nicht viel. Gut so. Nicht minder erfreute mich, daß das Hörbuch durchweg interessant war – auch wenn mir nach dem Hören der CDs 5, 6, 14 und 22 ein wenig der Zusammenhang fehlte.

Nebenbei surfte ich im Internet. Das traute ich mich nicht, insbesondere da ich feststellte, daß das Lesen von Nachrichten oder Weblogeinträgen mich sehr ablenkte. Also beschränkte ich mich auf einen sporadischen Mail- und Cartoonseitencheck, der auch den nicht minder sporadischen Besuchergängen der Chefin zugute kam – sie ertappte mich nur einmal, ließ sich aber nichts anmerken. Wahrscheinlich wollte sie einen derart perfekten [und gutaussehenden] Hörer wie mich nicht verlieren.

Allein die Möglichkeit jedoch, im Internet umherklicken zu können, empfand ich als enorm.
„Früher“, hätte ich am liebsten aufspringend geschrien, mit meinem Krückstock in der Luft herumstochernd, „Früher hätte es sowas nicht gegeben! Früher mußten wir noch richtig arbeiten! Zuckerbrot und Peitsche, sag ich da nur. Zuckerbrot und Peitsche!“

Leider/Glücklicherweise bin ich nicht alt genug, um solche Bemerkungen von mir geben zu können, war doch die einzige Zeit, in der ich wirklich hart arbeiten mußte, mein Zivildienst gewesen. Der ist nicht nur lange her, sondern war auch nur so hart, weil ich fünf Uhr morgens aufstehen mußte, um nicht zum wiederholten Male unpünktlich im Krankenhaus einzutreffen. Ansonsten habe ich kaum eine langweiligere Zeit verlebt als den Zivildienst. Die unzähligen Möglichkeiten, so zu tun, als sei ich beschäftigt, nur um zusätzlichen Arbeiten oder eventuellem Ärger aus dem Weg zu gehen, habe ich zwar längst vergessen, könnte ich aber notfalls wieder in Erinnerung rufen.

Als ich vor meinem eigenen Rechner saß und Hörbuchwort für Hörbuchwort vernahm, mich in meinem Bürostuhl zurechtlümmelte und entspannt der Sprecherstimme lauschte, stellte ich fest, wie gut es doch vielen Arbeitenden heutzutage zu gehen scheint.
Ich habe keinen Einblick in das Früher, doch begehre ich auch nicht danach. Mir reicht es aus, verallgemeinernd festzustellen, daß Arbeiten früher härter gewesen sein muß. Und wie jeder weiß, sind Verallgemeinerungen sowieso immer falsch. Oder richtig. Weiß ich nicht mehr.

Ich zeichnete. Das kann ich einigermaßen gut, und weil es auch entsprechende Aufträge gab [Das hört sich wichtig an. Gut so.], krakelte ich mit dem einzig auffindbaren Zeichenutensil auf meine mitgebrachten weißen Blätter. Kugelschreiber sind für solche Zwecke ungeeignet, doch in der Not esse ich auch Blutwurst [Ja, das ist tatsächlich eine mißglückte Abwandlung des Not-Teufel-Fliegen-Klassikers.].

Innerhalb von fünf Stunden kann man einiges auf Blätter krakeln, selbst wenn man – wie ich – pedantisch und kleinlich dazu neigt, das eigene Werk überstrenger Kritik unterziehen zu wollen. Erfreulich war, daß weder der Sprecher meine Zeichnerei, noch meine Stiftbewegung den Lauschprozeß, noch die Chefin meine Nebenbeschäftigung störte.

Nach fünf Stunden gab ich CD 22 – die letzte ihrer Art – ab und verabschiedete mich.
„Wollen Sie wiederkommen?“, fragte die Chefin, von ihrem Arbeitsplatz aufblickend. Ich glaubte, ein sehnsüchtiges Funkeln in ihren Augen gesheen zu haben. Vielleicht war es aber auch nur ein Deckenlampenlichtreflex auf ihren Brillengläsern.

Wollte ich wiederkommen?
Ich dachte an den bequemen, klimatisierten Arbeitsplatz, den eigenen Rechner mit Internetanbindung und die drei bekritzelten Blätter, ich dachte an gerade-noch-so nicht vollgekotzte Busse und riesige Buäx-Wurstregale. Doch ich hielt mein Strahlemanngesicht professionell unter einem Pokerantlitz [Leider spiele ich kein Poker. Deswegen schien der Strahlemann in mir wohl ein wenig durch.] versteckt und meinte lässig:
„Na klar, babe!“
Allerdings ohne das „babe“.