Mein Zahnarzt ist eine Frau. Das ist weder ungewöhnlich noch unerträglich, aber Grundlage für folgende Worte.
Nachdem ich als Dreizehnjähriger wegen eines selbstverschuldeten Fahrradunfalls ohne weitere Opfer [Ich fuhr gegen ein parkendes Auto.] einen Oberkiefervorderzahn und eines Teil des zweiten verlor, war ich über einen längeren Zeitraum in Behandlung bei einer Zahnärztin, die ich nicht leiden konnte. Ihre Assistentinnen waren nicht weniger unangenehm, weswegen ich meine ohnehin latent existente Abneigung gegen Zahnärzte noch schüren konnte. Mehrmals in der Woche zu selbem Ort gehen zu müssen und sich dort behandeln, also mit allerhand beängstigenden Werkzeugen und Materialien im Mund herumwerkeln zu lassen – selten ohne begleitende Dosis Schmerz – trug nicht dazu bei, meine Zahnarztphobie zu beseitigen, ganz zu schweigen von den zusätzlich notwendigen Torturen, die mir die Kieferorthopädin auferlegte, ebi der ich außerdem in Behandlung war.
Mit 18 wurden dann meine beiden mehr oder minder privsorisch reparierten Schneidezähne komplett entfernt und durch Imitate ausgetauscht. Das war nötig gewesen, doch fortan fehlte jede Notwendigigkeit, Zahnärzte aufzusuchen. Halbjährlichen kontrolluntersuchungen ging ich nach, so ich es schaffte, meine Abneigung kurzzeitig zu verdrängen, doch für alles, was außerhalb dieser Routinebehandlungen stattfand, stand ich nicht zur Verfügung.
Einst wurde ich zum Kieferchirurgen überwiesen, der einen schiefstehenden Weisheitszahn aus meinem Mund herausreißen sollte. Ich trug die Überweisung wochenlang mit mir herum, konnte mich aber nicht dazu entschließen, den kieferchirurgen tatsächlich aufzusuchen. Allein „Chirurg“ klang gefährlich – und die Weisheitszahn-Entfernungs-Erfahrungsberichte, die mir zu Ohren gekommen waren, motivierten mich auch nicht sonderlich. Nach drei Monaten verfiel die Überweisung, und ich war erlöst. Vorerst.
Ich legte eine Zahnarztbesuchspause ein. Rechnete man Zahnspangenwartungs- und korrekturarbeiten mit ein, hatte ich bereits mehr Zeit bei derartigen Ärzten verbracht, als ich akzeptieren konnte. Und überhaupt: halbjährliche Routineuntersuchung – das war etwas für Weicheier. Ich hatte keine spürbaren Probleme, also gab es auch keinen Grund, einen Arzt aufzusuchen.
Irgendwann gab es ihn dann aber doch, den Grund. Irgendetwas in meinem Mund schmerzte und wollte behandelt werden. Zweieinhalb Jahre lang hatte ich die Zahnärztefraktion gemieden und sollte nun vom Schicksal, von Gott oder von wem auch immer dafür zur Rechenschaft gezogen werden. ‚O nein!‘, dachte ich und zögerte den Besuch noch ein paar Tage hinaus, bis ich mich dem Unausweichlichen zu fügen hatte.
Was lag näher, als das Naheliegenste zu wählen: Die Zahnärztin, die ich zu besuchen gzwungen [nicht: gewillt] war, hatte ihre Praxis nur wenige Fußwegminuten entfernt von meinem Domizil. Mich störte nicht, am letzten Tag eines Quartals noch die üblichen zehn Euro herausrücken zu müssen, solange der Zahn wieder geheilt werden würde.
Die Zahnärztin war lieb und vertrauenserweckend. Die Schwestern wirkten nicht minder sympathisch und um mein Wohlergehen besorgt. Zum ersten Mal verlor ich einen Teil meiner Zahnarztangst. Alles könnte gut werden, glaubte ich zu ahnen.
Wurzelbehandlung. Das Wort dröhnte durch meine zahnarztfürchtenden Ohren und klammerte sich mit eiskalten Klauen im Magen fest. Ohne wirklich zu wissen, was dahinterstand, war klar: Eine einmalige Behandlung würde nicht ausreichend sein. Auf keinen Fall.
Der nächste Termin sollte das mir eingesetzte Provisorium durch den nächsten Schritt im Wurzelbehandlungs-Standard-Algorithmus ersetzen, doch ich nahm ihn nicht wahr. Warum auch. Das Provisorium hielt, und schnell vergaß ich, daß es nur vorübergehend sein sollte. Die alte Angst, die längst nicht zurückgewichen war, kam wieder hervor und ließ mich den Termin vergessen, wog mich in falsche Sicherheit.
Das Provisorium hielt vermutlich länger, als die Zahnärztin es vermutet hatte, doch für mich nicht lange genug. Eines Tages fehlte meinem Zahn, ohnehin längst tot, der Inhalt. Jede einzelne provisorische Innerei war einem schier endlosen Loch gewichen, in dem ganze Mahlzeiten Platz finden konnten, und mir wurde klar, daß ich meine Zahnärztin besuchen und meine Schuld eingestehen mußte.
Die Zahnärztin war lieb, nicht wirklich erfreut, aber lieb, erstzte das Loch durch ein neues Provisorium, das alsbald weiterbehandelt werden mußte. Ihre Worte waren nicht von Dringlichkeit, und die Schwestern akzeptierten, daß ich wegen meines vergessenen Kalenders mir noch keinen neuen Behandlungstermin geben lassen konnte. Die alte Angst rieb sich hämisch die Hände: Ach, einen neuen Termin kannst du dir immernoch holen. Vorerst ist ja alles gut.
Nach zwei Wochen, das erfuhr ich irgendwann, hätte das Provisorium spätestens weiterbehandelt werden müssen. Zwei Monate nach meinem letzten Termin jedoch bemerkte ich erstmals Mißstände im Mundbereich. Irgendetwas war dick, die Zahnwurzel war geschwollen. Ich brauchte einen neuen Termin.
Eine Woche später saß ich erneut auf dem Zahnarztstuhl. Erstmalig war die Zahnärztin unfreundlich, herablassend. Warum ich denn nicht rechtzeitig, was ich mir dabei gedacht, es sei meine eigene Schuld, Wurzelbehandlung steht in Frage, alles entzündet, geht so nicht, kann nichts machen, muß erst abklingen, vielleicht Zahn ziehen, Zahnersatz, teuer.
Was!? Zahnersatz? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer nich gewußt, was eine Wurzelbehandlung eigentlich war. Zwar hatte mir die Zahnärztin erklärt, daß der Backenzahn drei Wurzelbeinchen habe, die soundso aufgebaut seien undsoweiterundsofort, doch niemals war die Rede davon gewesen, daß Wurzelbehandlungen einen toten Zahn retten, stabilisieren und einem Zahnersatz, der bekanntlich Unmengen von Geld kostet, vorbeugen sollen. Niemals!
Ich war wütend. Sicherlich, das konnte ich nicht verhehlen, war es meine eigene Dummehit, meine Faulheit, meine Angst, die mich hierher gebracht hatte. Doch warum hatte ich nie etwas von den Konsequenzen erfahren? Warum hatte man mir verschwiegen, welche Folgen meine Dummheit haben könnte?
Die Schwellung klang nicht ab. Der Zahn war offengelassen worden, sammelte nach jeder Mahlzeit fleißig Vorräte, die zu beseitigen sich als außerordentlich schwierig erwies. Ich mochte meine Zahnärztin nicht mehr, fürchtete mich mehr als je zuvor vor dem nächsten Termin. Schließlich kam jetzt zu meiner normalen Furcht auch das schlechte Gewissen, das mich plagte.
Sie könne nichts machen, meinte die Zahnärztin eine Woche später und verschrieb mir ein Antibiotikum. Durch die Entzündung sei die Wurzel angegriffen worden, ein Zahnziehen sei unvermeidlich. Ich hatte mich bereits mit diesem Schicksal abgefunden und begann erstmals, Fragen zu stellen. Und endlich fand ich auch wieder die Zahnärztin, die mir anfangs, beim ersten Besuch, jede Furcht genommen hatte.
Beruhigend, fast mütterlich, klärte sie mich auf, was geschehen würde, welche Alternativen ich hatte. Keine Zahnwurzelbehandlung mehr, Antibiotika zur Reduzierung der Entzündung, mit entzündetem Zahn sei gar nichts machbar, eine Woche lang Tabletten schlucken, dann Zahn ziehen, kein Zahnersatz, der Weisheitszahn würde aushelfen.
Der Weisheitszahn? Jener Weisheitszahn, den zu ziehen ich verweigert hatte, indem ich die Überweisung zum Kieferchirurgen sinnlsoerweise mit mir herumschleppte, aber nicht wahrnahm? Dieses Zeichen meiner Furcht, meiner Faulheit, sollte mir nun helfen? Ich wunderte mich, schöpfte Hoffnung. Der Weisheitszahn, meinte die Ärztin, würde ein wenig nachrücken. Ein teurer Zahnersatz war daher voerst nicht nötig. Und Wurzelbehandlungen seien sowieso immer voller Risiko; die Wurzel könne ja jederzeit Probleme bereitn, vor allem bei einem Zahn mit drei Wurzelbeinchen…
Nun also hieß es: Zahn ziehen. Mich graute davor, doch das Gros der Furcht hatte ich beim letzten Mal im Wartezimmer vergessen. Eine Woche lang schluckte ich Antibiotika, bis der Termin heranrückte. Ich saß im Behandlungsstuhl und wartete auf die Spritze. Es schmerzte kurz, doch nicht unerträglich. Schlimmer war die Radiodudelmusik, die im Hintergrund lief.
Mir wurde die Brille abgenommen, während ich wartete, daß die Betäubung wirkte. Eine kleine Stichprobe [pun intended], und es konnte losgehen. Die Zahnärztin, wieder die freundliche, zerrte kräftig.
‚Zahnärzte sind destruktiv‘, dachte ich noch und grinste in mich hinein, ‚können nur kaputtmachen.‘
Ich hielt mich am Behandlungsstuhl fest, beziehungsweise wollte mich festhalten. Doch mit jeder Bewegung meiner Hände berührte ich den Oberschenkel der Zahnärztin oder ihrer Helferin. Sie ließen es sich nicht anmerken; doch mein inneres Grinsen wuchs, als meine Händw an weißem Stoff vorbeiglitten und sich am Stuhlleder festkrallten.
‚Kein Wunder, daß ich Angst vor Zahnärzten habe.‘, dachte ich. ‚Als männliches Wesen muß ich über mich ergehen lassen, wie zwei oder drei Frauen gleichzeitig mit Metall- und Plastikwerkzeugen in meinem Mund herumstochern, an meinen Zähnen werkeln, die ich nie für die attraktivste Seite meiner selbst heilt, ja zumeist, selbst im Lächeln, zu verbergen suche.
Unterwürfig liege ich hier, zur Bewegungslosigkeit verdammt, meiner männlichen Würde nahezu beraubt, völlig ausgeliefert der Willkür dieser Frauen. Und wenn ich meine Hände bewege, ihre Schenkel berühre, droht mir womöglich noch eine Klage wegen sexueller Belästigung.‘
Das dudelnde Radio vermochte nicht, mich vom Gezerre an meinem toten Zahn abzulenken, doch meine Gedanken konnten es. Wäre mein Mund nicht voller Hände und Gerätschaften gewesen, hätte mein Grinsen die Dimensionen des Möglichen gesprengt.
„Es ist gleich vorbei.“, tröstete mich die Schwester, und ich war froh, von weiblichen Wesen behandelt zu werden, die brutal zu bohrten oder an Zähnen zogen, und zugleich Beruhigend-müttleriches von sich gaben, ja ihrer Sorge um mein Wohlergehen deutlich Ausdruck verliehen.
„Das wars.“, sagte die Zahnärztin plötzlich und zog den blutigen zahn aus meinem Mund. Irgendwo anders verweilte meine Brille, und ich erkannte nichts.
„Machen Sie langsam. Gehen Sie nach Hause. Legen Sie sich dort eine Weile hin. Sie haben es überstanden…“
Der tröstende Singsang wogte mich in Zufriedenheit und obwohl der fehlende Zahneinen schmerzenden letzten Gruß hinterlassen hatte, und obwohl ich gerade vom Zahnarzt kam, einem ort, dem ich normalerweise tiefste Abscheu, größte Furcht, entgegenbrachte – war ich guter Dinge, eins mit der Welt und dem Loch in meinem Mund.
Fällt ellenlange Texte schreiben auch unter „Machen Sie langsam“? Klingt sehr plastisch und erzeugt großen Widerhall in meinem kleinen Köpfchen. Gute Besserung!
Yours, Verbrachtevieletagedesletztenjahresebensowiedu.
REPLY:
Äh… Keine Ahnung. Auf jeden Fall wundert eich mich über das Wort „langsam“. Schließlich bin ich allgemein recht ruhig und versuche stets, frei von Hektik zu bleiben.
Daß der Text ein langer wurde [übrigens recht flink und keineswegs langsam getippt], hat er sich selbst zuzuschreiben. Eigentlich wollte ich nur das Bild der Fruaen um mich herum inklusive der Festkrallmöglichkeiten suchenden Hände schildern, aber die Vorgeschichte drängte sich mir auf, und jetzt, wo ich es niederschrieb, freue ich mich, daß es überhaupt jemand las…
Wunderbar erzählt – ich war so dermaßen gefesselt, dass ich mich richtig erschrocken habe, als das Ende der Geschichte meine Netzhaut traf.
(Oh, und wie ich diese Zahnarzt-Angst nachfühlen kann! Ich schaffte es ja noch nicht mal zu regelmäßigen Routine-Untersuchungen, würde mich mein Kerl nicht regelrecht dazu zwingen.)
REPLY:
… und vielleicht gelingt es mir, mit obigen Worten den Lesenden einen Teil ihrer Furcht zu nehmen …
[Das wäre dann meine gute Tat für heute.]
Der milde Schluss täuscht nicht über den furchtbaren Inhalt hinweg. Meine Zahnarztphobie wird wohl noch bleiben. Das mit dem Termine auschieben kenne ich. Ich habe mal einen Zahnarzttermin ein halbes Jahr verschoben und mich jede Nacht mit Alpträumen geplagt.
Herzliches Beileid jedenfalls.
REPLY:
Hat denn jeder hier Angst vor dem Zahnarzt? Kann nicht mal jemand ein ultimatives Patentrezept dagegen entwickeln? Wird ja offensichtlich Zeit dafür…