Besuch

Ich hatte erwartet, gehofft, diesmal würde es anders sein.
Als du dich verabschiedetest, blieb ich nicht zurück. Meine Wege warteten, begangen zu werden, Menschen umschwirrten mich mit ablenkenden Worten und Gesten, mit Lachen und Lebendigkeit. Ich konnte mich vor mir verstecken, irgendwo, wo man mich aufnahm und glauben ließ, diesmal würde es anders sein. Als du gingst, hinterließest du mich in einem selbstgestrickten Wirrwarr, das mich kleidete, wie ich meinte, das mich auffing und mein Lächeln bewahrte.

Ich begann, die Vergangenheit in Frage zu stellen. Nicht vorstellbar war es, daß ich früher nach deinen Besuchen mehrere Tage lang unfähig gewesen war, mich zu rühren, mich von der Allgegenwart der Gedanken zu lösen. Nicht vorstellbar war es, daß ich einst stundenlang alles aus deinem Mund Ertönte noch einmal belauscht hatte, als könnte ich darin tiefere Weisheit, Erkenntnis, finden, als führten die verklungenen Laute Spuren dessen mit, was mich in deiner Gegenwart so glücklich gemacht hatte.

Das war nicht ich, der dort bei dröhnendem Lärm Stille suchte, Stille vor sich selbst, Stille vor dem Wissen um die ewige Vergeblichkeit seines Fühlens, Stille vor den Ruinen, die ein einziges Lächeln in seinem Schädel freigelegt hatte. Das war nicht ich.

Ich war das Wesen, das sich nun lachend unter Menschen mischte, sich amüsierte und Wohlbefinden aufsaugte, als könnte es dein Fehlen ersetzen. Ich war das Wesen, das erwartete, diesmal würde es anders sein.

Nur wenige Zentimeter vor meinen Augen hattest du in unberührbarer Ferne geschlummert – ein zerknittertes Shirt und ein zerzaustes Büschel Haare waren alles, was die Decke nicht verbarg. Mir war es genug, genug, um zu wissen, was ich immer wußte. Dein Atem, von Schnupfen mit Schwere belegt, zeugte von deiner Gegenwart, und ich lächelte, dankbar dafür.

Dich nun, in diesen Augenblicken, zu berühren, meinen Schlafsackraupenkörper in die Nähe deines zu rücken, wäre ein Frevel gewesen, ein Gewaltakt an der Wehrlosigkeit der Schlafenden. Ich verharrte still, zu keiner Bewegung, zu keinem Laut imstande, dich nicht stören wollend in deiner Knitter-T-Shirt-Wirrhaar-Pracht. Dich zu wecken hätte bedeutet aufzustehen, das hauchdünne Band wieder zu zerreißen, das meine Sehnsucht zwischen uns gesponnen hatte.

Am Abend zuvor hatten wir uns in samtroten Sofakissen gekuschelt und geredet, und endlich war es mir geglückt, Fragen zu stellen, deren Antworten mich interessierten, am Dasein eines Mitmenschen teilhaben zu wollen. Wir redeten, und ich badete in dem, was sich aus deinem Herzen ergoß.

Die Intensität, meinte ich schließlich, sei mir abhanden gekommen. Es gebe das Gute und das Schlechte, das Schöne und das Unangenehme, doch nichts davon berühre mich wirklich, nichts davon risse mich auf, nichts davon erreiche mich im Innersten. Es gebe Menschen, denen Sympathien zuteil wurden; und doch fehlte der letzte Schritt, der letzte Schliff. Es gebe Ereignisse, die mein Lachen fanden; und doch vermißte ich das „mehr“, die Grundsubstanz, irgendetwas, fernab meiner schimmernden Oberfläche.

Die Intensität sei mir abhanden gekommen, behauptete ich, doch ich ahnte, daß ich gelogen hatte. Allein das Wissen um deinen Besuch hatte das Fehlende zurückgeholt. Und doch glaubte ich, daß diesmal alles anders sein würde.

Der Tag danach war angefüllt mit mir. In der Stille der Dinge, die ihrer Erledigung harrten, fand ich das Altbekannte. Nichts war anders.

Mit Trägheit befüllt versuche ich mich, durch die Zeit zu schlagen, Notwendiges über mich ergehen zu lassen, meinen Schädel mit Leere zu füllen.
Doch meine Finger zittern, und Tränen lauern in meinen Augen.

Ich kreise um dich, und nichts ist anders.

[Im Hintergrund: Stillste Stund]

4 Gedanken zu „Besuch“

  1. REPLY:
    Aber wenn wir alle suchen, müßte dann nicht irgendwer endlich mal finden – und das Suchen sein lassen? Oder sucht man nach dem Finden weiter?

    [DIe Schweirigkeit an obiger Situation leigt evtl dain, daß das Finden längst eingesetzt hatte, aber bereits abgeschlossen ist, so daß man jetzt nur noch von einem Zurücksuchen, vmtl einseitigerdings, sprechen kann, wenn überhaupt.

  2. REPLY:
    Klar sind viele fündig geworden. Aber nach einer gewissen Zeit fragen sie sich dann, ob sie wirklich das gefunden haben, was sie suchten. Dann sagen sie entweder Tschüß zueinander oder verfahren nach der Devise „Wenn man nicht hat, was man liebt, muß man lieben, was man hat.“

    Und: selbst eine unerfüllte Liebe ist besser als gar keine. Finde es heraus! Manche wissen nicht einmal, was das ist, die Liebe.

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