Zugfahrt – Ein Tatsachenbericht

Der Kasper neben mir, der sich als „Juppi“ vorgestellt hatte, schweigt nicht. Seine Bierfahne bemerke ich schon lange nicht mehr; leicht vermag sie sich in unter dem allgemeinen Gestank der grölenden Masse zu verstecken.

Nachdem ich feststellte, daß die Welt unter meinen Füßen außeinanderzubrechen droht, trat ich die Heimfahrt an – allerdings inmitten einer zugbesetzenden Gruppe angetrunkener Fußballfanatiker, deren Verein in meiner Heimatstadt ein scheinbar bedeutsames Spiel zu bestreiten hat. Ein Derby: Magdeburg gegen Halle.

Der Fahrkartenautomat verweigerte im letzten Moment den Dienst, mein Zugeintieg erfolgte in höchster Eile. Ich quetschte mich an den unzähligen grüngewandeten, mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüsteten Ordnungskräften vorbei und platzierte mich auf dem letzten, verfügbaren Sitz, direkt neben einem unrasierten Mittdreißiger, der mich sogleich mit lallenden Worten belegte und sich umständlich vorstellte Juppi. Ich leihe ihm meinen Schlüsselanhänger zum Öffnen seiner Bierflasche, und unsere Freundschaft ist besiegelt.

Er ist freundlich, erklärt mir die Umstände (Magdeburg gegen Halle. Derby. Fußball. Fans. Zugfahrt. Polizei. Lustig.) , die ich längst begriff, versucht den uns umgebenen Lärm mit Eigengeräusch zu ünertönen. Ab und zu unterbricht er sich, um bei einem Fußballgesang, den er kennt, mitzugrölen.

Die Gespräche ringsum kann man kaum als solche bezeichnen: Sinnlose Bemerkungen über Bier wechseln sich ab mit einem gegenseitigen Anfeuern; es folgt eine Diskussion über die verbleibende Anzahl an Bierflaschen im Kasten und darüber, sich und insbesondere die Stimmorgane, für später zu schonen; gleichzeitig fliegen Haßtiraden gegen Hallenser Fußballer und deren Anhänger durch die stickige Luft, unterbrochen von einer Zählung der verbliebenen Bierflaschen und textlosen Schalala-Gesängen. Und stets präsent ist die wohl bedeutsamste aller Fragen dieser Augenblicke: Wo zur Hölle ist das verdammte Klo?

Die grünen Wächter bleiben erstaunlich gelassen, tolerieren den zunehmenden Alkoholkonsum, den Genuß von Zigaretten im Nichtraucherabteil, tolerieren die albernen Gesten und das pseudomännlich-affenartige Gehabe. Nur einmal „eskaliert“ die Situation, als ein Fußballfreund in ruhigem Tonfall aufgefordert wird, sich zu setzen – und nach einigen bierbedingten Verständigungsschwierigkeiten gehorcht. Neben ihm lassen sich zwei Grüne nieder, augenscheinlich froh, auch einmal sitzen zu können.

Ich bemerke erstaunt, daß die Gesangsstimmen der sangesfreudigen Magdeburger Fans stets mindestens eine Oktave tiefer zu sein scheinen als ihre mittlerweile recht heiseren Sprechstimmen. Ein Grüner wird beim allgemeinen Rumgehüpfe angerempelt – und erhält eine Entschuldigung dafür.

Juppi, der freundliche Anhänger einer einseitigen Konversation mit mir, vertraut mir seinen Beutel an. Dessen Inhalt besteht – natürlich – aus mehreren Bierflaschen. Immerhin hat er einige Minuten zuvor erfahren, daß ich Bier meide, was mich wohl in seinen Augen zu einem vertrauenswürdigen Menschen macht. Er verzieht sich – natürlich – aufs Klo.

Sein Sitzplatz wird schnell wieder besetzt – von einem schätzungsweise vierzehnjährigen Jungen, der irgendwann feststellt, daß ich gar keine Frau bin. Ich bin von seiner Auffassungsgabe beeindruckt. Er wiederum davon, daß ich so viele Wörter aneinanderreihe. Ich habe einen weiteren Freund gefunden.

Die Gesänge, sofern man so euphemistisch ist, sie als solche zu bezeichnen, lassen nicht nach; das Niveau der durchaus lautstarken Kommunkation sinkt weiter. Juppi kehrt zurück, tanzt den vierzehnjährigen Platzbesetzer an, der sich aber um andere Dinge kümmert (Bier). Erstaunlicherweise führt auch das zu keinerlei Verdruß.

Nicht minder erstaunlich ist der Umstand, daß auch die wenigen Freunde der Hallenser Mannschaft toleriert werden. Sicherlich fliegen höhnische Worte und beleidigende Gesänge durch die Luft, doch sind sie harmlos und münden nur in verbalen Gegenattacken.

Juppi schmeißt sich unterdessen an eine Sechszehnjährige heran, deren Hüfthose beeindruckend tief sitzt, und versucht sich als Alleinunterhalter – beides natürlich vergeblich. Erwähntes Mädel, ich stelle später fest, daß ihr echter Name Uli ist, zeigt alberne Knutschfotos herum, präsentiert diese sogar den beiden sitzenden Grünen – nur nicht meinem Freund Juppi.

Fast bin ich geneigt, so etwas wie Mitleid mit ihm zu empfinden, was mich jedoch nicht davon abhält, mich der Distanz zwischen mir und ihm zu erfreuen.

Nach einer Weile aber läßt sich Püppi, wie Juppi sie nannte, dazu herab, auch ihm ihre albernen Fotos zu zeigen; die restlichen Mädels, die erstaunlich laut zu grölen vermögen, beschweren sich geifernd über ein anderes Zugabteil, wo alte Männer ihnen an Brust und Po gegrabscht haben. Immenser Biergenuß läßt wohl auch treuste Ehemänner zu hirnlosen Kinderschändern mutieren.

Juppi ist in seinem Element, als er beginnt, lautstark in die Gesänge der anderen Abteile einzustimmen. Erstaunlich, wie laut ein einzelner Mensch sein kann. Ebenso erstaunlich ist, daß der besungene Fußballverein mit einem Male keine Bedeutung mehr zu haben scheint und spontan gegen einen Erstligisten ausgetauscht wird.

Nicht minder erstaunlich ist die Knopfdruck-Funktion: Juppi beginnt mit melodiebefreitem, rhythmusfernen „Schalala“-Gegröle, und die übrigen Anwesenden – abgesehen von mir und den Polizisten – stimmen ein. Ich kann keinerlei Texte ausmachen, obgleich sicherlich irgendwo in dem dezibelintensiven Gelalle ein- oder zweisilbige Wörter versteckt sind.

Ein Grüner ermahnt einen Marsriegelesser, der gerade mit reger Begeisterung eine Bierthematik anschlägt, sein Verpackungspapier nicht auf dem Boden liegen zu lassen, und wird mit einem kollektiven „Spielverderber!“ belegt. Ich schmunzle unfreiwillig.

Mittlerweile beginnen mich die kindischen Hirnlosigkeiten und die montonen, stetig wiederkehrenden und vor allem überlauten Gesänge zu nerven. Den Grünen reicht es aber scheinbar auch. Die Ermahnungen nehmen zu. Ruhe wird gefordert. Mehrmals. Drohungen werden ausgesprochen. Die Reaktionen sind verhalten.

Einer der Störenfriede, der ominöse Marsriegelesser, wird beiseite gezogen, ein unfreundliches Wort findet das nächste. Der Ermahnte setzt sich wieder und bleibt einigermaßen ruhig.

Aber Juppi, der inzwischen wieder den Platz neben mir einnimmt und von der geladenen Simmung innerhalb des Abteils nicht viel mitzubekommen scheint, beginnt zu schunkeln. Ich erwäge mehrmals aufzustehen und zu gehen. Doch wohin?

Püppi wird von Juppi aufgefordert, sich auf seinen Schoß zu setzen, übt sich aber in Ignoranz. Derart abgewiesen wendet er sich mir zu, belastet mich mit zwei oder drei wirren Sätzen, beinhaltend seine Kinder in Thüringebn, seinen Onkel im Ruhrgebiet, sein geschiedene Frau und Fußballfanatismus. Ich verstehe kein Wort. Er erkundigt sich nach meiner bereits gegründeten, allerdings leider nichtexistenten Familie. Ich lächle verzweifelt.

Juppi nervt. Immer mehr. Er beginnt zu grölen, direkt neben meinem rechten Ohr, hört auf, macht weiter. Immer wieder. Aggression liegt in der Luft: gegen Juppi, gegen die Grünen, gegeineinander. Skins laufen durch die Gänge, präsentieren sich. Arroganz zeigt verbissene Gesichter.

Draußen schneit es. Ich versuche, mich dauaf zu konzentrieren, schaffe es nicht.

Zunehmend Beschwerden über Grabscher. Vorher Angetrunkene sind längst Besoffen. Gehirne funktionieren nicht länger. Schreie zerschmettern mein malträtiertes Trommelfell. Polizisten greifen sich einen weiteren Fan. Juppi singt wieder.

Schnee. Atmen. Atmen. Schnee.

Ich will hier raus.

Der Hallenser Bahnhof rückt nahe. Die Grünen postieren sich ander Tür, allgemeines Gedränge herrscht. Doch niemand schubst. Langsam quellt der weißblaue Brei durch die Tür nach außen. Dort erkenne ich nur grün. Der ganze Bahnsteig ist mit Polizisten zugepflastert. Die Treppe zur Bahnhofshalle ist durch eine grüne Mauer versperrt. Ich stelle mich davor und lächle. Inmitten eines Pulks angetrunkener, grölender Fans („Hurra, hurra, die Magdeburger sind da!“) stehe ich und lächle. Ein Polizist bemerkt mich, begreift, daß ich nich zur Meute gehöre und läßt mich durch.

Befreit laufe ich durch die leeren Gänge. Polizisten säumen den Weg. Grimmige Gesichter. Angespannte Minen.

Mein Telefon klingelt. Mein Bruder fordert mich zur Eile auf. Er steht im Parkverbot und ist schon mehrmals von Polizisten zur Weiterfahrt aufgefordert worde. Ich fange an zu zu rennen.

Ein merkwürdiges Gefühl, inmitten einer Masse aus Gesetzeshütern urplötzlich zu rennen…

Ich verlasse den Bahnhof. Mein Bruder winkt mir aus der Ferne zu. Erleichtert lache ich ihm zu.

Es beginnt zu schneien.