Über das politische Desinteresse

Generelles politisches und historisches Desinteresse war schon immer einer meiner Wesenszüge, die zu verleugnen mir stets unglaublich schwer fiel, insbesondere weil ich nicht umhin konnte, jederzeit freimütig zuzugeben, daß ich von Nichts eine Ahnung hatte – und habe.

Schon im zarten Alter von zehn Jahren drängte mich mein besorgter Vater dazu, damit zu beginnen, Zeitungen zu lesen, nicht alles, nur hin und wieder ein Artikel, eine Seite, damit ich ein Gespür für den Stil, die Art und Weise bekäme. Er selbst war übrigens derjenige in unserer Familie, der am lautesten über die oft hohlen Inhalte des lokalen Tagesblattes schimpfte.

Bis heute lese ich keine Zeitung. Das hat weniger mit Zeitmangel als mit Unlust zu tun. Obgleich ich immer wieder von meinem Vater angestachelt worden war, interessierte ich mich maximal für den samstäglichen Käptn-Blaubär-Comic [der tatsächlich oft sehr amüsant war].

Ich probierte es mit der Bild [war ja klar, daß das nichts wird], mit den lokalen Blättern von Halle und Magdeburg [Mitteldeutsche Zeitung und Volksstimme], mit der Welt [Das Abo war ein Geschenk des Springer-Verlages an meine damalige Mitbewohnerin.], mit der FAZ [Mein Mitbewohner hatte sie abonniert.] und der Zeit [Ein Gemeinschaftsabonnement zweier Mitbewohner.]. Doch ich las nicht, interessierte mich doch zu wenig.

Begann ich irgendwo, stellte ich schnell fest, daß mir die Hintergründe fehlte. Bis heute vermag ich nicht genau zu erklären, was genau in Israel eigentlich los ist.
Doch ich habe nicht den Willen, den Ehrgeiz, dieses fehlende Wissen zu beseitigen, ist mein Interesse nicht derart stark ausgeprägt, daß ich mich durch seitenweise Geschichte und politische Verknüpfungen und durch unzählige unbekannte Namen und Orte kämpfen kann oder möchte.

Es muß erst ein ungewollter Irakkrieg kommen, der mit seiner Medienpräsenz zum Nachdenken und Hinterfragen einlädt, um mich davon zu überzeugen, daß es besser sei, sich zu informieren. Und tatsächlich informierte ich mich bei Ereignissen wie diesen, lobte das Internet für seine Medienbestände, für die Zusammenfassungen und Zusammenhangsdarstellungen, lobte mich für meine Beständigkeit, was das Verfolgen neuerer Berichte anging.
Doch schnell ebbte auch dieses Interesse ab, und ich verfiel meiner alten Ignoranz von Politik und Geschehen.

Glücklicherweise ist es mit dieser aber nicht allzu weit her, gewöhnte ich mir doch längst an, täglich eine geraume Weile online Neuigkeiten aller Welt zu betrachten, meine Blicke über Schlagzeilen und ergreifende Bilder schweifen zu lassen und bei geweckter Neugierde auch die entsprechenden Artikel zu lesen.

Und so kann ich heute von mir behaupten, nicht fern der Gegenwart zu leben, zu begreifen, was „draußen“ vor sich geht, zumindest in Ansätzen. Denn noch immer spüre ich, daß ich mich mit einem „gefährlichen Halbwissen“ umgebe, daß die wahren Hintergründe verborgen bleiben, obgleich es den Anschein hat, als wüßte ich bescheid.

Ich weiß, daß mein fehlendes Wissen und mein fehlendes Interesse an Politik und Geschichte Gründe sind, weswegen ich – trotz einigermaßen akzeptablen Schreibstiles – niemals ein guter Journalist werden würde. Deswegen erachte ich als befremdlich, mich dabei zu beobachten, wie mich ich innerhalb weniger Wochen schon zum dritten Mal zu einer Wahlkampfveranstaltung begeben werde, um polemischer Rhetorik und vereinzelten Inhalten zu lauschen.

Auch hier fehlen mir oft die Hintergründe, doch reichen die skurrilen Umstände der Wahl und die allgemeine mediale Aufregung aus, um mich wieder neugierig zu machen, einzufangen und für einen Moment in dem Glauben zu wiegen, Politik wäre etwas, das ich verstehen könnte, ja vielleicht sogar verstehen will.

Und so erhebe ich mich nun und begebe mich auf den Magdeburger Domplatz, um der Kanzlerkandidatin der CDU zu lauschen und ihr die Möglichkeit zu geben, meine bereits gefestigten Ansichten zumindest ansatzweise zu erweichen und vielleicht ein wenig mehr Licht in mein politsch-historisches Unverständnis zu bringen.

Wahlkampfunstimmigkeiten in Magdeburg

Da ich rauszufinden versuchte, zu welcher Uhrzeit und an welchem Ort die CDU-Vorsitzende Merkel heute Abend in Magdeburg zu sehen und zu hören sein wird, gelangte ich schnell zu der Magdeburger CDU-Seite www.cdu-magdeburg.de, die mir tatsächlich Auskunft gab.
Unter „Aktuelle Termine“ fand ich als aktuellsten, terminlich naheliegensten Eintrag:
02.09.05 Bowling-Abend der Frauen-Union.
Schön.

Die deutschlandweit gültige CDU-Seite schickte mich weiter zu www.angela-merkel.de, wo ich unter „Termine“ tatsächlich fündig wurde:
01.09.2005 Wahlkampfauftritt 20:00 Uhr, Domplatz, Magdeburg.

Mit blieb keine Zeit, mich zu wundern, warum Außenminister Fischer und Bundeskanzler Schröder sich mit dem kleineren, aber zentraler gelegenen Alten Markt begnügt hatten, während Frau Merkel und Konsorten mit dem weitläufigeren Domplatz vorlieb nehmen, war ich doch schon auf dem Weg zur nächsten informativen Seite:
www.heynemann.de, der Internetauftritt des Magdeburger CD-Kandidaten Bernd Heynemann.

Und auch dort wurde ich fündig. Die Terminübersicht klärte mich auf:
01.09.2005, 19:00 Uhr Großveranstaltung mit Angela Merkel Domplatz Magdeburg.

Moment. 19 Uhr? Nicht 20 Uhr, wie die Heimseitenbastler von Frau Merkel geschrieben hatten? Welche Uhrzeit stimmte nun? Eine derartige Uneinigkeit war ich aber von Grün und Rot nicht gewohnt.

Ich wunderte mich, überlege, wann ich dort am besten eintrudeln sollte und stellte die Hypothese auf, daß Bernd Heynemann als Vorredner schon gegen 19 Uhr seine Ansprache kundgibt, während Frau Merkel erst 20 Uhr das Wort erhalten wird.

Das erklärt zwar die unterschiedlichen Uhrzeiten, wirft aber ein schlechtes Licht auf die Einigkeit innerhalb der CDU und die Frage auf, ob Frau Merkel womöglich gar kein Interesse für den Magdeburger CDU-Volksvertreter Bernd Heynemann aufbringt, so daß dessen Wahlkampfauftritt auf ihrer eigenen Internetseite unerwähnt bleiben darf.
Das dürfte den armen Herrn Heynemann bestürzen, so er es je erfährt.

Falls irgendwem bei der Lektüre obiger Zeilen der Name „Bernd Heynemann“ bekannt vorgekommen ist, so liegt das daran, daß es sich tatsächlich um den einstmals sehr geschätzten und fähigen Schiedrichter handelt, der nun in Ruhestand bzw in die Politik [Ich weigere mich, hier die Behauptung aufzustellen, das wäre das gleiche.] ging.
Tatsächlich stellt Bernd Heynemann wohl einen der wenigen Bürger Magdeburgs dar, der sich internationaler Bekannt- und Beliebtheit erfreut.

Das jedoch ist noch lange kein Grund, ihn oder seine Partei zu wählen, aber Anlaß genug, sich zu überlegen, ob man zu dem Wahlkampfauftritt des ehemaligen Schiedsrichters Trillerpfeifen und rote Karten mitbringen sollte…

Straßenbahnerlebnisse 11: Balldiebstahl und Zettelei

In der Straßenbahn haben sich mehrere Kinder versammelt. Ihr Alter zu schätzen, fällt mir schwer, doch offensichtlich kommen sie gerade von der Schule und befinden sich auf dem Heimweg.

Ein Junge liest ein Zettelchen vor, das sie sich während des Unterrichts schrieben.
„Griechenland ist blöd. Aber Mandy ist noch viel blöder.“
Ungefähr 80 Prozent des weiteren Inhalts besteht aus dem Satz „Mandy ist doof.“

Währenddessen klaut ein anderer Junge einem dunkelhaarigen Mädchen einen Ball.
„Gib den Ball wieder her.“, schreit sie, zugleich erzürnt und belustigt, „Sonst bring ich dich um.“
Der Junge reagiert nicht, und läßt sich selbst, als sie sich von ihrem Platz erhebt, zu ihm eilt und versucht, den Ball seinen Händen zu entwinden, nicht beeindrucken.
„Gib den Ball wieder her.“, wiederholt das Mädchen, „Sonst verliebt sich Maria wieder in dich.“
„Mir doch egal.“, meint der Balldieb achselzuckend.

‚Was für eine Drohung!‘, denke ich belustigt.

Die Rettung der hölzernen Dame

Ich wohne im Dachgeschoß, verfüge daher über eine Schräge in meinem Zimmer, die ein nicht minder schräges Fenster einschließt. Inmitten der momentan recht hochsommerlichen Temperaturen lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, nicht nur das schräge Fenster so weit wie möglich zu öffnen, sondern auch Tür und Zweitfenster dem maximalen Aufsperrwinkel auszusetzen. Daß ein erfrischender Durchzug daraus resultiert, ist erwartbar und gewissen Grenzen auch beabsichtigt.

Leider [oder: Glücklicherweise] verfügt das erwähnte schräge Fenster über ein enorm breites Fensterbrett, das dazu einlädt, nicht nur die beiden Miniaturtopfpflanzen, die meine geringe Pflegebereitschaft überlebten, darauf zu postieren, sondern auch bedeutsame Nachschlagewerke [Duden, Fremdwörterlexikon, Herkunftswörterbuch, Synonymwörterbuch], allerlei Krimskrams und eine Künstlerpuppe.

Letztere bekam ich einst von meiner Mami [Erstaunlicherweise sage und schreibe ich noch immer am liebsten „Mami“, weil ich alles andere – „Mutti“, „Mutter“, „femininer Elternteil“, … – für zu unpersönlich halte.] geschenkt. Es handelt sich um das standardmäßig bekannte Exemplar aus Holz mit beweglichen Gliedern, die man zu den abenteuerlichsten Posen verrenken kann, um somit ein gutes Modell für eventuelle Abmalversuche zu schaffen.

Meine Puppe stellt mit ihren schätzungsweise 40 Zentimetern Größe kein kleines Exemplar dar und ist zudem auch noch weiblich. Tatsächlich stand auf der Packung, daß sie weiblichen Geschlechts sei [Die männlichen waren wohl ausverkauft, meinte meine Mami.], was sich anhand vorhandener Oberkörperauswölbungen leicht verifizieren läßt.

Ich habe die Puppe noch nicht oft benutzt, verforme nur zuweilen ihre Glieder und erfreue mich des neuen Anblicks. Sie steht auf dem Fensterbrett, direkt vor meinem Schreibtisch und bildet einen schönen Blickfang für mich, der sich stets gern von seiner Arbeit ablenken läßt.

Die Sonne scheint eifrig in mein Zimmer hinein, blendet mich so sehr, daß ich gezwungen bin, ihre Aktivität etwas zu dämpfen, ihre Strahlen mittels eines Vorhangimitats abzumildern. Einen echten Vorhang besitzt das schräge Fenster nicht. Daher muß die Flagge einer Metal-Band dafür herhalten.

Provisorisch befestige ich das obere Ende am Fenster und erfreue mich des Windes, der den Flaggenstoff sanft in Wallung bringt. Doch kaum blicke ich weg, fährt eine Bö durch mein Zimmer, rüttelt wild an der Flagge, die sich jedoch nicht aus ihrer Befestigung löst.
Aber ihre heftigen Bewegungen reißen meine Künstlerpuppe mit sich. Vor wenigen Tagen hatte ich ihre Hände wie während eines großen Schreckens zum Mund geführt, als würde sie immerfort „Oh!“ ausrufen.

Und nun höre ich deutlich, wie Fahne die Künstlerpuppe von ihrem Platz zerrt, sehe vor meinem geistigen Auge die hölzerne Dame „Oh!“ rufen, wende meinen Kopf und erhasche mit meinen Blicken gerade noch ihren Sockel, der hinter dem Fensterbrett verschwindet, dem aus dem Fenster stürzenden Puppenkörper hinterhereilt.

Ein lautes Klackern folgt. Dann herrscht Stille.

Langsam erhebe ich mich, sehe hinaus – und lächle.
Die hölzerne Puppe hat den Sturz überlebt. Kein Wunder, ist sie doch nicht – wie befürchtet – fünf Stockwerke in die Tiefe gefallen, sondern liegt dank rettender Dachschräge kopfüber, aber unversehrt in der Dachrinne anderthalb Meter unter mir.

Tapfer klettere ich auf meinen Schreibtisch, befreie das Fensterbrett von störendem Krimskrams, luge ein weiteres Mal nach außen. Anderthalb Meter sind mehr, als ich mit Armlänge überrücken kann. Und eigentlich will ich es auch gar nicht, mißfällt mir doch der Gedanke, aus dem Dachgeschoß auf den Innenhof zu stürzen.

Ich sehe mich um. Irgendetwas muß es doch geben, das mir behilflich sein kann, irgendein Gegenstand, mit dessen Unterstützung ich die Puppe aus ihrer mißlichen Lage zu befreien vermag. Denn ich habe nicht vor, sie, die ich durchaus mochte und schließlich einst ein Geschenk war, dort, allen Unwettern ausgesetzt, vermodern zu lassen.

Ich benötige etwas Langes, Flexibles – ein Seil. Doch ich habe kein Seil. Wo ist MacGyver, wenn man ihn braucht?
Ich finde nichts. Nichts – außer einem Ledergürtel, dessen Schnallenende bereits eine annehmbare Schlaufe bildet.

Das muß es ein!
Ich schnappe mir den Gürtel, klettere erneut auf den Schreibtisch, strecke meine Arme aus dem Fenster, manövriere die Ledergürtelschlaufe in die Nähe der Puppe. Langsam, vorsichtig, unnötige Bewegungen vermeidend. Das hölzerne Wesen kann jeden Augenblick aus der rettenden Dachrinne stürzen.

Ich habe eine Schlaufe. Doch wohin damit? Noch immer reckt die Puppe beide Arme nach oben. Das „Oh!“ sieht zwar sturzbedingt bereits etwas verzerrt aus, doch gibt meiner Schlaufe die Möglichkeit, sich um einen Arm zu legen.

Ein Geduldsspiel, doch in solchen Dingen bin ich gut. Die Schlaufe findet ihr Ziel, legt sich so, wie ich es mir wünsche. Langsam beginne ich zu ziehen. Die Puppe rührt sich nicht. Irgendwo ist sie verkeilt.
Keine Panik. Ruhig bleiben. Nicht zerren. Sonst dreht sich der Arm nach oben, die Schlaufe rutscht ab und die vielleicht letzte Rettungsmöglichkeit verfliegt.

Ich rüttle ein wenig, sanft, am Gürtel. Die Künstlerpuppe löst sich, gleitet langsam, aber stetig nach oben. Nur nicht zu früh freuen. Nicht nervös werden.
Die Puppe kommt näher. Fast kann ich sie greifen. Gleich. Nur noch wenige Zentimeter trennen meine linke Hand von ihrem hölzernen Leib. Ich ziehe weiter, lache innerlich auf und packe zu.

Ich hab sie!
Vorsichtig klettere ich vom Schreibtisch. Es sähe mir ähnlich, jetzt, nach geglückter Rettungsaktion selbst zu stürzen.
Doch nichts geschieht.

Erleichtert stelle ich die Holzpuppe auf den Boden, lege die Gürtelschlaufe ab, setze mich und lehne mich stolz zurück.
Wer braucht schon MacGyver?

Morgendlicher Ohrwurm 32: Running

Nachdem der gestrige Abend später geworden war als geplant, erwachte ich – die Bauarbeiterbohrmaschinen als Wecker nutzend – gegen zehn und quälte mich aus den Federn. In meinem Kopf hummelte ein Lied herum, wollte nicht weichen, verwunderte mich, berührten doch die Worte eine Thematik, die ich erst heute Nacht erwähnt hatte:

„I’m running
Running for cover
I’m running
Far, far away / for my life.
Running faster and faster and faster.
And falling. Far away.
Falling down one more day.“

[aus: Evereve – „One More Life“]

Nächtliches

Ich habe mich noch nicht entschieden, inwieweit es als Produkt meiner Spontaneität erachtet werden kann, daß ich mich gegen 0.15 Uhr doch noch einmal außer Haus begab, um in Richtung der bereits erwähnten Bar zu radeln und dem dortigen Amüsement zu frönen. Doch begreift man in meinem Fall Spontaneität als das Ergebnis schier endlosen Herauszögerns einer eindeutigen Entscheidung in Kombination mit der Bekanntgabe und dem Ausführen des Entscheids im letztmöglichen Augenblick, so dürfte man nicht falsch liegen, auch meine kurze Reise durch einen erstaunlich dunklen Park als spontan zu bezeichnen.

Ich traf ein und fand – wie erwartet – unzählige Menschen vor, die sich die letzten Stunden der Existenz einer Magdeburger Pingpong-Bar nicht entgehen lassen wollten.
„Du hast die Versteigerung verpaßt.“, begrüßte mich meine Mitbewohnerin ein wenig vorwurfsvoll, nicht im Geringsten von meiner Anwesenheit überrascht. Das wiederum überraschte mich, war ich doch selbst, als ich mit beiden Füßen innerhalb der Bar stand, nicht wirklich davon überzeugt, mich auf den Weg gemacht zu haben.

Der Vorwurf war zum Teil berechtigt: Die Versteigerung schien der Höhepunkt des Abends gewesen sein, und wenn man bedenkt, womit ich in den Augenblicken beschäftigt war, als sie vonstatten ging, kann man nur vorwurfsvoll-enttäuscht mit dem Kopf schütteln.
‚Immerhin habe ich endlich die Slowakei-Fotos auf eine CD gebrannt.‘, versuche ich mich mir selbst gegenüber zu rechtfertigen – doch ich glaube mir nicht.

Aber die Bar war voll, die Tischtennisplatte zum Bersten von Spielwütigen umstellt. Ich besorgte mir Premium Cola und Kelle und reihte mich ein. Das Spiel war träge, doch amüsant. Ich erkannte Gesichter, wechselte wenige Worte mit denen, die sie hören wollten. Trotz Massenandrangs kam ich schnell bis kurz vor das Finale, erwarb zwei Runden später sogar einen Siegpunkt.

Ich war stolz auf mich, ein wenig, hatte ich mir – und den interessierten [und daher inexistenten] anderen – doch gezeigt, daß ich in der Lage war, mich bis zum siegreichen Finale durchzusetzen. Und zugleich war ich enttäuscht, hieß doch dieser Gewinn, daß es hier nichts mehr zu holen gab, daß mein Ehrgeiz gar nicht mehr angestachelt werden brauchte.

Einmal ertappte ich mich lächelnd, lächelte weiter, erfreut. Ich pausierte, beschaute die Spielenden, redete mit meiner Mitbewohnerin, mit anderen. Nichts Bedeutsames, nur Smalltalk, Worte, wie sie ein jeder wechseln würde, der in nüchternem Zustand gezwungen ist, Kommunikation zu betreiben.

Ich leerte meine Cola und wagte eine weitere Runde, gelangte ins Finale, erwarb einen weiteren Punkt. Meine Freude hielt sich in Grenzen.
‚Es wird Zeit zu gehen.‘, sagte ich mir, erlebte nur wenige Sekunden der folgenden Runde, flog raus und gab meine Kelle ab.

Der Heimweg durch die Dunkelheit schaffte Klarheit:

Ich hatte inmitten von Punktwütigen problemlos zwei Punkte geholt – ein Beweis meiner noch immer schlummernden Tischtennisfähigkeiten. Doch die Anzahl der Worte, die meinen Mund verlassen hatten, war minimal. Und keines davon ging in Richtung der Wesen, die anzusprechen sinnvoll gewesen wäre.

Wie alt war ich eigentlich, daß ich mir noch immer über derlei Teenagerkaspereien Gedanken machen mußte?
Es ging mir nicht um Geltungsbedürfnis, nicht darum, der Masse zu gefallen, nicht darum aufzufallen [Und es waren genug Barbesucher dabei, denen das Auffallen durchaus vorrangig am Herzen lag.]. Es ging einzig und allein um den Wunsch nach Gesellschaft, nach dem Lächeln fremder Lippen, nach Worten, die mehr als die Oberfläche berührten.

Vielleicht war es albern, in einer Bar danach zu suchen, mit scheuen Blicken in Frage kommende Wesen zu taxieren und jedes mögliche Wort unter der eigenen Zunge versteckt zu halten. Doch wo, wenn nicht hier?

Der Heimweg war zu kurz.

Für einen Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß ich keinen Schlaf wünschte, ihn für überflüssig hielt, unnütz [wenn man von den Körperregnerationprozessen absah], zeitverschwendend. Ich wollte die Nacht nutzen, fühlte mich frei in der Kühle, die meine nackten Arme berührte, in den Gedanken, die durch meinen Kopf sprudelten, aufgelöst im Moment.

‚Albern.‘, verlachte ich mich und meinte den Wunsch, durch Schlafinexistenz nutzvolle Zeit zu gewinnen. Schließlich hatte ich die letzten Tage nahezu tätigkeitsbefreit vertrödelt, ohne auch nur einen Schimmer von Interesse für die verstreichende Zeit zu haben.

Doch ich wünschte, daß die Nacht noch eine Weile verbliebe, daß ich noch stundenlang durch das Dunkel wandern, mir selbst hinterhersinnen könnte, daß ich mich löste von dem Ich, das träge und antriebslos von Tag zu Tag kroch, ohne Plan und Ziel vor Augen zu haben, ohne sich selbst ändern zu können, ja zu wollen.

Ich wünschte, ich hätte einen Begleiter an meiner Seite, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte, jemanden, der mit mir den Duft der Bäume im Park genoß, sich an der Stille auf den Straßen erfreute, die Glitzeraugen streunender Katzen bewunderte.
Ich wünschte mir, nicht allein zu sein, nicht in diesen wunderschönen Momenten.

Und ich wünschte, fliehen, einen Schlußstrich ziehen zu können, wieder einmal einfach alle Sachen zu packen und woandershin zu eilen. Ich wünschte, mein Studium wäre beendet, und ich bekäme Gelegenheit, irgendwo neu zu beginnen.
Dann könnte ich der Einsamkeit einen Namen geben, könnte mir einreden, es läge daran, weil ich noch so neu hier sei, noch niemanden kennen würde, könnte mich belügen und mir verschweigen, daß sich auch hier die gleichen Geschichten wiederholen werden.

Ich belüge mich, rede mir ein, ich hätte dieses und jenes Bedeutsame zu tun und verbringe die Tage damit, darauf zu warten, daß ich endlich beginne, anstatt mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich tun möchte, die ich mir ersehne.
Ich belüge mich und glaube, daß in ein paar Monaten, wenn sich die Situation geändert, wenn in gewissen Umständen Klarheit eingekehrt ist, alles besser, alles verständlicher, vielleicht einfacher sein wird, daß ich mich dann all dem Ersehnten, Versäumten, hingeben kann.

Doch so ist es nicht, und ich weiß es, verharre im Heute, um der Zukunft nicht begegnen zu müssen. Vielleicht habe ich Angst vor ihr, Angst vor neuen Wegen, neuen Entscheidungen, Angst vor Verlusten, vielleicht vor dem Verlust eines Teiles meiner selbst.
Doch vielleicht verlor ich längst, verlor ich mich längst in meiner eigenen Trägheit.

‚Sprich sie an.‘, flüsterte ich mir zu, als ein sympathisches Mädchen [Gibt es eigentlich einen erwachseneren Ausdruck als „Mädchen“, der nicht „Frau“ lautet?] sich hinter mich in die Tischtennisschlange einreihte.
‚Sprich sie an.‘, doch ich schwieg, bewunderte sie heimlich, genieße ihre Nähe.
Später bemerkte ich, daß ich noch nicht einmal so weit gekommen war, mich zu fragen, welche Worte wohl die geeignetsten wären.

Daß die Trägheit mich festhält, gefangenhält, begriff ich längst. Doch ich selbst bin es, bin die Trägheit, bin der einzige, der mich befreien, der sich entfesseln kann.
‚Ein Neuanfang.‘, denke ich und lächle, ‚Ein Neuanfang. Irgendwo.‘
Flucht als Perspektive – auch kein neuer Gedanke.

‚Wer bin ich, daß ich alles Alte aufwärme und noch immer keinen Antwort fand?‘, wundere ich mich und schüttle mit dem Kopf.
Der Wind spielt in meinem Haar, und ich genieße den Rausch der Geschwindigkeit.

‚Wie war doch gleich die Frage, die es zu beantworten gilt?‘, überlege ich. Ich weiß es nicht, glaube aber, nicht keine, sondern unzählige Antworten gefunden zu haben. Sie alle zeigen, deuten auf mich, behaupten, daß ich es wäre, mein Wille, der mich aus dem Dreck zu zerren, mir eine Richtung zu weisen habe.

Träge gebe ich mir recht und nicke wortlos in die Dunkelheit.