Der Atmer

„Du kannst wirklich gut atmen.“, sagte ich zu ihm, und er grinste stolz. Ich bewunderte ihn, ihn, der es sogar jetzt, in diesem Augenblick, da er die Mundwinkel auf seinem gesamten Antlitz ausgebreitet hatte und seine wahrlich gut gepflegten Zähne präsentierte, während er mich also mit blitzendem Kauwerk und nicht minder, allerdings vor Stolz und nicht vor Reinheit, blitzenden Augen angrinste, schaffte, besser zu atmen, kunstvoller zu atmen, ästhetischer zu atmen, als irgendjemand, dem ich jemals in meinem gesamten Leben zuvor begegnet war.

„Dafür hast du bestimmt lange geübt.“, sagte ich zu ihm, doch er schüttelte den Kopf.
„Ja und nein.“, erklärte er, und zwischen den Silben, die sein Gesicht verließen, perlten die kostbaren Atemzüge hervor, deren Eleganz und Schönheit ich so bewunderte. „Es ist mir in die Wiege gelegt worden.“

Ich hörte ihm zu, doch eigentlich nicht ihm, nur seinen Lungen, nur seinen Lippen, die bei jedem Ein- und Ausstoßen von Luft ein wenig vibrierten, nur der winzigen Veränderung seiner Stimmlage, wenn sich die Meisterhaftigkeit seines Atmens zwischen das Erzählte drängte. Er berichtete von seinem Vater, der wohl keineswegs ein guter Atmer gewesen war, von seiner Mutter, die bereits im Kindbett verstarb, weil ihr das Pressen und Keuchen nicht bekommen war, von Küstenwinden, die stets guter Inspirationsquell gewesen waren, von langen Stunden unter Wasser, in denen er seine Technik zur Perfektion getrieben hatte, von langen Stunden in der Stille seiner Kammer, in denen er nichts weiter vernahm als das beglückende Geräusch perfekten Atmens.

Ein Künstler war er, das wusste ich, doch einer von jenen, die sich ihrer Fähigkeit bewusst waren, einer von denen, die sie nutzten, ausnutzten, um Leitern nach oben zu besteigen, Normales hinter sich zu lassen und sich der Unsterblichkeit zu widmen. Einer von jenen, die man im ersten Augenblick mit atemloser Bewunderung zu überhäufen sucht, deren Übermenschlichkeit jedoch im zweiten Moment zusammenfällt wie ein Kartenhaus, das einer lauen Brise ausgesetzt ward. Er erzählte, und mit jedem Wort ließ er das Bild, das seine Atemzüge in mir gezeichnet, hingehaucht hatten, weiter bröckeln, enttäuscht in sich zusammenfallen, begleitet von zierlichen Luftwirbeln, die nur noch begleitendes Beiwerk für ihn zu sein schienen.

„Und doch.“, unterbrach ich ihn, und für einen Sekundenbruchteil genoß ich die klare Pracht seines überraschten Einatmens, „Und doch ist alle Schönheit vergänglich, nichts wert, wenn sie überbordet, wenn sie jeden befüllt, jedem zugänglich ist. Nur was rar ist, kann dauerhaft Wert bewahren.“

So sprach ich und ging, ein wenig zögerlich, wollte ich doch noch ein wenig in der Nähe dieses kunstvollen Atmens verweilen, doch letztlich mit dem Wissen, einen Stein in Rollen gebracht zu haben.

Wenige Tage später fand man ihn in seinem Appartement in der Südstadt. Er sei erstickt, meinte der Gerichtsmediziner. Seit Tagen hätte er versucht, weniger und weniger zu atmen, sich seinen kostbaren Hauch aufzubewahren, ihn zur Seltenheit werden zu lassen, erklärten die Nachbarn.

Ich würde ihn nicht vergessen, den kunstvollsten Atmer der Welt, schwor ich mir und zündete mir eine Zigarette an.