Die Hobbys der Besessenen

„In Deutschland hat niemand ein Hobby.“, sagt sie. Sofort drängt es mich zum Widerspruch, doch sie redet weiter. „Man kann hier nicht einfach etwas machen, weil es Spaß macht. Nein, man muss es perfekt machen, und jedes Hobby wird sofort zur Obsession.“

Mein Widerspruchswunsch sinkt. Ich denke an die Fahrradfahrer, die mir allmorgendlich begegnen. Junge Männer in hautengen Hosen mit getönter Fahrradbrille und neongelber Warnkleidung auf vierstellig wertigen Fahrrädern. Ihre Füße stecken inergodynamischen Fahrradschuhen, Hals und Haupt werden von eigens dafür hergestellter und optimierter Funktionskleidung bedeckt. Warum man für eine Start-Stop-Parkourfahrt durch den pendelnden Berufsverkehr unbedingt den Luftwiderstand minimieren muss, begreife ich nicht.
Meine eigene Gewandung entspricht der Witterung. Ich will nicht frieren, nicht durchnässt werden und vielleicht sogar einigermaßen dreckfrei bleiben. Und doch bin ich nicht ohne Wahn.

Höre ich ein Lied, möchte ich umgehend wissen, welcher Interpret es darbietet und welche Werke er noch vorzuweisen hat. Tatsächlich hat das Gesamtwerk Einfluss darauf, wie sehr ich den einen Song mag. Früher ging ich sogar so weit, mir zu verweigern, ein Konzert zu besuchen, wenn ich nicht sämtliche Stücke der performierenden Band zu größten Teilen verinnerlicht hatte.
Und nicht nur das: Betrete ich mit dem Favorisieren einer Band eine Stilrichtung, beginne ich, andere Vertreter zu belauschen, meinen Geschmack einzugrenzen, mich in das Thema einzuarbeiten. Vielleicht gibt es noch mehr, denke ich, Gutes suchend – und will in meiner Ein-Lied-Begeisterung sogleich das gesamten Genre absorbieren.

Mein Zeichnenhobby ist relativ obsessionsfrei. Zumindest, wenn man die Materialien betrachtet: Simples Kopierpapier, preiswerte Fineliner, andere Stifte im Mittelpreisbereich. Doch hier geht es bereits los: Die Zahl meiner Bleistifte ist nicht abschätzbar. Außerdem besitze ich verschiedenartige Blaustifte für Vorzeichnungen, Filzstifttypen mit verschiedenen Stärken, Spitzen Farben, Designs. Ich besitze ein Grafiktablett, zwei Scanner und diverse Programme, die allesamt der Bildbearbeitung dienen. Ganz zu schweigen von Pinseln, Farben, Papieren, Radiergummis, Linealen, Spitzern, Stiftmappen, Klebemitteln, Modelliermassen, hölzernen Biegefiguren, Leinwänden – und natürlich überall herumliegenden Ergebnissen meines Schaffens.

Und schweift der Blick weiter, so sieht er einen in mir Menschen, der täglich einen Comic kreiert, der die Welt um den Comic mit zusätzlichen Bildern füllt, der nebenbei noch andere Zeichnungen schafft, der keinen Tag vergehen lassen kann, ohne ein leeres Blatt mit Linien bestückt zu haben.  Dass ich nebenbei nicht nur produziere, sondern auch konsumiere, ächzen längst sämtliche meiner Regale. Und dort finden sich nicht nur Comics; auch textlastigere Literatur sammelt sich in Scharen, denn wenn ich einen Autor mag, sehne ich mich nach all seinem Schreibwerk, und wenn eine Buchreihe mir behagt, so drängt es mich, sämtliche Teile in meinem Besitz zu wissen.
Es fällt schwer, derartige Leidenschaft noch als Hobby zu bezeichnen, als freitzeitfüllendes Nebenbei, das dem eigenen Gemüt zuträglich ist. Und offensichtlich ist es nicht nur Leidenschaft, die das simple Hobby gen Professionalität drängt: Die Notwendigkeit der „richtigen“ Ausrüstung und die Investitionen, die mit ihr einhergehen, verlassen rasch die Sphären milden Interesses und ragen hinein in jene Gebiete, die sonst nur Eingeweihten zugänglich sind.

Vielleicht ist es eine Eigenart der Deutschen, es „richtig“ machen zu wollen, gleich von Anfang an das „richtige“ Material, die „richtigen“ Utensilien zu besorgen. Wenn man schon Zeit und Geld investieren möchte, dann doch bitte in etwas, das beständig ist, das geprüft wurde und zugleich zeigt, dass man es mit seinem neuen Hobby wirklich ernst meint. Zudem fühlt es sich so an, als gebe der hohe aufwandsbedingte Einstiegslevel die Garantie, dass man das Hobby dauerhaft betreiben und nicht nach ein paar Probeläufen in Vergessenheit geraten lassen werde.

Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen der Zeit. Informationen liegen offen auf der Straße herum; sich Insiderwissen anzueignen, ist leicht wie nie zuvor. Nach minutenkurzer Recherche kann man die unsichtbare Grenzen des angenehm klingenden Halbwissens hinter sich lassen und Bereiche zu betreten, die früher jenen vorbehalten waren, die jahrelang Erfahrungen gesammelt und gehütet hatten.

Wo aber Leidenschaft durch Gewohnheit ersetzt wird oder das Interesse nur der Ausübung irgendeiner Tätigkeit und nicht ihr selbst gilt, werden die Pfade angedeuteter Professionalität wieder verlassen. Und wo das Geld fehlt, bleibt das Hobby ein Hobby.

Dann tauchen die Involvierten, die Besessenen, die Experten, auf und schütteln abschätzig mit ihren Häuptern. So macht man das nicht, denken sie. So ist das nicht richtig. Sie greifen sich ihre Ausrüstung und eilen davon.

„Ist es wirklich so schlimm?“, frage ich sie nach einer Weile. Sie lächelt und zeigt auf meine Handschuhe, für deren Preis ich diverse Gebrauchtfahrräder hätte erwerben können.