Ich will/sollte lernen.
Und da ich unfähig bin, mich an heimatlichem Schreibtisch nicht abzulenken, mich nicht mit allerhand Nebensächlichem zu beschäftigen [und man darf erstaunt sein, wieviele es davon gibt], begab ich mich auf den Weg zur universitätseigenen Bibliothek, wo zwar wenig Stille zu finden ist, aber immerhin eine Atmosphäre, die einen zum Lernen anspornt.
Leider entschloß ich mich zu spät zu diesem Weg, weswegen die Mensa auf dem Uni-Campus bereits geschlossen hatte und ich ungesättigt die Bibliothekspforten zu durchqueren hatte.
Sollte ich nicht lieber heimkehren oder irgendwohin, wo Nahrhaftes auf mich wartete? Nein, dachte ich, jetzt ziehe ich es durch!
Der nächste Schock wartete nicht lange: Wo ist mein
Einkaufswagen-Bibliotheksspind-Metallchip? Ich fand ihn nicht, fand auch kein Eurostück, das mir aus der Patsche hätte helfen können. Eigentlich hatte ich überhaupt kein Bargeld dabei, verwehrte mir somit auch jede Geldwechseloption.
Eine weitere Enttäuschung, die mich hätte erschüttern, vielleicht vom Lernen abhalten sollen.
Doch ich gab nicht nach, wühlte minutenlang in den unerforschten Tiefen meines Rucksacks und beförderte ein 2-Euro-Stück hervor, das ich lächelnd im Sonnenlicht blitzen ließ.
Forsch erklamm ich die wenigen Stufen, die mich vom Bibo-Café trennten und erwarb nicht nur eine durststillene, kühle Cola, sondern auch ein nützliches Ein-Euro-Stück.
Zurück zu den Spinden, dachte ich mir und rannte die Treppe wieder hinunter. Die Nummer 23 wählend warf ich mein neuerworbenes Eurostück ein und erfreute mich das angenehmen Klackergeräuschs.
Dann packte ich meine Lernutensilien – inklusive eines netten Ablenk-Comics – aus, doch mußte feststellen, daß das einzige Schreibgerät, das ich hervorzaubern konnte, ein – meiner Erinnerung nach – nutzloser, da mit geleerter Mine bestückter Kugelschreiber war.
Nun war der rechte Zeitpunkt gekommen, um aufzugeben und heimzukehren. Das Schicksal hatte es nicht anders gewollt.
Aber ich entsann mich, bei meiner Rucksack-Münzwühlaktion vorhin etwas Stiftähnliches gespürt zu haben, kramte erneut wie wild herum, förderte den gesamten Rucksackinhalt zutage – und mit diesem auch zwei Kugelschreiber.
Irgendeiner von denen muß doch funktionieren, dachte ich, und packte alle drei verfügbaren in meinen Korb, wo schon die Cola und die restlichen Lernutensilien auf mich warteten.
Flugs erstürmte ich die Stufen, betrat den eigentlichen Bibliotheksbereich. Zwei Studentinnen kamen mir entgegen, die ich kannte und mochte. Ein Smalltalk war unausweichlich – doch das war die erste Verzögerung, die mir behagte.
Kaum waren die Abschiedsworte gesprochen, wurden die zwei Eingangswächter auf mich aufmerksam. Die beiden haben den gesamten Biblitohekstag nichts weiter zu tun, als am Eingang zu stehen und darauf zu achten, ob die bösen, bösen Studenten nicht heimlich Rucksäcke oder Nahrungsmittel mit einschleusten.
Nun ja, normalerweise steht dort nur eine Person:
Ein übergewichtiger, kahlköpfiger Brillenträger, den ich noch nie einen Laut habe sagen hören, oder eine blondierte Mittfünfzigerin, die zuweilen recht streng blickt.
Sie stehen herum, zumeist in der Nähe eines Tisches, auf dem diverse Informationsbroschüren über Bibliotheksverhaltensregeln ordentlich gestapelt liegen.
[Ich habe übrigens niemals jemanden bemerkt, der eine solche Broschüre in der Hand hielt oder sich auch nur ansatzweise dafür interessierte.]
Die blondierte Frau trat auf mich zu:
„Moment.“
Ich blieb stehen.
„Haben Sie dort etwa eine Flasche?“
Ich versuchte es gar nicht erst zu leugnen, gab es unumwunden zu; schließlich hatte sie die Colaflasche bereits durch die Korbritzen ausmachen können.
Normalerweise wurde das nicht bemerkt, denn mein Korb war für gewöhnlich recht voll, ich bewegte mich zumeist recht rasch, und die Augen des Mannes sind träge.
„Ja, durchaus.“, antwortete ich. „Für nachher.“
„Das ist aber nicht erlaubt.“
„Ich weiß.“, seufzte ich ergeben.
Nun wurde der Brillenträger aufmerksam, empörte sich.
„Hoho.“
Viel mehr brachte er nicht heraus angesichts der ungeheuren Frechheit, die ich zu begehen gewagt hatte.
Ich drehte mich um und brachte, in mich hineingrummelnd, die Flasche in meinen Spind. Treppe runter.
Noch während ich an meinem Spind stand, zögerte ich:
Sollte ich nun endgültig aufgeben, nun nachdem ich mehrere Male mutwillig von meinem Vorhaben, endlich ein wenig zu lernen, abgehalten worden war? Sollte ich das Schicksal obsiegen lassen und heimkehren, im Geiste allen Hindernissen meinen Mittelfinger zeigend?
Nein!, dachte ich energisch und eilte treppauf in die Bibo zurück, an den beiden Wächtern vorbei, die diesmal auf meine Ehrlichkeit zu vertrauen schienen und mich keiner Leibes- bzw Korbesvisitation unterzogen, die Stufen hinauf in die erste Etage, wo ich meinen Sitzplatz finden wollte.
Doch noch bevor ich diesen erreichte, begegnete mir S. Ich kann S nicht leiden, will ihn nicht sehen, nichts von ihm wissen, erst recht nicht mit ihm reden. Er nervt mich, seitdem ich ihn erstmals sah.
Grinsend begrüßte er mich. Leise grüßte ich zurück, gab den Anschein äußerster Eile, konzentrierter In-Mich-Selbst-Gekehrtheit. Er hakte nicht nach, ging weiter.
Ich atmete auf.
Dann fiel es mir ein:
Mein Bibliotheksgeräuschabsorber, mein wunderbarer-mp3-Player, lag noch immer zu Hause, war nicht in meiner Nähe, konnte mir nicht helfen, den nervigen Bibliothekslärm zu unterbinden. Stöckelschuhgeklacker, Tastaturklappern, Menschgeplapper, … – all das wartete auf mich, um mich zu stören, zu behindern.
O nein!, dachte ich.
Ich brauche eine Pause!, entschied ich, setzte mich an einen freien Rechner und schrieb die soeben erlebten Augenblicke nieder.