Eines Tages begegnete ich einem Lebkuchen.
„Hallo.“, sagte ich, denn Lebkuchen sind mir grundsätzlich sympathisch.
„Hallo.“, grüßte der Lebkuchen mit einer angenehm weichen Stimme.
Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Lebkuchenkommunikation und befand mich bereits jetzt in einer Dialogsackgasse.
„Du bist ein Lebkuchen.“, stellte ich unbeholfen fest.
Der Lebkuchen nickte sanft. Ich hatte noch nie einen Lebkuchen nicken gesehen, und wenn ich nicht schon vorher um Worte verlegen gewesen wäre, hätte mir der Anblick die Sprache geraubt. Das Lebkuchennicken sah zugleich anmutig und niedlich aus, irgendwie süß und … lecker?
„Ich bin ein Lebkuchen.“, bestätigte der Lebkuchen. „Genauer: Ein Elisenlebkuchen.“
Ein Elisenlebkuchen! Das hätte ich früher sehen müssen. Die runde Form war unverkennbar.
„Mach dir nichts draus.“, sagte der Lebkuchen, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Das geht allen so.“
Der Lebkuchen seufzte. „Niemand achtet auf mein Äußeres.“
„Aber…“, wollte ich entgegnen, doch der Lebkuchen fuhr fort:
„Menschen sind nunmal so. Sie achten nur auf das Innere. Das Äußere ist ihnen egal!“
Der Lebkuchen blickte mir in die Augen.
„Sieh mich an. Schau auf meine wunderschöne Rundung, schau, wie gleichmäßig sich die Vollmilchschokolade auf meinem Körper verteilt, schau, wie gewitzt der Oblatenboden unter mir hervorragt, schau, wie formvollendet und handlich ich bin, schau!“
Ich schaute.
„Du schaust nicht richtig, nicht mit den Augen. Du schaust mit deinem Bauch, mit deiner Nase. Du schaust mit deiner Zunge, mit deinem Kopf. Du spürst die sättigende Verlockung, die in mir wohnt. Du riechst, wie sich mein süßlich feines Aroma aus meiner Mitte entspringend in die Lüfte erhebt. Du ahnst bereits jetzt, wie wundervoll sich mein Teig auf deiner Zunge anfühlen, wie lecker meine Zutaten schmecken werden. Dein Kopf ist angefüllt mit Gedanken, die allesamt auf mein Inneres gerichtet sind, auf meine unwiderstehliche Süße, auf meinen herrlichen Geschmack, auf das spielerische Bröseln beim Teilen meines Teigs, auf die wohlige Sattheit, die ich mit mir trage.“
Der Lebkuchen seufzte erneut.
„Doch auf mein Äußeres achtest du nicht.“
Der Lebkuchen hatte recht! Es hätte nicht seiner Beschreibung bedurft, denn längst sogen meine Nasenlöcher gierig seinen Duft ein. Längst hatten sich Speichelpfützen der Erwartung auf meiner Zunge gebildet. Längst knurrte mein Magen vor Sehnsucht. Längst hatte ich mir vorgestellt, wie befriedigend es wäre, endlich in diesen deliziösen Lebkuchen beißen zu können.
Nein!, mahnte ich mich. Ich musste Abstand wahren, musste auch das Äußere des Lebkuchens betrachten!
Ich räusperte mich, nahm mich zusammen, betrachete das warme Schokobraun, glitt mit den Blicken an den Kurven entlang, erhaschte vergnügt Spuren der hervorschauenden Oblate, lobpries die Schönheit des Lebkuchens in Gedanken.
Ein Gedicht wollte ich sprechen! Ein Lied wollte ich singen! Nur um die Pracht des Lebkuchens zu ehren. Worte sprudelten in mich hinein, wollten voller Stolz, voller Zuneigung, voller Liebe verkündet werden. Ich wollte dem Lebkuchen antworten, doch ich konnte es nicht.
Mein Mund war voll mit Lebkuchenteig.