Im Tunnel

Der Tunnel ist ein guter Ort, um Abneigungen zu entwickeln. Insbesondere gegen Menschen.

Da ist der unvermeidliche Akkordeonspieler, der genau um die industriegebietigen Stoßzeiten weiß und sich nicht nur zur Arbeitsbeginn- und -endzeit in der Mitte des Tunnel positioniert, sondern zuweilen auch die mengenstarke Tunnelbevölkerung während der Mittagspausen ausnutzt, um ein paar Münzen zu erspielen. Ich mag weder sein Instrument noch bin ich willens, mich morgens um 7 auf russische Volkslieder oder beschwingten Tango einzulassen. Ich ertrage ihn, und einzig der Umstand, dass in seiner unmittelbaren Nähe zumeist viel Freiraum gelassen wird, spricht für ihn. Denn dort öffnet sich plötzlich inmitten von Menschenfluten eine Lücke, die mir raschere Hindurchschlängelei ermöglicht.

Dann sind da noch die Raucher, die elenden Wesen, die mir zugleich Mitleid und Verachtung entlocken. Der Bahnhof ist als rauchfrei gekennzeichnet, doch sobald man ein paar Stufen in Tunnelrichtung geht, sind die ersten Zigaretten entzündet, und die Luft verdient nicht länger die Bezeichnung. Wo innerhalb von Sekunden Hunderte Menschen passierten, reicht ein einziger, um allen das Atmen zu erschweren.

Doch es bleibt nie bei einem einzigen, und dass ich am frühen Morgen anscheinend besondere Sehnsucht nach klarem, unbesudeltem Äther verspüre, interessiert niemanden. Die wenigen Meter bis zum Tunnelende sind zuviel für sich sehnende Gelbfinger, nicht zuletzt, weil dort bereits der Bus wartet, der die zur Arbeit Eilenden ein Stück näher an ihr Tageswerk führen soll. Mir bleibt nur, die Luft anzuhalten und mich so schnell wie möglich vor den Glimmstängelhalter zu schieben.

Dann gibt es noch die Fußgänger. Ich selbst verweile auf dem Fahrradsattel, passe meine Geschwindigkeit den mich Umgebenden an, suche hin und wieder eine Lücke, um voranzupreschen, doch bewahre permanent Ruhe und Rücksicht. Der Aufgang zur U-Bahn ist rechts, also halte ich mich links. Dann kommen zwei Aufgänge zur S-Bahn, und ich ordne mich nach rechts ein, versuche, den wilden Menschenstrom nicht zu kreuzen.

Ich drängle nicht, klingle nicht, gliedere mich ein, fahre so vorausschauend wie möglich, um niemandem ein Hindernis zu sein, um keinen Unmut zu wecken. Doch Fußgänger sind anders. Im letzten Augenblick durchqueren sie den Tunnel in seiner gesamten Breite, um auf die andere Seite zu gelangen, kreuzen meinen sorgsam gewählten Pfad. Sie ordnen sich nicht ein, denken nicht voraus. Menschen, die sich für schneller halten, drängen sich vor mein Rad und beginnen dann schneckenartig durch die Unterführung zu gleiten. Scheinbar grundlos wird plötzlich innegehalten, egal ob irgendwer dahinter läuft oder fährt.

Und dann die Kinder. Wo Menschenmassen sich tummeln, sind Kinder nicht fern. Und Kinder gehen nicht. Sie stehen oder rennen, sehen sich und ihre Freunde, doch niemals Passanten, niemals Fahrräder. Der Bogen, den ich um sie mache, reicht nie aus, und ich danke oft genug meinen Bremsen für ihre Funktionstüchtigkeit.

Außerdem danke ich den Hunden, die anscheinend an S- und U-Bahnhofen nur in geringer Anzahl vertreten sind und mit angenehmer Abwesenheit das Chaos reduzieren. Und trotzdem: Sobald die eine oder andere Bahn eintrifft, ist der Tunnel vollgestopft mit Leben, das in Maximalgeschwindigkeit zum präferierten Ende zu eilen sucht.

Und mittendrin: Ich. Auf einem Fahrrad. Schrittgeschwindigkeit fahrend. Jede Bewegung, jeden Richtungswechsel, jede Beschleunigung mehrfach überdenkend. Das Umfeld analysierend. Optimale Pfade ermittelnd. Und zuweilen schmunzelnd ob der Unermüdlichkeit meiner Geduld.

Und dann gibt es noch ihn. Er schiebt sein Fahrrad, als ich ihm begegne. Wahrscheinlich hat er gerade die S-Bahn verlassen, hat sich eingereiht in die Masse, um sich bei erster Gelegenheit auf sein Rennrad zu schwingen und ihr zu entfliehen. Eine neongelbe Warnweste bedeckt seinen Oberkörper, und irgendwie schafft er es, dass sie an ihm gut aussieht. Er ist hoch gewachsen, thront einen Kopf über den Massen. Und als wäre das nicht genug, wuchert ihm ein dunkler, langer Bart vom Kinn hinab.

Er wirkt ein wenig bedrohlich, so groß, mit dunklen Augenbrauen und dreadlockigem Haar. Ich mag ihn sofort. Inmitten des Tunnels, der vollgestopft ist mit Dingen und Wesen, die meine Abneigung erregen, entdecke ich ihn und fühle Sympathie.

Vielleicht schaue ich zu lange, vielleicht glaubt er auch, mich zu erkennen. Vielleicht bin ich ihm aber auch einfach nur sympathisch. Er grüßt mich. Lächelt und grüßt mich. Verdutzt grüße ich zurück.

Tage später begegne ich ihm erneut. Er grüßt erneut, ich grüße zurück, fahre durch den Tunnel.

Und eine weitere Begegnung. Diesmal grüße ich. Spätestens jetzt ist es egal, ob wir uns vorher kannten und ob wir uns jemals kennen werden. Fast automatisch reihe ich mich in den Menschenstrom ein, schaue, beobachte, reagiere. Und selbst als ich im letzten Augenblick zwei achtlos rennenden Kindern ausweiche, lächle ich noch immer.