Die BussiBärenBande

Schon mehrere Male geschah es, daß ich bei der Lektüre öffentlicher Texte auf das Wort „Bussi-Gesellschaft“ stieß, ohne mich jedoch mit diesem Phänomen oder dessen Hintergrund näher beschäftigen zu wollen. Sicherlich war mir nie entgangen, daß es unter Prominenten ebenso wie unter „Normalsterblichen“ zunehmend üblich zu werden scheint, einander nicht nur mit freundlichem Händedruck, ebensolchem Lächeln und standardisierten Wortaneinanderreihungen, deren Inhalt längst Bedeutung verlor und zur leeren Floskel mutierte, zu begrüßen, sondern Wangen- oder gar Mundküsse an diejenigen zu verteilen, die einem ein wenig näher zu stehen scheinen als andere. Sicherlich war mir nicht entgangen, daß insbesondere jugendliche Mädchen dazu neigen, jene Bussis aneinander zu verteilen, und seien sie auch nur der Luft als übertragendes Medium vermacht.

Doch bis zum gestrigen Tage war ich nicht willens, mir über derartiges Verhalten Gedanken zu machen, handelte es sich doch dabei um eine Welt, die außerhalb meiner eigenen rotierte. Gestern jedoch kollidierten beide Welten, als ich innerhalb weniger Stunden gleich drei Mal mit Abkömmlingen der BussiBärenBande konfrontiert wurde, und zwar auf eine Weise, die keine Ignoranz meinerseits zuließ.

Zunächste verabschiedete eine mir nahestehende junge Dame einen Freund ihrerseits mit einem Kuß. Nanu?, dachte ich, weilte doch die Lebensabschnittgefährtin des männlichen Wesens in direktem Umfeld. Für einen winzigen Augenblick bemächtigte sich Verwirrung meiner. Grund war nicht der absurde Gedanke, eine heimliche Liebschaft wäre in Begriff, sich zu entwickeln, sondern eher der, daß ich mich nicht entsinnen konnte, von der Küssenden in der Zeit unserer Freundschaft jemals mit einem solchen Kuß verabschiedet worden zu sein – und das, obwohl wir uns wesentlich näher stehen als jene beiden. Schulterzuckend beschloß ich, das Gesehene in meinem Geiste dort einzusortieren, wo das Vergessen am schnellsten waltet.

Nur kurze Zeit später verweilte ich an einem Bibliothekscomputer; neben mir saß eine junge Dame, die wiederholt versehentlich Krach verursacht hatte und dafür bereits mit einem verzeihenden Lächeln und freundlichen Worten meinerseits bedacht worden war. Während ich in den Gefilden des weltweiten Netzes rumgeisterte, bemerkte ich, daß meine Nachbarin einen jungen Mann begrüßte, der des Weges kam. Zunächst wurden wenige Worte gewechselt, dann hörte ich das typisch schmatzende Geräusch eines Kusses. ‚Nun gut‘., dachte ich mir, ‚Ein Pärchen, das sich in der Bibo verabredet hat.‘. Doch im Laufe ihres Gespräches, das in Fetzen an meine Ohren drang, stellte sich heraus, daß die beiden voneiander gar keine Ahnung hatten, weder die Prüfungstermine des anderen noch andere bedeutsame, persönliche Dinge wußten und sich erst gegenseitig mitzuteilen hatten. Es stellte sich heraus, daß mein Gedanke, die beiden wären einander tiefer verbunden, ein falscher war. Nun ja, das passiert.

Als ich die Bibliothek verließ, beobachtete ich eine weitere Begegnung. „Hallo, mein Schatz!“, hörte ich und wandte mich um. Auf der Treppe standen zwei weibliche Wesen, einander mit einem schmatzenden Kuß auf den Mund und eben erwähnten Worten begrüßend. Auch hier wurde schnell klar, daß die beiden nicht mehr als Freundinnen waren, keine Vertreter gleichgeschlechtlicher Beziehungen.

Nun aber wurde ich stutzig. Wenn sich Freundinnen derart intim begrüßten, welcher Unterschied blieb noch zu einer „richtigen“ Beziehung? Ja, ich weiß, in einer solchen passiert noch wesentlich mehr, sowohl von körperlicher als auch von geistiger Seite aus. Doch werden durch solche Schmusis und Bussis Berührungen selbstverständlich, ja irgendwie sogar abgewertet, kann man doch derartige von nahezu jedem bekommen, der einem über den Weg läuft, sofern man das Bedürfnis hat.

Ist mein Denken antiquiert?, fragte ich mich. Oder bin ich einfach nur nicht Teil des Ganzen? Ich sehe ein, daß es schön ist, das Gefühl körperlicher und feundschaftlicher Nähe durch mehr zu bekommen als durch Worte, daß eine solche Nähe Trost und Wärme birgt. Und doch…

In meinem merkwürdigen Denken ist jede Berührung eine Kostbarkeit, eine Perle, die ich mir erst zu verdienen habe. Der Körper eines anderen Wesens ist eine Heiligtum, das ich nicht ohne Einwilligung ertasten, betreten, darf. Ich wage nur wenigen Personen eine Umarmung zu geben, versteife mich bei anderen, deren Nähe mir ungewohnt erscheint. Und selbst jene Umarmung, die zu geben ich bereit bin, tritt nur zögerlich in Kraft, sich in jedem Augenblick der Zustimmung des anderen versichernd. Eine Berührung ist eine Kostbarkeit.

Ich schrecke davor zurück, mich berühren zu lassen, zu berühren. Aber nicht weil ich Angst davor habe, nicht weil ich meine, das Gegenüber sei es nicht wert, nicht weil der Ansicht bin, ich müßte mich vor möglicher Nähe verkriechen. Nein. Wenn ich berühre, dann mit allen Sinnen. Eine Berührung ist nicht minder eine Berührung, es ist eine Erfahrung nahezu heiliger Art, ein Schatz, an den ich mich in Zukunft zu erinnern wünschen werde, ein Lichtblick in finsterer Kälte. Wenn ich berühre, dann mit Zärtlichkeit, ja Liebe wohl, mit dem Wissen und dem Bewußtsein, jenen Augenblick vollends auskosten zu wollen, jenen Moment allein der Berührung zu schenken. Wenn ich berühre, bedeutet diese Geste mehr als nur das Zeichen meiner Anwesenheit, mehr als die bloße Floskel einer Berühung oder Begrüßung. Wenn ich berühre, erblühen in mir Welten zu Licht und Leben.

Werde ich berührt, so geschieht Ähnliches. Ein Lächeln bemächtigt sich meiner, meine kranken Gedanken ziehen Kreise um leuchtende Möglichkeiten. Mich zu berühren bedeutet, die Gefahr auf sich zu nehmen, daß ich mehr als nur eine Berührung in dieser Geste sehe. Mich zu berühren bedeutet, meine Mauern zu durchbrechen und den Wunsch zu hegen, zu meinem Inneren vorzudringen.

Und ein Kuß? Ein Kuß ist vielleicht die Summe aus Berührungen, vielleicht deren Königin.

Ich glaube, ich wäre nicht fähig, in der BussiBärenBande zu verweilen, könnte nicht ertragen, mir Bilder zu malen, die im selben Augenblick zerfetzt und zerrissen werden, könnte nicht ertragen, zu erblühen, um im selben AUgenblick im Anblick meiner dumm-falschen Hoffnungen zu vergehen. Vielleicht wußte mein oben erwähnte Freundin davon, vielleicht wußte sie und war so gnädig, mich mit meinen wirren Gedanken und Interpretationen, mich mit mir selbst zu verschonen.

Und so verbleibe ich, harrend der Berührungen und Küsse, die mehr sind, unendlich viel mehr – selige Kostbarkeiten in der Kälte des Alls.