Reflexion

Heute ist wieder einer von diesen Tagen. Ich atme, laufe durch die Wohnung, finde ständig Dinge, mit denen ich mich beschäftigen könnte und andere, die in meinem Leib verschwinden, um Gemüt und Magen zu besänftigen. Tatsächlich kann ich sogar behaupten, Sinnvolles geschaffen, Nützliches bewirkt zu haben. Dennoch fühle ich mich unnütz. Jeder Schritt, den ich gehe, scheint falsch, überflüssig, ziellos, planlos, sinnlos zu sein. Wenn ich versuche, mich zukonzentrieren, höre ich die stetigen Stimmen, die ihren „Du-mußt“-Singsang von sich geben und jede Tat, jede Handbewegung mit zusätzlicher Falschheit bepudern.

‚Ich bin nicht hier.‘, denke ich und wünsche für einen Moment, vor mir selber fliehen zu können. Doch das ist Unsinn. Ich mag mich, ein wenig, mir gefällt, wer ich bin, was ich kann. Aber zuweilen könnte ich mich stundenlang nur für das ohrfeigen, was ich verpaßte, was ich vernachlässigte, vergrub, ignorierte, was ich noch immer verdränge, als gehöre es nicht zu mir zu meinem Leben, als würde es, wenn ich es vergesse, auch aus dem Bewußtsein sämtlicher anderer Menschen verschwinden.

Es gibt Listen. Ich versuche, mich zu kontrollieren, mich überwachen, mich dabei zu ertappen, wie ich mal wieder tagelang hinter unnützen Gedanken herhing, wie ich mich mit fadenscheinigen Beschäftigungen über Wasser hielt und eine Berechtigung zum Dasein erwirke. Ich observiere mich und finde Befriedigung darin, die vielen Häkchen und durchgestrichenen Zeilen zu zählen, die auf meiner Liste von Erfüllung künden – und doch keine Befriedigung verschaffen. Nicht, weil es nicht genug sind. Nein, es sind einfach nicht die richtigen Stellen, nicht die richtigen Worte, vor denen Häkchen gesetzt, die mit schwarzem Fineliner durchgestrichen wurden.
Es ist, als würde ich ein riesiges Puzzle zusammensetzen, aber mich nur um den Hintergrund, den Himmel, die Sonne, das Meer und ferne Bergsilhouetten kümmern, statt das Hauptmotiv, das riesige Schiff im Vordergrund, das mich mit dröhnenden Motoren gen Zukunft tragen soll, zu bearbeiten, als ließe ich es aus, um es für später aufzuheben, für ein Später, das es hoffentlich nie geben wird.

Ich fürchte mich vor diesem Später, weil ich weiß, daß es der Zeitpunkt sein wird, an dem mein Versagen öffentlich wird, an dem ich es mir selbst gegenüber zugeben muß. Das Später ist ein roter Fleck in meinem Auge, der sogar verbleibt, wenn ich die Lider zusammenpresse und mir den entführenden Traumschlaf herbeirufe.
Wenn es nach mir ging, so würde ich dieses Später aus meinem Dasein streichen. Es sollte ein Davor geben und ein Danach, aber kein Mittendrin, keinen Punkt, an dem alles geschieht, keine Realisation meiner Selbst, das die letzten Meter zum Abgrund endlich überwand und nun auf den Sturz wartet.

Ich übertreibe, sicherlich. Doch wenn ich mich betrachte, sehe ich den komischen Kauz, der seit Monaten seine Zeit vertreibt. Nein, er läßt sich auf der Zeit treiben, wartet ab und weiß nicht, worauf. Alles möge in seine Hände fließen, sie sind harrend geöffnet, versuchen, die Chancen zu greifen, doch können es nicht, weil er nicht fähig zu sein scheint, sich selbst zu bewegen, sich zu ihnen hin zu neigen, eigene Schritte in ihre Richtung zu wagen.

Unlängst sah ich mich am Tisch meines Bruders sitzen, in ferner Zukunft. Ein Lockenbart wuchs mir vom Kinn, in dem sich bereits graue Fäden zeigten. Mein Bauch war ein weiches Hüpfkissen für meine Neffen und Nichten, die neugierig zu ihrem wundersamen Onkel aufschauten, wie er da saß, in abgewetzten Klamotten, mit einem selbstironischen Lächeln auf den Lippen, einem leisen Funkeln in den Augen, das nur schwer die Trauer dahinter verbarg. Der Onkel wußte Geschichten zu erzählen, absonderliche Gesichten, die zum Lachen und Staunen einluden. Und manchmal zeichnete er. Ein kleines Tier mit großen Kulleraugen, eine Fledermaus vielleicht oder einen Käfer. Wenn er zeichnete, verwandelte er sich für einen Moment selbst in ein Kind, vertiefte sich in die Spitze des Stiftes, in die wenigen Linien, die auf dem weißen Blatt bereits zu sehen waren. Seine Zungenspitze ragte ein wenig heraus, spielte mit dem Mundwinkel, ohne daß er sich dessen gewahr wurde. Und während die Kinder freudig triumphierend die Zeichnung hochhielten und bewunderten, flogen meine Gedanken zurück in die Vergangenheit, dorthin, wo ich am Anfang aller Möglichkeiten stand, ohne sie wahrzunehmen, ohne sie erfassen zu wollen, dorthin, wo ein junger Mann selbstzweifelnd auf der Stelle klebte und unsicher dort verharrte, wo die Wirklichkeit ihn nicht finden konnte.

Einen Tritt in den Hintern benötige ich, sage ich mir oft genug und weiß, daß ich selbst es sein muß, der mir diesen verpaßt. Oft genug bekomme ich Hinweise, Ratschläge, Nachfragen; doch irgendwie fühle ich mich stets bedroht, belästigt, angegriffen, glaube, nicht verstanden zu werden, es besser zu wissen, andere Richtungen einschlagen zu wollen, die sich mir nur noch nicht offenbart haben.
Ich selbst bin es, der sich aufraffen, der mich antreiben muß. Das weiß ich, und wenn sich diese Erkenntnis endlich wieder einmal in mein Bewußtsein gefressen hat, kann ich nicht anders, als aufzustehen und anzufangen. Ich weiß nicht genau, womit, doch ich fange an, beschäftige mich, finde Dinge, die seit Jahr und Tag hätten erledigt sein sollen, raffe mich auf, weiterzumachen oder von neuem zu beginnen, finde alte Kraft, wo ich sie einst ablegte und treibe mich an.

Doch dann kommt die Pause, die Ruhephase, die Erschöpfung; vielleicht sogar das Begreifen, daß unmöglich zu schaffen ist, was zu schaffen sein soll. Ich atme durch, setze mich hin und lenke mich von düsteren Gedanken ab, die nun vermehrt meinen Geist bevölkern. Wie konnte ich glauben, voraneilen zu können, wo ich doch noch immer ich bin, noch immer derselbe faule, träge Kerl, der lieber auf das Leben wartet, statt ihm entgegenzueilen?
Der erste Widerstand auf meinem Weg, das erste Hindernis, kann schon genug sein, um mich aufzuhalten, mich zu zerbrechen. Ich sehe mir zu, wie ich zu Boden gehe und zucke desinteressiert mit den Schultern. War ja klar, denke ich und wende mich ab. Irgendwo warten irgendwelche Nebensächlichkeiten darauf, von mir mit geschickter Hand vollbracht zu werden, mich vom Eigentlich abzulenken

Ich finde mich wieder mit meinen Gedanken allein gelassen in meinem Zimmer, sehe mich um und erfasse, was alles noch vor mir liegt, wovor ich Angst habe. Dinge, die mich enttäuschten, für die ich nur noch Resignation übrig habe, keine Empfindung mehr, nur Desinteresse. Dinge, die mir etwas bedeuten, doch niemals so liefen, wie erhofft, die mich irgendwann zaudern, straucheln, aufgeben ließen. Dinge, die zu erreichen ich mir nie wünschte, die auf mich zukamen, um dann in meiner Hand doch zu zerbrechen…
Ich sehe sie und sehe mich in diesem Haufen aus Scherben, und es schmerzt zu begreifen, daß neue Scherben sich zu den alten gesellen werden. Vielleicht liegt mein Bestreben darin, sie zu verhindern, mich vor weiteren Scherben zu bewahren, die Gefahr des Zerbrechens zu meiden, indem ich die Gefahr, ja das Leben selbst meide.
Aus Angst vor der Möglichkeit zu scheitern, scheitere ich schon vor dem Beginn des Weges. Das klingt, als ob es richtig wäre, und doch stimmt es nicht. Nicht ganz.

Genug Leute kenne ich, die mich daran erinnern, daß das, was ich bin und will, daß meine Taten und Gedanken nicht unnütz sind. Genug Momente in meinem Dasein gibt es, die mir Freude und Leben schenken, die mich den alten Scherbenberg vergessen und mich mutig nach vorne stürzen lassen. Und doch ist heute einer von diesen Tagen, an denen ich glaube, längst stehengeblieben zu sein, stehengeblieben, während die Welt sich um mich herum weiterdrehte, stehengeblieben, irgendwann, als ein winziger Schritt, eine winzige Tat, die bessere Möglichkeit gewesen wäre…