Der Tiger

Der Tiger hatte keinen Namen. Er wohnte seit drei Wochen in meinem Treppenhaus und tat eigentlich nichts weiter als mich anzuschauen. Manchmal noch nicht einmal das.

Als ich ihm das erste Mal begegnet war, befand er sich an der Eingangstür. An jener Eingangstür, die ich als „meine“ bezeichnete, die darauf wartete, dass ich meinen Haustürschlüssel in sie steckte, ihn drehte, sie beiseite schon und das Gebäude betrat. An jener Einganstür, hinter der sich eine Ansammlung verbeulter Briefkästen und zahlreicher Stufen befand. 103, um genau zu sein.

Ich betrachtete den Tiger, der vor der Eingangstür stand, als begehrte er Einlass, und sah mich um. Niemand war zu sehen. Kein schnauzbärtiger Dompteur, dem die Raubkatze entkommen sein konnte, keine mit Betäubunggewehren ausgestattete Jagdeinheit des Zoos, die hektisch jeden möglichen Skandal vermeiden wollend das entlaufene Tier wieder in seinen Käfig zu bringen versuchten. Niemand.

Der Tiger betrachtete mich, und ich lächelte dümmlich. Ich bin harmlos, wollte ich damit ausdrücken, bis mir klar wurde, dass ich mich gerade als Opfer präsentiert hatte. Doch der Tiger bewegte sich nicht, schien nicht willens zu sein, mich anzugreifen, die Krallen auszufahren und mir an den Hals zu fallen. Er drehte nur leicht den Kopf und blickte auf meine Hand. Besser: Auf die Schlüssel in meiner Hand.

Ich klapperte mit dem Schlüsselbund. Ich erwartete nicht, das stolze Tier damit erschrecken oder gar vertreiben zu können und war ein wenig überrascht, dass er tatsächlich ein wenig beiseite trat. Nicht weit genug, um keine Gefahr mehr darzustellen, doch immerhin weit genug, um mir Platz zu machen. Um mir Zugang zur Haustür zu gewähren.

„Nun gut.“, sagte ich und klaubte alle Entschlossenheit aus meinem Herzen, die ich finden könnte. Probeweise klapperte ich noch einmal mit dem Schlüsselbund, doch der Tiger reagierte nicht.
„Nun gut.“, sagte ich noch einmal und schloss die Tür auf.

Raschen Schrittes lief ich an den Briefkästen vorbei, hastete die 63 Stufen zu meiner Wohnung hinauf, schloss auch dort auf, warf mich hinter die Tür und knallte sie zu. Uff, dachte ich. Entkommen.

Von da an sah ich den Tiger täglich. Wenn ich arbeiten ging. Oder einkaufen. Wenn ich Freunde besuchte. Wenn ich den Müll wegbrachte. Er war immer da.

Nur selten sah ich ihn sich bewegen, doch seine Blicke folgten mir. Er beobachtete mich.

„Du musst doch Hunger haben.“, meinte ich ein paar Tage später und stellte ihm einen Teller hin, auf dem sich zwei saftige RIndersteaks befanden. Der Tiger rührte sich nicht, schien mich gar zu ignorieren, doch als ich ein paar Stunden später nachschaute, war der Teller leer. Gut so, dachte ich und beschloss, in nächster Zeit mehr Fleisch zu kaufen.

Der Tiger hatte keinen Namen. Er wohnte in meinem Treppenhaus, und ich begegnete ihm täglich. Und auch wenn er sich kaum rührte, so glaubte ich doch, dass wir uns allmählich näher kamen.

„Du hast gar keinen Namen.“, sagte ich also zu ihn, exakt drei Wochen, nachdem ich zum ersten Mal begegnet war. Er sah mich an, und man hätte ihn für ausgestopft halten könnten, wäre da nicht dieses wilde Funkeln in seinen Augen gewesen, dieses Feuer, das mir manchmal furchtsame Schauer über den Rücken jagte.

„Ich nenne dich einfach Peter.“, sagte ich zu dem Tiger und wartete auf eine Reaktion.
„Peter.“, wiederholte ich und grinste dümmlich.

Nach einer Weile erhob sich der Tiger, langsam, majestätisch, doch mit faszinierender Eleganz.
„Peter ist kein Name für einen Tiger.“, brummte er und huschte die Treppen hinab.

Ich sah ihn nie wieder.