Der Rabe

Lange noch saß er da und dachte nach.

Die Welt verlor sich weit unter ihm, irgendwo in den Tiefen der Häuserschluchten, und schien für eine Weile an Bedeutung eingebüßt zu haben. Der Wind verfing sich in seinem schwarzen Gefieder, doch besaß offensichtlich keinerlei Interesse daran, ihn von dem stählernen Geländer zu vertreiben, auf dem er sich niedergelassen hatte.

„Raben bringen Unglück.“, hatte die Mutter ihrer Tochter erzählt, während er, nur anderthalb Meter entfernt, gerade die Reste eines Brötchens mit seinem Schnabel bearbeitete. Als sie sich näherten, war er weggehüpft. Nur ein wenig, damit er ihnen nicht im Weg stand.

‚Quatsch.‘ hatte er gedacht. ‚Raben bringen kein Unglück.‘

Doch dann war das Mädchen auf dem Brötchenrest ausgerutscht, hingefallen, hatte geschrien und sich irgendetwas gebrochen. Raben hören gut und, wenn Knochen knacken, auch gern.

Er war weggeflogen, hierher, hatte sich auf das Geländer gesetzt und begonnen nachzudenken.
‚Vielleicht bringen Raben ja wirklich Unglück.‘,dachte er und hätte am liebsten die Stirn gerunzelt.

Unterdessen begaben sich Mutter und Tochter zum Krankenhaus. Der Chirurg war freundlich und lächelte oft. Die Tochter bekam einen Gipsverband und die Mutter seine Telefonnummer. Zwei Jahre würden noch vergehen, bis die Mutter es wagen würde, sich neu zu binden, doch bis dahin – und natürlich auch danach – erlebte die Tochter Tage, Wochen, Monate voller Glück und Zufriedenheit. Später, als ihre Haare bereits ergraut und ihre Zähne längst nicht mehr die eigenen waren, erinnerte sie sich manchmal an den Brötchenrest und daran, dass im Augenblick des Sturzes ihr gesamtes Dasein in glücklichere Bahnen gelenkt worden war.

Der Rabe jedoch saß auf dem Geländer und dachte nach.
‚Vielleicht bringen Raben ja wirklich Unglück.‘, dachte er, sah der Tochter und der Mutter nach, wie sie in Richtung Krankenhaus verschwanden, und seufzte.